Pressegespräch zur Eröffnung der "Woche für das Leben“ 2008 in Würzburg

Wolfgang Huber / Heinrich Mussinghoff

Pressestatement Wolfgang Huber

Dass wir uns in der „Woche für das Leben“ dem Thema der Gesundheit zuwenden, ist folgerichtig. Zum 18. Mal findet die Woche für das Leben statt, zum 15. Mal in ökumenischer Trägerschaft. Immer wieder haben Fragen diese Woche bestimmt, die auf den Anfang oder auf das Ende des menschlichen Lebens bezogen waren. Aber die Woche für das Leben hat es nicht nur mit der Bewahrung des Lebens am Anfang und am Ende, sondern auch mit der Gestaltung des Lebens in der Mitte, in seiner Fülle zu tun.

Wenn man sich dieser Fragestellung zuwendet, stößt man aber unweigerlich auf das Thema „Gesundheit“. Das Glück des Menschen hat mit der Gesundheit zu tun, das spüren wir heute deutlich. Niemand hat jedoch sein Lebensglück fest in der Hand; das gilt auch für die Gesundheit. Diese Spannung zwischen Verantwortung und Unverfügbarkeit wird heute jedoch oft nicht zureichend wahrgenommen.

Oft wird diese Spannung ignoriert. Mit dem Fortschritt der medizinischen und pharmazeutischen Möglichkeiten hat sich auch die Einstellung zur Gesundheit tiefgreifend verwandelt. Für die meisten Menschen scheint es heute unstrittig zu sein, dass Lebensqualität und körperliche Gesundheit identisch sind: „Hauptsache Gesund!“ Die Sorge um die Gesundheit ist in unserer Gegenwart ähnlich stark ausgeprägt wie in früheren Jahrhunderten die Sorge um das Seelenheil. Der früheren Hoffnung auf die Erlösung über den Tod hinaus entspricht heutzutage die Hoffnung auf die Erhaltung der Gesundheit und die Heilung von Krankheiten in der eigenen Lebenszeit.

Wo aber eine Heilung nach menschlichem Ermessen nicht mehr möglich ist, sehen sich Ärzte oft vor die erschreckende Erwartung gestellt, ihre Patienten von Krankheit und Leiden zu „erlösen“, wie es dann heißt. Eine Idolisierung der Gesundheit und ein Drängen auf „aktive Sterbehilfe“ im Fall einer schweren Erkrankung scheinen eng miteinander verbunden zu sein. Ärzte sehen sich vor die Erwartung gestellt, ihre Patienten von Krankheit und Leiden zu „erlösen“. Ein ehemaliger Politiker hat gerade eine „Todesmaschine“ konstruieren lassen, mit der ein Kranker das selbst besorgen kann. Eine Schweizer Organisation macht aus der Hilfe zum Suizid ein Geschäft. Ich finde das erschreckend. Es muss uns aufrütteln und ein neues Nachdenken über Gesundheit und Krankheit in Gang setzen.

Gesundheit als ein anvertrautes Gut zu verstehen, mit dem wir verantwortlich umgehen, aber Gesundheit nicht zum Idol zu machen, ist heute die entscheidende Aufgabe. Die Verantwortung für die eigene Gesundheit anzuerkennen, aber die gleiche Würde von Gesunden wie Kranken nicht in Zweifel zu ziehen, ist ein Balanceakt, den unsere Gesellschaft neu zu lernen hat.

Das konkretisiert sich in der Aufgabe, angesichts wachsender medizinischer, pharmazeutischer und technischer Hilfsmöglichkeiten angemessen mit kranken und behinderten Menschen umzugehen. Es liegt eine im Tiefsten geistliche Aufgabe darin, sich auf Menschen, deren Erkrankung nicht überwunden werden kann, einzulassen und mit der Erfahrung des Unabänderlichen umzugehen. Es liegt ebenso eine tiefe geistliche Aufgabe darin, eigene Krankheit anzunehmen und in ihr nicht eine Beeinträchtigung des Menschseins, sondern eine wichtige Dimension unserer menschlichen Existenz zu sehen.

Trotz aller Verheißungen der regenerativen Medizin, trotz aller Notwendigkeit einer guten Palliativmedizin – wir können uns selbst weder schaffen noch erlösen. Heute besteht die Gefahr, dass Gesundheit zum Produkt der eigenen Lebensgestaltung sowie der gegebenen medizinischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten wird. Ärzte werden zu Vertragspartnern, bei denen man eine gelungene Operation oder einen wiederhergestellten Körper einklagen möchte. Der Heilungsprozess wird nach Diagnosen berechnet und soll einem festgelegten Zeitschema folgen. Pflege wird zur Dienstleistung, die man in einzelne Funktionseinheiten zerlegen kann. Die Orientierung an einem Produkt- und Kundenbewusstsein führt schließlich zu einer Verrechtlichung, die am Ende auch das Recht auf einen guten Tod einzuschließen scheint. Visionen tauchen am Horizont auf, die uns in eine dunkle Zeit unserer Geschichte zurückverweisen: "guter Tod – Euthanasie".

Je früher man meint, das Schicksal in die Hand nehmen zu können – die vorgeburtliche Medizin ist dafür in den letzten Jahrzehnten zu einem Paradigma geworden –, desto schwerer fällt es anscheinend, offen und neugierig zu bleiben für das, was auf uns „zukommt“ – am Anfang wie am Ende des Lebens. Wir brauchen neue Anstöße dazu, diese Einengung unserer Wahrnehmung zu überwinden.

Persönliche Schicksale, denen wir begegnen, können dabei helfen. Wir haben uns in der evangelischen Kirche in den letzten Monaten verstärkt mit dem Thema der Demenz auseinandergesetzt. Wir haben uns der Frage gestellt, was es heißt, die Würde des Menschen in einer Lebensphase zu wahren, in der ein Mensch sich selbst und seinen Nächsten fremd wird. In solchen Situationen lernen wir, dass die Formel „Hauptsache Gesund“ nicht trägt. Es muss vielmehr heißen: „Hauptsache Menschenwürde“.

Zur Würde des Menschen gehören auch Leid und Vergänglichkeit; nur um den Preis der Unmenschlichkeit können sie abgeschüttelt werden. Das ist kein Argument gegen Forschung und medizinischen Fortschritt, wohl aber für ein umsichtiges ethisches Bedenken unserer Geschöpflichkeit. Erst die Spannung zwischen schöpferischer Kraft und Geschöpflichkeit, zwischen Selbstentfaltung und Teilnahme am Leben anderer gibt dem Leben Farbe und Tiefe.

Um zu uns selbst zu finden und die menschlichen Grenzen zu bejahen, brauchen wir Menschen, die uns nicht wie Geschäftspartner gegenüber stehen, sondern die unsere Hoffnungen und unser Leiden teilen. Denen wir etwas wert sind, auch wenn wir nichts leisten. Die Wunden verbinden und für Pflege sorgen wie der barmherzige Samariter. Wer die Leiderfahrung eines anderen teilt, spürt die eigene Begrenztheit und die eigene Ohnmacht. Viele Menschen haben die Erfahrung gemacht, dass solchen Begegnungen eine geistliche Kraft innewohnt, die neue Leidenschaft für das Leben weckt.

Aus solchen Begegnungen wächst das kirchliche Engagement für fürsorgliche Pflege und Empathie im Umgang mit kranken Mitmenschen. Christliche Krankenhäuser sind dafür ein besonderes Lernfeld; sie können zu Vorbildern einer Kultur der Barmherzigkeit werden. Diese Kraft der Fürsorge neu zu wecken, nicht nur bei denen, die dafür bezahlt werden, aber zugleich denen, die diese Fürsorge zum Beruf machen, mit Respekt und Anerkennung zu begegnen, das wäre die wirkliche Revolution, die unser Gesundheitssystem braucht.

Das sind einige der Gründe, aus denen die Kirchen sich mit ihrer „Woche für das Leben“ in diesem und in den kommenden beiden Jahren mit dem Thema Gesundheit beschäftigen.


 Pressestatement  Heinrich Mussinghoff

Das Thema Gesundheit nimmt in der Öffentlichkeit und in den Medien einen breiten Raum ein. Die Werbung preist körperliche und mentale Fitness bis ins hohe Alter. Die Gesundheitsindustrie stellt dafür allerlei Produkte zur Verfügung. In der Freizeit wird mal gejoggt, mal gewalkt oder sich eine „gesunde“ Bräune im Sonnenstudie geholt. Der Urlaub wird zum Wellness-Urlaub, das Hotel zum Wellness-Hotel mit Ayurveda-Anwendungen oder Reiki-Massage.

Es ist anerkennungswert, dass wir ein so hoch entwickeltes Gesundheitssystem bei uns haben. Es leistet trotz aller Finanzierungsschwierigkeiten weiterhin eine bemerkenswert gute Grundversorgung, vor allem auch im weltweiten Vergleich. Reiki und Feng-Shui sind in der westlichen Welt Phänomene einer Gesellschaft, die die Sicherung ihrer Grundbedürfnisse weitgehend im Griff hat.

In diesem Jahr steht die von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Rat der EKD gemeinsam getragene Woche für das Leben unter dem Motto: „Gesundheit - höchstes Gut?“ Wir möchten damit den Menschen nicht ihren Wellness-Urlaub schlecht reden. Es geht um eine andere Problematik: Wenn die Sorge um äußerliches Wohlbefinden und körperliche Fitness einen derart breiten Raum einnimmt, dass man schon von Gesundheitsreligion sprechen kann, dann verschiebt sich allmählich das Bild vom Menschen. Der körperliche und mentale Leistungsträger wird zum „Normalfall“, dem nicht nur die Werbung gesteigertes Interesse entgegenbringt. An ihm richtet sich allmählich die ganze Gesellschaft aus. Denn wieso – so stellt sich dann eine Frage, die in den 20er Jahren diskutiert und in der NS-Zeit konkrete Politik wurde – müssen Mittel von der Gemeinschaft aufgebracht werden für Menschen, die nichts Produktives für sie leisten?

Mit dem diesjährigen Thema der Woche für das Leben gilt die Sorge der Kirchen einer drohenden Fehlentwicklung in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird der Begriff von Gesundheit in inakzeptabler Weise verkürzt, wenn man ihn ausschließlich auf die äußere Dimension verengt. Gesundheit umfasst aber das Wohlbefinden des ganzen Menschen, seinen inneren und äußeren Zustand.

Dieses Verständnis von Gesundheit hat viel mit Heilung zu tun. Ein Wort, in dem der Begriff Heil steckt. Die Heilungsgeschichten des Neuen Testamentes verweisen beispielsweise neben der äußeren Gesundung immer auch auf die transzendente Dimension des Glaubens. Sie zeigen auf, dass die menschlichen Möglichkeiten begrenzt sind. Dies gilt auch unter den Bedingungen der modernen Medizin. Sie kann Gebrechlichkeit, Alter und Unfälle nicht verhindern. Trotz aller Medikamente und Medizintechnik können nicht alle Krankheiten geheilt werden: Der Mensch ist ein fragiles Wesen.

Zum anderen geht es um die wichtige gesellschaftliche Dimension. Auch diejenigen Menschen, die dem propagierten Bild von körperlicher und mentaler Fitness nicht entsprechen, gehören zu unserer Gemeinschaft. Es gehört zu unseren zentralen Aufgaben, diese Menschen in unsere Mitte zu nehmen und uns um sie zu sorgen.

Wir möchten in diesem Jahr die Woche für das Leben dazu nutzen, einmal kritisch darauf zu schauen, wer bei uns die Definitionen zum Thema Gesundheit vorgibt und warum. Viele Diözesen und Landeskirchen greifen die Thematik auf und bieten Veranstaltungen dazu an.

Wir werden auch heute hier in Würzburg mit einer Podiumsdiskussion im Anschluss an den Gottesdienst versuchen, den Gesundheitsbegriff zu hinterfragen. Bischof Huber und ich diskutieren mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Hoppe, und dem Vorsitzenden des Missionsärztlichen Instituts, Prof. Dr. Fleischer, der uns sicher eine weniger wohlstandsorientierte Perspektive aufzeigen wird. Unsere Absicht ist es, unser christliches Bild von Gesundheit zu stärken, das den ganzen Menschen meint.

Wir haben es in dem Drei-Jahres-Leitmotto der Woche für das Leben knapp so bezeichnet: Gesund oder krank – von Gott geliebt.