Grußwort zum Symposium »Die Reformierten. Calvinismus in Deutschland und Europa«, Deutsches Historisches Museum Berlin

Wolfgang Huber

I.

Wenn im Jahr 2009 der Geburt Johannes Calvins vor fünfhundert Jahren zu gedenken ist, so ist dies eine gute Gelegenheit, an den nächst Martin Luther wichtigsten Reformator des 16. Jahrhunderts zu erinnern. In ihrem calvinistischen wie in ihrem lutherischen Zweig hat die Reformation weltgeschichtliche Wirkungen entfaltet; Kirchen in aller Welt wie der persönliche Glaube ungezählter Menschen sind durch die Genfer Reformation geprägt. Doch das hindert nicht, dass die Gestalt der Reformatoren selbst ins Schemenhafte verschwimmt. Aber nicht nur den Reformatoren geht das so.

Unvergesslich ist mir eine Begegnung mit Georges Casalis, dem langjährigen Professor für Praktische Theologie in Paris, der in seinem Ruhestand nach Noyon zog, in den Geburtsort Calvins. So lange es ging, führte er Besuchergruppen durch das Geburtshaus des großen Reformators. Eines Tages flüchtete eine Schulklasse aus Paris vor dem einbrechenden Regen in das Haus. Bei Sonnenschein wäre diese Station auf dem Klassenausflug wohl kaum vorgesehen gewesen. Eine halbe Treppe hoch nahm Casalis Aufstellung und begann seine Erläuterung: Dies ist das Geburtshaus von Jean Calvin. „Qui était Jean Calvin?“ So tönt es ihm entgegen. Nun ist eine elementare Auskunft angesagt, denkt der Theologieprofessor, und antwortet kurz entschlossen: Calvin war ein Mensch des 16. Jahrhunderts, dem Jesus Christus sehr wichtig war. „Qui était Jesus Christ“ – so heißt die Reaktion der Pariser Schüler.

II.

Im kommenden Jahr wird in Deutschland, Europa, aber auch weltweit in vielen Veranstaltungen des Genfer Reformators gedacht. Angesichts einer verbreiteten Diskrepanz zwischen der weltweiten Wirkung Calvins und der geringen öffentlichen Kenntnis über ihn, gerade in Deutschland, ist es mehr als angemessen, das Jubiläumsjahr tatkräftig zu nutzen. Deshalb begrüße ich die Pläne zu der Jubiläumsausstellung im Deutschen Historischen Museum ebenso wie das Bestreben, mit diesem Symposion und auf anderen Wegen die Forschungen über Calvin und die Wirkungen der Genfer Reformation zusammenzuführen, ihnen neue Anstöße zu vermitteln und sie einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Dass Calvin nicht die Absicht hatte, Reformator zu werden, ist eine banale Feststellung. Luther hatte eine solche Absicht auch nicht. Wer die Absicht hätte, Reformator zu werden, könnte ohnehin sicher sein, dass er es nicht wird. Aber es mag stimmen, dass Calvin von seinem Naturell her für einen Privatgelehrten besser taugte als für einen Reformator. Nach seinem ersten Scheitern in Genf wäre Calvin – nach eigenen Worten – lieber hundertmal gestorben, als das Kreuz eines Reformators in Genf noch einmal auf sich zu nehmen. Es ist dem erneuten Bemühen Farels zu verdanken, dass Calvin trotzdem nach Genf zurückkehrte, wo er nicht nur durch die Neugestaltung des Kirchenwesens, sondern ebenso durch sein Hauptwerk, die Institutio, sowie durch seine (fast die ganze Bibel umfassenden) Kommentare sowie durch seine unzähligen Predigten und Briefe den weiteren Weg der Reformation maßgeblich prägte.

III.

Stellen wir uns für einen Augenblick vor, Calvin hätte sich nicht überzeugen lassen, die Genfer Bürde noch einmal auf sich zu nehmen, und hätte stattdessen das Leben eines Privatgelehrten geführt. Was hätte das für den weiteren Weg des Protestantismus bedeutet? Ich weiß, wie fragwürdig Möglichkeitsurteile sind. Aber in diesem Fall will ich doch einige Überlegungen dieser Art anstellen.

Erstens. Mit dem Tod Martin Luthers (1546) und der Zerschlagung des Schmalkaldischen Bundes (1547) war das intern zerstrittene Luthertum erheblich geschwächt. Die anfängliche Dynamik der reformatorischen Bewegung war erschöpft; diese wäre ohne den Schwung der „zweiten Reformation“ vermutlich auf den Bereich der deutschen und skandinavischen Länder begrenzt geblieben.

Zweitens. Viele evangelische Glaubensflüchtlinge aus Frankreich, den Niederlanden, Italien und England fanden Zuflucht in Genf und studierten an der durch Calvin begründeten Genfer Akademie. In ihre Heimatländer zurückgekehrt, nahmen sie die Ideen der Genfer Reformation mit und legten damit den Grundstein für die weitere Ausbreitung der Reformation in Europa. Das Vorbild der Genfer Akademie fand später Nachahmer u. a. in Heidelberg, Herborn und Leiden. Ohne diese durch Calvin inspirierten Ausbildungsstätten hätte es der protestantischen Bewegung in der Zeit der Gegenreformation an intellektueller Schlagkraft gefehlt.

Drittens. Zu den einschneidenden Erfahrungen Calvins gehörte es, dass die protestantische Bewegung in Frankreich gewaltsam unterdrückt und bekämpft wurde. Calvin kam deshalb zu der Überzeugung, dass dem tyrannischen Treiben der Fürsten und Könige Einhalt geboten werden müsse. Calvin hielt es für die Pflicht der untergeordneten politischen Behörden, der Willkür einzelner Monarchen entgegenzutreten. Außerdem vertrat Calvin die Ansicht, dass die Leitung der Gemeinde in kollegialer Weise zu erfolgen habe, woraus sich später in der reformierten Kirche das presbyterial-synodale Prinzip entwickelte. Ohne dieses Zusammenspiel zwischen einem eingegrenzten Widerstandsrecht und dem presbyterialen Gedanken würde eine wichtige Etappe auf dem Weg zur modernen Demokratie fehlen.

Viertens. Natürlich muss ein solches Möglichkeitsurteil auch die problematischen Seiten Calvins einschließen. Im Prozess gegen den Antitrinitarier Servet, der mit dessen Hinrichtung endete, spielte Calvin eine maßgebliche Rolle. Zwar wurde die Hinrichtung Servets von anderen Reformatoren, auch von Melanchthon, gebilligt. Doch zugleich löste sie eine intensive Debatte um religiöse Toleranz aus. Soweit man Grund zu der Behauptung hat, dass diese Debatte die Entstehung des modernen Menschenrechtsgedankens beförderte, muss man insofern von einer höchst paradoxen Wirkungsgeschichte sprechen.

Fünftens. Wie hätte der zwischen Luther und Zwingli 1529 aufgerissene Graben im Abendmahlsverständnis überwunden werden können, wenn nicht auf den Spuren Calvins und Melanchthons? Es hat seine eigene Tragik, dass Calvin und Melanchthon dies zu Lebzeiten nicht gelungen ist. Aber man hat sich an diese Brücken erinnert, als im 20. Jahrhundert endlich die Gräben im Abendmahlsverständnis überwunden wurden. Aber dass dies bis zu den Arnoldshainer Abendmahlsthesen von 1959 und der Leuenberger Konkordie von 1973 dauerte, müsste dem evangelischen Drängen auf ökumenische Schritte in der Abendmahlsfrage zumindest einen Schuss Demut beimischen.

Sechstens. Hier in Berlin ist die Frage, wie die heutige Wirklichkeit ohne die Wirkungsgeschichte Johannes Calvins aussähe, besonders anschaulich zu stellen. Dass die hugenottischen Flüchtlinge, die vor mehr als dreihundert Jahren nach Brandenburg kamen, neue Impulse für Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft brachten, steht außer Frage. Zwar war das Verhältnis von Lutheranern und Reformierten in Brandenburg keineswegs immer von Harmonie geprägt; dennoch hat dieses lange Miteinander den Gedanken der Union vorbereitet und eine Gestalt reformatorischen Christentums geprägt, die gerade heute ihre eigenständige Bedeutung entfaltet.

IV.

Angesichts solcher Überlegungen ist es gewiss nicht verkehrt, die Wirkungsgeschichte Calvins unter dem Begriff des Calvinismus zusammenzufassen, wie es auch der Untertitel Ihrer Tagung tut. Zugleich sollte jedoch in Erinnerung bleiben, dass die auf Zwingli, Bullinger und Calvin zurückgehenden Kirchen in Europa sich aus guten Gründen nicht als „calvinistisch“, sondern als „reformiert“ bezeichnen. Freilich kann man fragen, ob in dieser Selbstbezeichnung eigentlich noch mitschwingt, dass eine reformatorische Kirche die Reformation niemals nur hinter, sondern immer auch vor sich hat.

Heute haftet dem Begriff des Calvinismus zusätzlich die Konnotation einer Theologie und eines Lebensstiles an, in denen doppelte Prädestination und strenge Sittenzucht vorherrschen. Dass mit dem Begriff eher eine bestimmte Form von Puritanismus als die Lehre und Praxis der Theologie Calvins gemeint ist, wird auf dem Symposium gewiss ausführlich diskutiert werden.

Noch ein weiteres Problem wird Sie gewiss beschäftigen: Der Zugang zu Person und Werk Calvins wird durch eine bereits im späten 16. Jahrhundert einsetzende und bis heute fortwirkende konfessionelle Polemik erschwert. Calvin – so ist es in diesen Verzeichnungen zu lesen – habe in Genf einen Gottesstaat errichtet und als rücksichtsloser Despot Genf beherrscht. Mit Gewalt habe er dort jeden Andersdenkenden verfolgt und außerdem die Entwicklung des neuzeitlichen Kapitalismus befördert. Einem differenzierten wissenschaftlichen Blick halten solche Pauschalurteile nicht stand. Doch richtig ist sicher auch: Genau wie Luther hatte auch Calvin persönliche Grenzen, die auch jedem Personenkult Grenzen setzen. Wenn Erinnerungsdaten Anlass zur historischen Vergewisserung sind, so ja auch darin, dass sie einem in der Geschichte schwankenden Bild nicht nur klarere, sondern auch gerechtere Konturen geben.

V.

Für die Evangelische Kirche in Deutschland ist das Calvinjahr 2009 von großer Bedeutung. Es steht für uns in einem größeren Zusammenhang einer Erinnerung an verschiedene Aspekte der Reformation, die auf das Reformationsjubiläum 2017 hinführt. Das Calvin-Jahr vermag in besonderer Weise zu verdeutlichen, dass die Wirkungsgeschichte der Genfer Reformation aus der Gestalt des deutschen Protestantismus nicht wegzudenken ist. Die Evangelische Kirche in Deutschland ist eine Gemeinschaft lutherischer, reformierter und unierter Kirchen. Historische Forschung kann uns sehr dabei helfen, besser zu verstehen, was das bedeutet. Das ist nur einer der Aspekte, unter denen ich Ihnen allen, insbesondere aber auch dem Deutschen Historischen Museum und der Johannes a Lasco-Bibliothek Emden für den Weg zu der Calvin-Ausstellung 2009 danke, auf dem das heutige Symposium eine wichtige Etappe bildet. Von Herzen wünsche ich Ihnen dabei gutes Gelingen.