Diaspora und Ökumene - Bibelarbeit über 1. Kor. 12, 12-27 für den Auslandspfarrkongress am 2. Juli 2008 in Französische Friedrichstadtkirche, Berlin

Meehyun Chung

Gliederung

I. Einführung

II. Hinweise zur Lektüre und biblische Erläuterung

1. Bezogenheit auf Christus

2. Solidarität mit den Benachteiligten und Schwächsten.

III. Sang-Saeng als „Modell für ein Zusammenleben“

IV. Thematische Schwerpunkte

1. „Der Leib Christi hat AIDS“

2. Ein Leib mit zerbrochenen Gliedern

V. Diaspora und Ökumene

1. Am Fallbeispiel der koreanischen Christenheit

2. Das Verhältnis zwischen Kirche und Mission

3. Identitätsfrage und Globalisierung

VI. Schlussfolgerung

Sehr verehrter Herr Bischof Schindehütte,

Verehrte Auslandspfarrerinnen und Auslandspfarrer,

Liebe Gäste,

Meine Damen und Herrn,

I. Einführung

Es war ein Wagnis, die Einladung anzunehmen und vor der ökumenisch erfahrenen, kritischen deutschen Pfarrerschaft und vielen Gästen, die sich ebenfalls international gut auskennen, eine Bibelarbeit zu halten, die den Leib Christi als Form und Gestalt seiner Kirche ausleuchten soll. Aber es ist gleichzeitig eine große Ehre und Freude, dass ich meine Erfahrungen mit der koreanischen Gemeinde in der Schweiz und in Deutschland, oder mit der deutschen Gemeinde in Seoul angesichts der heutigen Bibelarbeit reflektieren und mit Ihnen teilen darf. Das war der Hauptgrund, warum ich diese Einladung schließlich akzeptierte, obwohl es für mich eine große Herausforderung bedeutet.

Bevor ich zur Sache komme, möchte ich Ihnen vorschlagen, ein Lied Nr. 60 „Meine Hoffnung und meine Freude“ aus dem Heft zu singen, indem Sie schön und kräftig singen können. Danach wird Herr Pfarrer Kaiser den heutigen Bibeltext vorlesen.

II. Hinweise zur Lektüre und biblische Erläuterung

Zunächst möchte ich kurz ein paar Hinweise zur Lektüre in Erinnerung rufen.

Korinth war eine Hafenstadt mit einem multikulturellen und multireligiösen Umfeld. Paulus hat den Vergleich zwischen einer Gemeinschaft und einem Leib nicht selbst erfunden, sondern aus dem damaligen allgemein gängigen Verständnis übernommen.

Der Text aus 1. Kor. 12 von Paulus kann mit Gal. 3, 28 und mit Röm. 12, 3ff zusammen gesehen werden. Zunächst eine kleine Begriffserklärung: In diesem Text bezieht sich der Begriff Glied auf  den Leib Christi, während Mitglied eher institutionell gemeint ist. Hier sind die beiden Begriffe und Aspekte angesprochen. Es geht um die Harmonie zwischen allen Gliedern der Gemeinde, die Einheit in der Vielfalt - ohne Rassismus, Sexismus oder Klassenunterschiede. Aus diesem Grund lehnt Paulus die damals übliche „Stufenleiter“ Gott-Christus-Mann-Frau, Gott-Christus-Haupt-Fuss, Gott-Christus-Juden-Griechen oder Gott-Christus-Freie-Sklaven ab.

Nun möchte ich ein paar Schwerpunkte nennen, die ich bezüglich dieses Textes hervorhebe:

1. Bezogenheit auf Christus

In diesem Gleichnis wird Christus mit einem Leib verglichen.

Zunächst ist zu bemerken, dass Leib mit dem griechischen Wort Soma bezeichnet wird. Soma ist im neutestamentlichen Sinne als der Leib mit seiner ganzen Lebendigkeit zu verstehen, als das Medium des Erlebens und Leidens, das Organ oder Instrument des menschlichen Handelns. Im allgemeinen griechischen Sprachgebrauch kann Soma dagegen auch den toten Leib, den Leichnam meinen. In diesem vielfältigen Sinne ist die Beziehung von Christo-Soma-ekklesia nicht auseinanderzunehmen.

Leib im griechischen Sinne  beschreibt sowohl den individuellen Körper, als auch das geordnete Ganze im kollektiven Sinne. Dass der Kosmos als göttlich geordneter und durchwalteter Leib angeschaut wird, ist deshalb schon im griechischen Denken vorhanden. D.h. den menschlichen Leib als Mikrokosmos und das Universum als Makrokosmos zu verstehen, ist dieser Denkweise nicht fremd. Leben und Sterben ist also mit der Natur als Einheit und mit den natürlichen Abläufen verbunden.

Die Zusammengehörigkeit besteht für die Kirche aus der allmächtigen Gnade des fleischgewordenen Wortes.  Von diesem „schöpferischen und regierenden Wort“ her ist eine Einheit des in ihr Zusammengehörigen möglich. Wenn auch die Kirche eine menschliche Versammlung ist, ist sie nicht bloss eine menschliche Hervorbringung, insofern sie die subjektive Wirklichkeit der Offenbarung Gottes verkündet. In dem Sinne lebt sie im Spannungsfeld der göttlichen und menschlichen, ewigen und zeitlichen, unsichtbaren und sichtbaren Wirklichkeit. Die Bezogenheit auf die Offenbarung Gottes für uns macht die Existenz der Kirche in dieser Welt möglich. Jesus Christus ist und bleibt „das Subjekt der Kirche.“  Die Kirche ist nicht Akkumulation irgendeiner Gemeinschaft oder Mitgliedschaft. Die Gemeinde als Soma zu verstehen heisst, dass sie kein soziales Gebilde im Sinne eines beliebigen Organismus ist. Sondern Jesus Christus konstituiert die Einheit seiner Gemeinde in ihrer Vielfalt und garantiert die Gemeinde als seinen Leib.  Jesus Christus ist das Subjekt der Kirche. Und die kirchliche Gemeinde ist das Prädikat dazu. Eine Selbständigkeit der kirchlichen Existenz, ohne „Leib Christi“ zu sein, ist in diesem Sinne ausgeschlossen.

Paulus zeigt bereits ganzheitliches Denken bezüglich Menschen- und Weltverständnis, wenn er sagt, nicht nur die Seele, sondern auch der Leib sei der „Tempel Gottes.“(I Kor 3, 16ff)  Den Leib als einheitliches Ganzes anzuschauen, ist vom griechischen Denken und Verständnis geprägt. In den deuteropaulinischen Briefen an die Epheser und die Kolosser kommt klarer zum Ausdruck, dass der Leib Christi kosmische Gestalt hat und alle Kreatur umfasst.

Paulus  unterstreicht auch, dass die Gemeinde nicht nur einem Leibe gleicht, sondern Leib Christi ist. Dieser Leib Christi hat ein bewegungsvolles Leben als Organismus. Denn Jesus Christus ist Bewegung Gottes zu den Menschen, welche diesen Organismus lebendig macht. Jesus Christus ist nicht gekommen, um eine Kirche zu gründen. Sondern er ist gekommen, um eine Bewegung zu Stande zu bringen.  Menschen wurden zusammengebracht durch die Taufe Jesu Christi. Allerdings greift der Begriff  „en Christo“ viel weiter und bestimmt den Ort des Heilsgeschehens, weil es außer uns liegt.

In und von der Anteilnahme an Leib und Blut Christi lebt die Kirche.  Der Leib wird nicht durch die Glieder gebildet, sondern die Glieder durch den Leib.  D. h. durch die Taufe in Christus sind wir in die Gemeinde hineingetauft.

2. Solidarität mit den Benachteiligten und Schwächsten

Die Idee des einen Geistes (V. 13) in Christus möchte niemanden ausschließen, sondern will die christliche Gemeinschaft öffnen und weiten: Alle haben zu dieser Gemeinschaft Wesentliches beizutragen. Es ist ein universaler, inklusiver Gedanke, der Andere nicht ausgrenzt. Der Wert des einzelnen Gliedes ist nicht mit dem eigenen Maßstab zu bewerten. Gott bewertet das Glied in differenzierter Art und Weise. (V. 22-24)

Hier sind Wert und Wertlosigkeit nach menschlichem Maßstab zu hinterfragen. Der Wert eines jeden Gliedes in seiner Verschiedenheit ist sehr betont. Der Maßstab der Wertschätzung liegt nicht in mir, sondern in Gott. Diese Vielfalt ist Gottes Wille. Gott hat diesen Leib so gewollt. Kein Glied ist dabei wertlos, auch kein krankes Glied, auch nicht der kleine Finger oder Zeh, die vom übrigen Körper als Extremitäten weit entfernt sind. Daher sollte nicht nur niemand ausgeschlossen werden: Gerade auf die vermeintlich Schwächsten ist besonders zu hören und zu achten. Dies ist ein Votum Gottes durch Paulus und kann als Ermutigung für wenig Habende und wertlos Scheinende gelten.

Aber leider gibt es in der Realität nur sehr wenige christliche Gemeinden, die nach dem Neuen Testament leben. Im Gegenteil - viele setzen sich sogar darüber hinweg. Diese radikale Befreiung nicht zu ignorieren ist alles andere als leicht. Man kann von gewissen Vorurteilen einfach nicht wegkommen. Darum ist es wichtig, nicht nur gegen offenkundigen Rassismus, Klassenbewusstsein und Sexismus zu sein, sondern auch unbewusste Vorurteile  bewusst zu machen  und loszulassen. Damit sollen sowohl Minderwertigkeitsgefühle von Schwachen, als auch Überheblichkeitsgefühle von Starken abgebaut werden.

III. Sang-Saeng als „Modell für ein Zusammenleben“

Für Menschen aus dem asiatischen Lebenskontext ist das Bild vom Leib und den Gliedern insofern ansprechend, als die Leiblichkeit hier ebenfalls für spezifische Bedeutungsinhalte steht. Hier sind es allerdings nicht wie bei Paulus die Glieder und Sinnesorgane, sondern die inneren Organe des Menschen, die bestimmte Lebenszusammenhänge abbilden.

Die vor-platonische Prägung des Bewusstseins von der Verwandtschaft zwischen menschlichem Kosmos und Körper ist im asiatischen Denken auch zu erkennen. So wird der Kosmos als lebendiges Lebewesen und lebendige Einheit gesehen: der Mensch als Mikrokosmos und der Kosmos im Bild des Menschen. Der Mensch soll vom Bild des Kosmos her interpretiert werden. Im Gegensatz zu stoischen Vorstellungen mit gnostischem Verständnis und Prägung werden in Paulus’ Gleichnis die Einheit und materielles Leben unterstrichen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang einen asiatischen Begriff vorstellen: Sang-Saeng bedeutet Zusammenleben. Auf Chinesisch ist dieser Begriff Sang-Saeng quasi ein Bildwort: „Sang“ bedeutet Gegenseitigkeit. Wortwörtlich ist es eine Zusammensetzung von einem chinesischen Bildzeichen, der Mensch(od. Baum) und Augen bedeutet. „Saeng“ ist Geboren Sein oder Leben. Es heißt wortwörtlich gegenseitig anschauen und am Leben erhalten. Bei diesem gegenseitigen Anschauen  sind gewisse Handlungen und Aktionen bereits eingeschlossen.

In der asiatischen Medizin wird der Körper mit fünf inneren Organen (Herz, Leber, Milz, Lunge und Nieren) und mit sechs Leibesorganen (Gallenblase, Magen, Eingeweide, Schmerbauch, Blase und Darm) erklärt. Die fünf inneren Organe bilden die Grundlage für das Leben als Gefäß für Geist, Vitalität des Atems, Blut, Seele und Animus. Sie koordinieren den ganzen Körper als Organismus und bilden die Voraussetzung der geistigen Dimension. Die sechs Leibesorgane haben die Funktion für das Verdauen des Essens sowie das Empfangen und die Bereitstellung von nahrhaften Elementen. Der Mensch lebt von diesen organisatorisch reziproken Funktionen durch das Zusammenspiel aller Organe. Ohne diese innere Verbundenheit funktioniert ein Mensch nicht.

Diese fünf inneren Organe und die sechs Leibesorgane beziehen sich aufeinander und sind ausgewogen durch gegenseitige Unterstützung und Zähmung oder Kontrolle. In diesem Sinn stellt Sang-Saeng als Harmonie gewisse notwendige Elemente dar, um Ausgewogenheit zu erreichen. Diese Begriffserklärung kann man auch auf diesen paulinischen Text übertragen, weil er die „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“  bildlich darstellt.

IV. Thematische Schwerpunkte

1. „Der Leib Christi hat AIDS“

In der christlichen Tradition hat man sich mit dem Leib/Körper eher wenig auseinandergesetzt. Und wenn, so hat man ihn oftmals abgewertet und in einem Gegensatz zur Seele gesehen. Paulus dagegen unterstreicht mit diesem Bild gerade die Wichtigkeit des Leibes, zu dem auch die Sinnlichkeit des Körpers gehört. Um dieses abwertende Bild des Leibes auf die heutige kontextuelle Situation zu übertragen könnte man sagen: Gerade dieser „Leib Christi hat AIDS.“

Ich denke an die Frauen und Männer u.a. in Afrika, die verschiedene Nahrungsmittel zum Beispiel für Nachtisch und Süßigkeiten oder zum täglichen Leben auf der nördlichen Halbkugel produzieren, aber keinen gerechten Lohn oder Preis dafür bekommen. Sie warten auf wirtschaftliche Verbesserung und Lebensumstände, in denen ihr menschlicher Grundbedarf gedeckt ist. Darüber hinaus sind viele von ihnen mit dem HIV-Virus/AIDS infiziert, weil 1. die medizinische Versorgung vielerorts katastrophal ist und 2. das Sexualverhalten dem Infektionsrisiko nicht angepasst wird.

Wenn die Kirche nicht als in sich geschlossenes Organ bleibt, sondern als heilende Gemeinschaft fungiert, kann eine Neuorientierung hinsichtlich des Problems der Heilung stattfinden.  Es betrifft nicht nur das „Kranke Gesundheitswesen“ im Süden, sondern  auch das im Norden, z.B. Klinikseelsorge, Hospiz und Besuchsdienste. Diejenigen, die unter Einsamkeit und Dialoglosigkeit leiden und sich wegen Ausgrenzung nach menschlicher Wärme sehnen, brauchen Kontakt mit seelsorgerischen Diensten, sei es ein Besuch, kurzes gemeinsames Gebet oder tröstliche Gespräche.

Wenn wir den heutigen Bibeltext ernst nehmen wollen, geht es in der Gemeinschaft der Glaubenden darum, wie wir das Leben inkl. Freud und Leid miteinander teilen können: „Freut euch mit den Glücklichen und weint mit den Traurigen“ (Röm 12, 15). Aber wenn wir nur in die Gleichgültigkeit versinken, dann bewahrheitet sich der Satz: „Wir haben euch aufgespielt, doch ihr habt nicht getanzt! Wir haben Klagelieder gesungen, doch ihr habt nicht geweint!“ (Lk 7, 32)

2. Ein Leib mit zerbrochenen Gliedern

Die Offenheit gegenüber der Vielfalt ist ein starker Punkt bei den protestantischen Kirchen. Aber es gibt dabei auch eine schwache Seite. Die Zersplitterung der protestantischen Kirchen weltweit ist eine Krankheit. Der Leib Christi ist sehr zersplittert, v.a. in vielen südlichen Ländern. Dieses Phänomen beeinträchtigt auch die Migrationsgemeinden, sowohl im Süden als auch in Europa und in den USA.

Muss man das nicht als Mangel an Offenheit in unserem ökumenisch orientierten Bewusstsein kritisieren? Durchschnittliche Leute in Deutschland oder in der Schweiz können sicherlich schwer verstehen, was Denominationalismus heißt und dass die Ursache dafür auf der Missionspolitik basiert. Die Zersplitterung ist ein gewichtiges Erbe der unüberlegten, eifrigen, wettbewerbsorientierten Missionspolitik des Westens in südlichen Ländern seit dem 19. Jh. Oft wurden dadurch Provinzialismus, ethnische Konflikte und Stammessystem in den jeweiligen Ländern verfestigt.

Indem wir Jesus Christus als Subjekt und die Gemeinde in ihrer Vielfalt als Prädikat betrachten, brauchen wir in diesem Zusammenhang den christlichen Dialog über Konfessionen oder theologische Differenzen hinaus. Z.B. landeskirchlich orientierte Menschen könnten auch von evangelikalen Strömungen sowie von der Pfingstbewegung neue fremde Impulse wahrnehmen, anstatt Berührungsängste, Herabwürdigung oder Abgrenzung zu haben.

Um des einen Leibes Christi willen, der krank ist von Ungerechtigkeit, falschen Prioritätssetzungen, Absolutsetzungen eines westlichen Menschenbildes und Ausgrenzungen oder übertriebenen Selbstzweifel bzw. rationalistischem Skeptizismus ist es m.E. dringend nötig in dieser „versöhnten Vielfalt“ zusammenzuwirken.

V. Diaspora  und Ökumene

Das Christentum hat von Anfang an ethische, ethnische und religiöse Schranken durchbrochen. Es war eine Art Grundbewegung des Paulus von Jerusalem aus in den Mittelmeerraum. Gerade dieser Text bezieht sich auf Integrationsprozesse, die da stattfanden und bei denen auch die Festlegung von Regeln des Zusammenlebens wichtig war, damit daraus gute Begegnungen werden konnten. Das gute Klima in den Gemeinden ist das Ziel der paulinischen Verkündung der guten Nachricht, des Evangliums von Jesus Christus.

Der Prozess selbst ist anspruchsvoll, anstrengend, bereichernd, aber auch mühsam, weil es dabei nicht nur zur Harmonie, sondern immer auch zu Konflikten kommt. Da die christlichen Gemeinden, bestehend aus Juden- und Heidenchristen, marginalisierte Gruppen waren, sollte man ihre Rolle im ökumenischen Prozess nicht zu hoch einschätzen. Man kann vermuten, dass viele noch sehr mit der eigenen Integration und Identitätsfindung in fremdem Kontext beschäftigt waren und weniger mit der Wirkung nach aussen oder politischer Einflussnahme. In den Migrationsgemeinden läuft es auch häufig so. Sie stehen in der Gefahr von Ghettoisierung.  Wenn sie auch nicht unbedingt Minderheitsgefühle haben, leben sie als Diaspora doch ständig in Konfrontation. „Die Minderheitssituation birgt aber auch eine gewisse Gefahr in sich, z.B. diejenige  einer Ghettomentalität, die Versuchung, sich von der ‚bösen’ Welt zurückzuziehen und sich hinter den Kirchenmauern in kleingläubiger oder ‚rechtgläubiger’ Isolation zurückzuziehen. Dann gerät die Minderheitssituation zum Minderheitskomplex.“

Die Einheit des zerbrochenen Leibes sollte nicht auf irgendwelcher menschlichen Beliebigkeit oder Künstlichkeit basieren, sondern auf der Zusammengehörigkeit zu Christus. Um mit Karl Barth zu sprechen: „Die Einheit der Kirche aber gründet in dem einen Christus...indem man zu Christus gehört, gehört man zu allen, die auch zu ihm gehören - nicht nachträglich, sondern zum vornherein, nicht in Ausübung einer christlichen Tugend, sondern seinsmässig, das heisst, um Christi willen und also nicht zufällig, nicht fakultativ, nicht freiwillig, sondern im strengsten Sinn, notwendig.“

1. Am Fallbeispiel der koreanischen Christenheit

Ich werde mich auf koreanische Migrationsgemeinden im deutschsprachigen Raum beschränken, weil ich sie am besten kenne und als in Basel lebende koreanische Theologin spreche.

Die Protestantische Koreanische Kirche wurde von den USA aus missioniert, wenn auch die erste koreanische Kirche von einem Koreaner gegründet wurde. Dadurch ist die made in USA-Church sehr stark verbreitet.

Die Konzentration auf Bibelkreise, Eifer im Bibellesen,  Gebetsstunden am frühen Morgen und kleine Gebetsgemeinschaften zur Erbauung sind wichtige Merkmale der koreanischen Kirchen, die ich als positive Dinge nennen darf. Die freie Wahl der Gemeinde und Pfarrer anstatt Parochial System zu haben, hat die Menschen  mehr motiviert, zum Gemeindenaufbau aktiv beizutragen.

Dies ist in der Migrationsgemeinde nicht viel anders. Trotz dieser Stärken der Migrationsgemeinden gibt es Schwächen, weil sie oft zu wenig ökumenisch gesinnt sind. Dazu kommt, dass die koreanischen Christengemeinden, weil sie marginalisierte Gruppen sind, ihre Rolle im ökumenischen Prozess schlecht einschätzen können.

Die Versorgung mit koreanischen Pfarrern ist für sie ein hoher Wert. Insofern ist die Migrationsgemeinde das geistliche und ekklesiologische Zentrum für ihre Gemeinde, d.h. die koreanische Gesellschaft im Exil.

Die offizielle Beziehungen zwischen deutschen und koreanischen Kirchen haben in den 1970iger Jahren angefangen, u.a. durch die Akademiebewegung wie in Bad Boll. Danach wurde die Beziehung durch die Basler Mission und später durch das EMS (Evangelisches Missionswerk in Südwestdeutschland) intensiviert.
 
Die koreanischen Migranten sind in den 1960iger Jahren aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland gekommen. Sie kamen als Krankenschwestern und Bergarbeiter.  Das in Deutschland verdiente Geld wurde nach Hause geschickt und bildete damals einen starken Grundstock der wirtschaftlichen Entwicklung in Korea, wofür ich mich bei Ihnen bedanke.

Außer dieser Arbeitsmigration gab es auch die politischen Exilanten, die unter dem Verdacht der nordkoreafreundlichen Gesinnung standen.  Migrationsgemeinden fungieren da als Zentrum für kulturelle Identität oder soziale Gemeinschaft, wo die Leute sich erholen, weil sie sich ohne sprachliche Barrieren verständigen können. Darüber hinaus ist in den meisten koreanischen Migrationsgemeinden das gemeinsame Essen von koreanischen Speisen nach dem Gottesdienst sehr wichtig, wie es in Korea selber auch sehr üblich ist. Abgesehen von der ungerechten Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen beim Vorbereiten dieses Essens ist dieser Aspekt, miteinander Essen zu teilen, förderlich für die Koinonia der jeweiligen Gemeinde. In der Gruppe von Menschen gleicher Herkunft und Sprache lassen sich Minderwertigkeitsgefühle durch Engagement in der Gemeindearbeit zumindest zeitweise ausgleichen.  Sie behalten manchmal stur ihre eigene Tradition und Identität, die sie bewahrt haben, seit sie das Land verlassen hatten. Mit der Einwanderung bringen die Leute die Zersplitterung ihres Landes mit sich.

Wenn durch die Integration der Kontakt mit den Leuten der Gastgeberländer verstärkt und intensiviert wird, könnte die Migrationsgemeinde eher ein Hinderungsgrund sein, die Integration zu fördern, weil sie aus sprachlichen und kulturellen Bequemlichkeiten eher unter sich und unter eigenen sozialen Netzwerken bleiben wollen. So sind die allermeisten  Migrationsgemeinden geformt und die Auslandsgemeinden der EKD als Migrationsgemeinden für Menschen deutscher Sprache und Herkunft sicher auch.   Migrationsgemeinden sind trotzdem so etwas wie der Finger, den man zum Zupacken auch in einer ansonsten etablierten Kirche eines Landes braucht.

2. Das Verhältnis zwischen Kirche und Mission

Eberhard Jüngel hat zutreffend gesagt, dass Mission ein Wesensmerkmal der Kirche ist. „Wenn Mission und Evangelisation nicht Sache der ganzen Kirche ist oder wird, dann ist etwas mit dem Herzschlag der Kirche nicht in Ordnung.“  Mission ist eine Triebfeder, die die Kirche in Schwung hält und antreibt, Kirche zu sein und  zu gestalten. Kirche formiert sich, wo Leute sich im Namen Jesu versammeln. In dem Sinne ist Kirche nicht nur Institution, sondern auch Bewegung, ein lebendiger Organismus. Die Bezogenheit aufeinander ist darum sehr wichtig, ohne diese kann sie nicht funktionieren. Um wirklich Leib Christi zu sein, bedürfen wir einander.

Wenn ich den allerwichtigsten Beitrag und das Ergebnis von Missionstätigkeiten nennen darf, würde ich sagen, dass die Leute durch das Evangelium von der Angst vor unbekannten, strafenden und selbstgemachten Gottheiten und Mächten befreit wurden.

Trotz aller Schwächen und historischen Belastungen durch die Verflochtenheit mit der kapitalistischer Expansion und dem Kolonialismus, ist die positive, befreiende Dimension der Mission zu unterstreichen. Denn durch die Vermittlung der Frohen Botschaft wurde Zuversicht auf Gott und eine neue Vorstellung von Gott und dem Menschen gebracht. Vertrauen und Zuversicht auf Gott ist ein zentrales Element im Leben geworden. Dadurch wirkt der Glaube als positive Energie für das Leben, anstelle der früheren Angst. Das ist ja genau der Sinn der Frohen Botschaft. Die Befreiung durch Christus ist zentral im Glauben, auch wenn wir das in der Wohlstandsgesellschaft häufig vergessen.

Mission ist eine Methode, mit der die Kirche aus lokaler Beschränktheit zu universaler Sicht und zur Ökumene gelangen kann. Missionarischer Umgang bedeutet Begegnung mit Menschen im jeweiligen Kontext. Mit Ökumene meine ich nicht nur Interkonfessionalität, sondern eine weltweite, das Ganze umfassende Sicht. Zwar wissen wir in der Tat auch  innerhalb des Christentums leider nur sehr wenig voneinander. Z.B. wissen die Christen im Süden sehr wenig über die Orthodoxen. Die römisch-katholische Kirche hält man unter den Protestanten mancherorts als vom Teufel. Das bedeutet, dass die  ökumenische Orientierung allgemein schwach ist und alle vorwiegend Mitgliederwerbung betreiben.

Wenn wir akademisch und praktisch sinnvolle Theologie fördern und uns im Christentum nicht nur auf die weltweit wachsende fundamentalistisch- oder (neu) pfingsterisch orientierten Leuten verlassen wollen, ist ein gewisser Gegenwind mit kritischer Konfrontation nötig. Denn wir alle stehen vor der Aufgabe (durch ganzheitliche Mission, in der Wortverkündigung und Tat miteinander verbunden sind) zur Aufhebung sozialer Ungerechtigkeit, an deren Entstehung die Mission im 19.Jh. beteiligt war, beizutragen, d.h., theologische Arbeit, Entwicklungsarbeit und Anwaltschaftsarbeit in der Diakonie zu leisten.

3. Identitätsfrage und Globalisierung

In diesem Gleichnis des Paulus vom Leib und den Gliedern sind die Werte und Ziele nicht verloren gegangen. Ganzheitliches Denken ist angesagt, um diesen Zusammenhang zu verstehen. Einheit in Vielfalt ist kein Widerspruch. Eines schliesst das andere nicht aus. Um wiederum mit Karl Barth zu sprechen: „Indem sie (sc. die Glieder der Gemeinde Jesu Christi), erweckt durch den Heiligen Geist, Jesus Christus erkennen und in dieser Erkenntnis real in ihm sind...sind sie in dem einen Brot, das sie gemeinsam brechen und essen und damit ihn und sich selbst darstellen und bezeugen: sein am Karfreitag gekreuzigter, am Ostertag auferweckter Leib - sind sie als Repräsentanten und Vorläufer aller Juden und Hellenen, Sklaven und Freien, Männer und Frauen, die in ihm Vielen, die in ihm auch Einer sind. Ihre Einheit kann ihre Vielheit, ihre Vielheit kann auch ihre Einheit nicht bedrohen.“

Im Gegensatz dazu zwingt Globalisierung zu unerwünschter Pauschalisierung, die die Divergenz und die Vielfalt im jeweiligen Kontext ignoriert. Z.B. ob eine Theologie der Wiedervereinigung als koreanische Theologie existieren soll oder nicht, ist eine Frage der Identität. Natürlich besteht da eine gewisse Gefahr des Nationalismus. Wenn die Deutschen den Begriff Nationalismus gebrauchen, gibt es eine gewisse negative Konnotation. Aber bei uns in Korea wird er nicht im negativen Sinne gebraucht, denn wenn man ihn in einem kleinen Land wie Korea oder Tibet verwendet, das nie in der Geschichte eine andere Nation angegriffen hat und von großen Mächten umgarnt ist, wird der Begriff Nationalismus eher im Sinne von Selbstschutz gebraucht.

Daher meine ich, jede Theologie sollte in ihrem jeweiligen Kontext differenziert reflektiert werden, wobei man auf der Gesamtebene die ökumenische Theologie im Auge behalten muss. So soll die Andersartigkeit nicht als belastende Abnormität betrachtet werden. D.h. man darf die Differenz von Kontexten nicht bagatellisieren. Darum ist die kontextuelle Theologie zu fördern. Denn die christliche Gemeinschaft ist nicht eine egalitäre, sondern eine gegliederte; in ihren Diensten ist sie ein differenziertes Werk, ein Organismus.

Das westlich geprägte Christentum ist keine Norm für das Christentum weltweit. Darüber hinaus ist das Christentum kein Monopol des Westens, weil das Christentum weder an eine bestimmte Kultur, noch einen besonderen Teil der Welt gebunden war und ist. Mit Recht macht eine 2007 veröffentlichte EKD-Denkschrift darauf aufmerksam,  dass die Friedenserziehung und Bildung zum Frieden nach Jan Amos Comenius auf ganzheitlicher Denkweise im Blick auf Gott, Mitmenschen und Mitgeschöpfen basiert. Dieses wichtige Element, nämlich die auf das Ganze bezogene Sicht und Handlungsweise bei ihm, sollte heutzutage mehr denn je hervorgehoben werden.

Bei Comenius ist die gegenseitige Verbindung von allen Dingen sehr wichtig. „Denn nichts ist zwecklos, und zuweilen beruht sogar auf einem ganz kleinen Teilchen die besondere Stärke der grösseren. In einer Uhr kann ein einziges zerbrochenes, verbogenes oder verschobenes Stiftchen das ganze Werk zum Stehen bringen; im lebendigen Körper die Entfernung eines einzigen Gliedes das Leben zerstören; und im Zusammenhang einer Rede oft das kleinste Wörtchen (eine Präposition oder Konjunktion) den ganzen Sinn ändern und verkehren; und so überall. Vollkommene Kenntnis eines Dinges wird nur erreicht durch die Kenntnis des ‚Was’ und ‚Wozu’ aller Teile.“  Um die Festigkeit des Ganzen zu konsolidieren, müssen die Zusammenhänge beim harmonischen Funktionieren der Teile berücksichtigt werden.  „Denn nichts kann dauerhaft sein, das nicht überall in sich zusammenhängt.“  Comenius hat von Paulus und dessen Bild vom Leib und den vielen Gliedern viel gelernt und übernommen. Leider ist dieses Denken in Europa im Zeitalter des Kolonialismus aus dem Blickfeld geraten. Für mich wäre es interessant zu hören, wie in Ihrem Zusammensein hier in Berlin die Zusammenhänge, die uns als Menschen, als Geschöpfe Gottes in der Welt zusammenhalten, zur Sprache kommen und in Ihrer Arbeit sichtbar werden.

VI. Schlussfolgerung

Mit dem Hinweis auf eine koreanische kulinarische Spezialität möchte ich meine Bibelarbeit schliessen. Es gibt da eine Speise, die auf Koreanisch „Guchulpan“ heisst, übersetzt meint das: „Neunerlei  Zutaten“ und bedeutet: ein Gericht, das aus 9 Zutaten besteht.

In der Mitte liegen Pfannkuchen, geviertelt wie ein Omelett und darum herum sind 8 weitere Zutaten angeordnet. Zerkleinertes Rindfleisch, verschiedene Gemüse und fein geschnittenes Ei werden in der Pfanne fertig zubereitet und in den Schälchen um den Stapel kleiner Pfannkuchen arrangiert. Die Zutaten werden vor dem Verzehr als Füllung auf die Pfannkuchen aufgetragen, darin eingerollt und dann in Soja Sosse mit Senf zum Dippen eingetaucht.

Dieses Gericht trägt die ganze Weisheit der Koreanischen Speisen in sich, die darin besteht, dass sie Harmonie und Ausgewogenheit hinsichtlich Geruch und Geschmack bewahren. Die einzelne Zutaten sind jede für sich gut geniessbar. Aber durch diese „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ kommen sowohl der Geschmack, als auch die Nahrhaftigkeit und Bekömmlichkeit der Zutaten erst richtig zu ihrer vollen Geltung.

Wenn ich dieses Bild auf unseren Text übertragen darf, könnte „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ dadurch noch unterstrichen werden. Wenn die Diversität unseres weltweiten Christentums gegenseitig toleriert, ergänzt, aber auch besser harmonisert werden könnte, könnte das auch eine Bereicherung für unser Christentum sein, damit so die Tischgemeinschaft im biblischen Sinne, aber auch in unserem alltäglichen Gebrauch, ihre volle Wirkung besser entfalten kann.

Es freut mich, dass ich meine Überlegungen zu 1. Kor. 12 hier zur Diskussion stellen durfte. Nun möchte ich meine Bibelarbeit mit einer koreanischen Musik schliessen.

Vielen herzlichen Dank für Ihre Geduld und Ihr Zuhören.