Predigt zu Apostelgeschichte 6, 1-7 in der Kultur- und Wegekirche Landow auf der Insel Rügen

Wolfgang Huber


I.
„In diesen Tagen aber, als die Zahl der Christen zunahm, erhob sich ein Murren unter den Kirchenfernen gegen die Kirchenmitglieder, weil sie im Gottesdienst übersehen wurden und weder in der Predigt noch im Gebet vorkamen.“
Wann, so mögen Sie fragen, soll das denn gewesen sein? Gab es eine Zeit, in der die Christenheit so schnell wuchs, dass die neu Hinzukommenden von denen mit den Stammplätzen an den Rand gedrängt wurden? Ist es denn etwas alltäglich, dass diejenigen murren, die in unseren überfüllten Kirchen keinen Platz mehr bekommen? Ich kenne das von Weihnachten – und Sie kennen das vom Landower Musiksommer und dem wunderbaren Kammermusikfest, das gestern in dieser Kirche stattfand. Aber sonst? Stammt unser Zitat etwa aus einem Roman, der das Ergebnis guter kirchlicher Arbeit mit einer solchen Vision würdigt?
Im unverfälschten biblischen Original lautet der Satz, mit dem ich begonnen habe, wie folgt:
In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung.
Mit diesem Satz skizziert Lukas in seiner Apostelgeschichte ein Problem, das die frühe christliche Gemeinde auf eine die gesamte kirchliche Arbeit prägende Weise gelöst hat. Insgesamt heißt der Abschnitt im sechsten Kapitel der Apostelgeschichte, der für den heutigen Tag als Predigttext vorgesehen ist, so:
In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung. Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten Stephanus, einen Mann voll Glaubens und heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und Nikolaus, den Judengenossen aus Antiochia. Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten die Hände auf sie. Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem Glauben gehorsam.

II.
Die christliche Gemeinde war, so lernen wir aus diesem Bericht, von Anfang an ein vielschichtiges Gebilde. Man kann sie ohne Übertreibung „multikulturell“ nennen. Schon in der ältesten christlichen Gemeinde in Jerusalem gab es neben den hebräisch-sprachigen Mitgliedern, die sich von der jüdischen Gemeinde gelöst und den Glauben an Jesus Christus übernommen hatte, auch einen griechischsprachigen Gemeindeteil. Auch diese Gemeindeglieder hatten vorher zur jüdischen Gemeinde gehört – so wie ja beispielsweise auch der Apostel Paulus, aus Tarsus in Kleinasien stammend – ursprünglich ein griechischsprachiger Jude war.
Kulturelle Verschiedenheit und soziale Ausgrenzung liegen oft sehr nah beieinander. Das kann man auch an diesem Beispiel sehen. Alleinstehende Frauen waren gerade unter den damaligen sozialen Bedingungen besonders auf Hilfe angewiesen. Doch genau da haperte es mit der Gleichbehandlung. Während hebräisch-sprachige Witwen, wenn sie in Not waren, in der Gemeinde an einer täglichen Mahlzeit teilnehmen konnten, wurden die griechisch-sprachigen Witwen bei der täglichen Versorgung mit Mahlzeiten ausgelassen.
Ein Konflikt entbrennt. Doch sein tieferer Grund liegt in der Spannung zwischen der sozialen Fürsorge für die Gemeindeglieder und deren geistlicher Versorgung. Die Apostel können nicht auch noch dafür sorgen, dass alle Gemeindeglieder in ihrer jeweiligen Notlage gerecht behandelt werden. Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen. So sagen sie.
Aber lässt sich denn das eine gegen das andere aufrechnen? Ganz gewiss nicht. Wer im Vaterunser um das tägliche Brot bittet, aber die arme Witwe hungern lässt, vernachlässigt gerade auf diese Weise das Wort Gottes. Aber wer sich in der Sorge um das tägliche Brot des Nächsten verzehrt und dabei vergisst, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern auf das lebendige Wort Gottes angewiesen ist, der entwertet gerade auf diese Weise die Tat der Nächstenliebe. Es muss also ein Weg gefunden werden, auf dem beides zusammenbleibt: die Sorge für die Seele und die Sorge für den Leib, Gottes lebendiges Wort und das Brot für den Nächsten.
Dafür wird in diesem Fall eine Lösung gefunden, die auf dem Prinzip der Arbeitsteilung beruht. Neben die Apostel, die Verkündiger des Wortes Gottes, treten die Diakone, die auf die Not der Menschen achten und sich darum bemühen, dass allen Notleidenden wirksam geholfen wird. Auf diese Entscheidung der frühen Christenheit geht die Einrichtung einer eigenständigen kirchlichen Diakonie bis zum heutigen Tag zurück. Arbeitsteilung soll dabei helfen, dass nichts Wichtiges vergessen wird.
Von diesem Modell lebt unsere Kirche noch heute. Die Verkündigung des Evangeliums vollzieht sich in Wort und Tat. Predigtamt und Diakonat, Gottesdienst und Nächstendienst, Kirchengemeinden und diakonische Einrichtungen bürgen für die Einheit von Zeugnis und Dienst in der Ausrichtung dessen, was Gott von uns erwartet  - nämlich nach einem prophetischen Wort: Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor Deinem Gott.

III.
„In diesen Tagen aber, als die Zahl der Christen zunahm, erhob sich ein Murren unter den Kirchenfernen gegen die Kirchenmitglieder, weil sie im Gottesdienst übersehen wurden und weder in der Predigt noch im Gebet vorkamen.“ In der verfremdeten Form, in der ich die Beschreibung der Ausgangslage in unserem Predigtabschnitt aufgenommen habe, liegt der Akzent ganz auf der Frage einer „geistlichen Grundversorgung“. Sie verstehen mich richtig: Ich schätze die diakonischen Aufgaben nicht gering, die sich auch heute stellen. Aber zugleich erwacht in unserer Zeit das Interesse an religiösen Themen neu; viele suchen nach neuer Klarheit im Blick auf Sinn und Halt für unser Leben; vielerorts kann man eine neue Offenheit für den Inhalt des christlichen Glaubens und die mit ihm verbundene Gewissheit für das eigene Leben beobachten.
Anfang und Ende des Lebens sind ins Gerede gekommen: Darf man mit künstlich hergestellten Embryonen nach Belieben verfahren und das menschliche Leben dann beenden, wenn man das selbst für richtig hält? Das Geheimnis der Schöpfung wird von neuem zum Thema – je genauer die Wissenschaft die Natur erforscht, desto gewichtiger werden die Fragen, die mit naturwissenschaftlichen Einsichten allein nicht zu beantworten sind: die Fragen nach dem Warum und dem Wozu.  Kein noch so ausgeklügelter Plan bewahrt uns vor Grenzsituationen. Dann stammeln wir plötzlich alle: „Großer Gott, steh uns bei!“ Auch wir machen multikulturelle Erfahrungen. Dabei stellen wir uns die Frage, wie es denn um die eigene Kultur steht und was in der Begegnung mit anderen Kulturen Bestand haben wird. Leben wir in einer christlichen Kultur? Und wird sie auch in der Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen, zum Beispiel der islamischen Kultur, christlich bleiben?
Wir brauchen Orte und Räume, in denen wir uns solchen Fragen stellen können. Einmal stoßen wir beiläufig, im Vorübergehen auf solche Orte: auf Wegekirchen zum Beispiel. Aber diese Orte und Räume müssen auch zum Verweilen eingerichtet sein, sie müssen unserem Suchen, Zweifeln und Glauben Sprache leihen, auch die Sprache der Musik. Deshalb brauchen wir Kulturkirchen: Orte, an denen wir verweilen, weil unser Glaube Sprache findet.  Auch dieser Seite des kirchlichen Auftrags müssen wir uns stellen. Auch heute müssen wir mit den Aposteln einsehen: Es ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das Wort Gottes vernachlässigen.
Vielleicht haben wir uns in den letzten Jahrzehnten zu sehr angewöhnt, Gelegenheiten zur Begegnung mit Gott vor allem im praktischen Tun zu suchen. Diakonisches Handeln, politisches Engagement, gesellschaftliche Präsenz: das waren für unsere Kirche große Themen. Doch schon die erste christliche Gemeinde in Jerusalem unterstreicht die Verbindung von Handeln und Spiritualität, von Liebe und Glaube.
Wir kämen unserem kirchlichen Auftrag nicht nach, würden wir das Eintreten für Gerechtigkeit in unserem Land unterlassen, uns nicht in der Pflege von Kranken und Alten engagieren, keine Angebote für Kinder und Jugendliche bereithalten. Zu Recht fordert und sucht man bei unserer Kirche in sozialen Fragen Rat, Sachverstand und das Wahrnehmen der Option für die Armen. Die christlichen Kirchen pflegen die Kultur der Liebe in unserem Land.
Aber um unserem kirchlichen Auftrag gerecht zu werden, müssen wir ebenso geistliche Orte der Begegnung mit Gott bereithalten und erschließen. Deshalb sagen die Apostel: Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Wo immer eine christliche Gemeinde lebendig ist und lebendig bleiben will, muss es Menschen geben, die dies zu ihrer ureigenen Aufgabe machen. Denn auch in diesem Satz begegnet ein bleibendes Grundmotiv christlicher Existenz. Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben. Auch auf dieses Motto können wir nicht verzichten. Ein solcher Dienst ist nötig, damit Menschen im Vertrauen auf Gott fröhlich leben und getröstet sterben.
Dieser geistliche Auftrag vollzieht sich schon immer in einem engen Wechselverhältnis von Kirche und Kultur. Es gibt keine einzige Periode in der Geschichte der Christenheit, in der das Gebet und der Dienst am Wort sich nicht kultureller Zeichen und Ausdrucksmittel bedient hätten. Beispiele sind schnell bei der Hand: Die eindrucksvollsten Passagen in den Briefen des Apostels Paulus, also in den frühesten Zeugnissen des christlichen Glaubens, kamen zu Stande, weil er Gedichte zitierte, in denen die Christen ihren Glauben zusammenfassten. So weit unser Wissen zurückreicht, haben christliche Gemeinden im Gottesdienst gesungen. Vom Leben der frühen Christen haben wir Kenntnis, weil sie die Sarkophage, in der sie ihre Toten bestatteten, künstlerisch ausschmückten. Auf diese Weise führten sie Dichtung, Musik und bildende Kunst immer wieder zu neuen Höhepunkten – weil sie ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben wollten.
Es gibt keinen Grund dafür, dass das heute anders sein sollte. Im Gegenteil: Heute versteht sich eine Verwurzelung im christlichen Glauben nicht mehr von selbst; neue Wege sind dafür nötig, auch neue kulturelle Wege. Wir anerkennen die Eigenständigkeit der Künste; aber wir brauchen sie zugleich, damit der Glaube Sprache findet. Deshalb haben wir in unserer evangelischen Kirche eine neue kulturelle Initiative gestartet. Wir treten dafür ein, dass unsere Kirchengebäude als Orte der Begegnung zwischen Glauben und Kultur wahrgenommen und gestaltet werden, wie man das in diesem alten Kirchengebäude mit seinem „maroden Charme“ so eindrucksvoll erleben kann. Wir sind dankbar dafür, dass auch Politik und Gesellschaft inzwischen die Kirche als den stärksten nichtstaatlichen kulturellen Akteur wahrnimmt und anerkennt. Wir sind dankbar für alle Unterstützung durch Staat und Gesellschaft, durch Freundeskreise und Stiftungen, die uns dabei helfen, unserer kulturellen Aufgabe nachzukommen.
So wie die Witwen in der urchristlichen Gemeinde Gottes Wort nicht ohne die alltägliche Versorgung erhalten konnten, so können wir heute Glaubensfragen nicht losgelöst von unserem Lebensalltag thematisieren. Menschen fragen danach, was der christliche Glaube mit ihrer Alltagskultur zu tun hat. Wenn uns die Weitergabe des Glaubens wichtig ist, müssen wir uns deshalb auch für diese Seite der Kultur interessieren, auch wenn sie sich – wie weite Teile der Jugendkultur – in steigendem Maß in virtuellen Welten vollzieht.
Die Bedeutung kirchlichen Handelns für die kulturelle Grundversorgung wächst. In einer weitgehend virtuellen Welt schafft die Kirche Orte der Begegnung. Aus Stadt und Land ist sie als Kulturträger nicht wegzudenken. Gerade in ländlichen Regionen leistet sie einen unverzichtbaren Beitrag zum kulturellen Leben. In Kirchengebäuden kristallisiert sich die Kulturbedeutung des christlichen Glaubens besonders deutlich. Sie zu erhalten und zu pflegen, sie mit gottesdienstlichem und kulturellem Leben zu erfüllen, ist eine Aufgabe, die alle Anstrengung lohnt.
Auf solche Weise wollen wir das Weltkulturerbe von Glaube, Hoffnung und Liebe für unsere Zeit fruchtbar machen. Wir vertrauen darauf, dass sich dann auch bei uns erfüllt, was sich in urchristlicher Zeit ereignete: Und das Wort Gottes breitete sich aus, und die Zahl der Jünger wurde sehr groß in Jerusalem, in Landow und an allen Orten des Landes. Amen.