„Werte bewahren und Zukunft gestalten - Christliche Orientierung für das Zusammenwachsen Europas“ – Vortrag auf dem Jahresempfang der Kirchen in Brüssel

Margot Käßmann

Vorbemerkung

Ich freue mich, zu diesem Thema nach Brüssel eingeladen zu sein. Aus deutscher Perspektive ist die Wahrnehmung, dass hier bzw. in der EU das jüdisch-christliche Erbe Europas eher negiert wird. Dabei können wir doch Geschichte, Kultur und Architektur Europas gar nicht verstehen, wenn wir nichts von Bibel und Glaube wissen! Und auch die Werte Europas, das Eintreten für die individuellen Menschenrechte etwa, leiten sich für mich ab aus dem christlichen Menschenbild, das jedem Menschen eine eigene Würde zuspricht. So gibt nach meiner Auffassung der christliche Glaube in der Tat eine Orientierung für Europa. Wir müssen uns ja fragen, welche Wertegemeinschaft wir sind, damit wir auch erklären können, wohin wir denn Zuwanderer etwa integrieren wollen.

1. Christliche Orientierung in Europa

Die Spaltungen der Christenheit gingen von Europa aus. 1054 die große Spaltung zwischen Ostkirche und Westkirche, die bis heute die Christenheit prägt. Wer sich die EU-Grenze vor dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien anschaute, konnte mit Erstaunen feststellen, dass seine Grenze fast jener Spaltung entspricht. Es folgte das Zeitalter der Reformation, in der Westkirche eine große Umbruchsituation, die sich schon angedeutet hatte mit Jan Hus und anderen Reformbewegungen in ganz Europa. Luther, unterstützt von der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg und einigen Fürsten samt ihren machtpolitischen Interessen wurde zum Wegbereiter. Schließlich war Europa auch Schauplatz der Entstehung der anglikanischen Kirche, auch hier spielten persönliche, wie machtpolitische Interessen eine Rolle, sowie der Spaltung zwischen römisch-katholischer und alt-katholischer Kirche, der Entwicklung der lutherischen und reformierten Kirche sowie später der großen historischen Friedenskirchen. Kirchengeschichte war immer auch europäische Geschichte.

Und: Europa hat die Spaltung der Christenheit mit der Mission in alle Welt getragen. Ein pazifischer Bischof hat mir einmal erzählt: „Letzten Endes sind wir eine große Gemeinschaft auf unserer Insel bis auf den Sonntagvormittag. „Um zehn Uhr geht ein Teil von uns in die römisch-katholische Kirche, eine andere Gruppe in die baptistische Kirche und wieder eine andere in die lutherische. Die Unterschiede versteht eigentlich niemand.“

Erbittert haben die christlichen Kirchen in Europa gestritten um den Wahrheitsanspruch ihrer Kirche. Grauenvolle Kriege wurden in Sachen christlicher Wahrheit gefochten, denken wir allein an den 30-jährigen Krieg, das unsägliche Leiden der Menschen und bis heute die Auseinandersetzungen in Nordirland, die unter dem Label „evangelisch-katholisch“ geführt werden.

Das 20. Jahrhundert hat ökumenisch einen ernormen Durchbruch gebracht. Erstmals seit den Jahrhunderten der Spaltungen haben sich die christlichen Kirchen aufeinander zu bewegt. Ansporn hierfür waren zwei Elemente: Die missionarische Herausforderung und die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. 1910 versammelten sich in Edinburgh Missionsexperten, weil sie die Glaubwürdigkeit der christlichen Kirchen auf dem Feld der Mission durch die Spaltungen in Denominationen und Konfessionen gefährdet sahen. Hieraus ist die ökumenische Bewegung erwachsen. Es entstand die „Bewegung für Praktisches Christentum“, die die Einheit der Kirche auf dem Weg des gemeinsamen Dienstes sieht und die „Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung“, die durch Übereinstimmungen in der Lehre den Weg zur Einheit der Kirche finden will. Freundschaften entwickelten sich, Gemeinschaft entstand, auch über die Gräben des Ersten Weltkrieges hinweg. Das zeigt, wie wichtig die persönliche Begegnung für die Ökumene ist! Vielleicht braucht sie eine Art Theologie der Freundschaft.

Vor allen Dingen aber hat sich die ökumenische Gemeinschaft, die stetig wuchs, in den 30er und 40er Jahren über die Gräben des Zweiten Weltkrieges hinaus erhalten. Das ist ein Wunder, für das wir Gott dankbar sein können. Gerade die deutschen Kirchen haben hier vieles zu danken. Dass sie 1948 zu den Gründungskirchen des Ökumenischen Rates der Kirchen gehören durften, war ein Zeichen der Versöhnung, das bis heute wirkt. Delegierte aus Holland, der Schweiz, Frankreich besuchten den Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland bei seiner ersten Sitzung nach dem Krieg, und es kam zu dem Schuldbekenntnis, über das Dietrich Bonhoeffer und Wilhelm Visser’t Hooft bereits gesprochen hatten.

Der Ökumenische Rat der Kirchen hat in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz große Hoffnungszeichen gesetzt. Das gilt sowohl für die Einheit der Kirchen im Sinne des Lehrgespräches, der Arbeit von Glauben und Kirchenverfassung, die ihren Höhepunkt fand in dem Dokument „Taufe, Eucharistie und Amt“ 1982 in Lima. Und er hat Zeichen gesetzt für die Einheit der Kirche, die auch für die Einheit der Menschen eintritt, für die Gemeinschaft von Menschen aus allen Rassen und Völkern. Das waren für die europäischen Kirchen manches Mal schwierige Lernprozesse! Energisch haben die Kirchen aus der sogenannten Dritten Welt sich zu Wort gemeldet und Gehör gefunden. Für mich persönlich ist weiterhin der Höhepunkt die Weltversammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung 1990 in Seoul, Korea.

Im 20. Jahrhundert haben die Kirchen Europas gelernt: Diese christliche Kirche, die wir jeden Sonntag im apostolischen Glaubensbekenntnis bekennen, ist eine. Eine heilige, christliche Kirche. Sie ist die Kirche, die wir glauben, die in Jesus Christus vorgegeben ist. Diese Kirche manifestiert sich in vielen Kirchen weltweit. In der Vielfalt der Kontexte und Denominationen ist die Una Sancta, die eine heilige christliche Kirche zu finden. Jede Kirche ist nur eine Provinz der Weltchristenheit (E. Lange).

Und doch gibt es immer wieder Rückschläge. Beim Zerfall Jugoslawiens war auf einmal die Rede von katholischen Kroaten, orthodoxen Serben und muslimischen Bosniern. Auch das aber zeigt: Religion ist als Faktor nicht zu unterschätzen. Ich trete entschieden dafür ein, dass Religion eindeutig ein Faktor der Konfliktentschärfung ist und nicht Öl in das Feuer politischer Konflikte giesst. Immer wieder sind es auch religiös motivierte Akteure, die jene mühselige Versöhnungsarbeit mit langem Atem betreiben, wie etwa die Aktion Sühnezeichen.

Inzwischen, das sei noch erwähnt, gibt es Kirchen, die sich vollkommen loslösen von den dogmatischen Differenzen der europäischen Mutterkirchen. Nehmen wir die Kirche des Evangelisten Simon Kimbangue in Zaire, eine der größten Kirchen Afrikas. Diese ist allerdings noch Mitglied im Ökumenischen Rat der Kirchen. Es gibt inzwischen Schätzungen, dass nahezu die Hälfte aller Christinnen und Christen auf der Welt nicht mehr einer der traditionellen konfessionellen Kirchen - römisch-katholisch, reformatorisch oder orthodox - angehören, sondern einer der großen freien christlichen Bewegungen im Pfingstbereich. Das gilt insbesondere für Afrika und Lateinamerika. Eine chinesische Pastorin sagte mir kürzlich: „We are post-confessional“. Nehmen wir das überhaupt wahr? Wie gehen wir damit um? In unseren Großstädten in Deutschland gibt es beispielsweise unzählige christliche Auslandsgemeinden, die anscheinend völlig außerhalb unseres Blickfeldes existieren und Gottesdienst feiern. Oder ich nehme die nette niedersächsische Kleinstadt Gifhorn: 24 Religionsgemeinschaften, 40.000 Einwohnern. Kurzum: die traditionellen Kirchen mit ihren konfessionellen Grundüberzeugungen stehen in Europa vor enormen Herausforderungen und zwar gemeinsam.

Dabei steht die ökumenische Bewegung immer wieder vor großen Herausforderungen. Noch immer erkennen sich nicht alle gegenseitig als Kirchen an. Aber es gibt auch großartige Durchbrüche. Ich denke an die Leuenberger Konkordie von 1973 durch die alle Kirchen der reformatorischen Tradition in Europa sich gegenseitig als Kirchen anerkennen, damit die Ämter anerkennen und Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft praktizieren. Das macht es für mich möglich, als Bischöfin in Warschau einem Abendmahlsgottesdienst vorzustehen, auch wenn dort die Frauenordination nicht praktiziert wird.  Auf diesem Weg müssen die reformatorischen Kirchen auch im Gespräch mit Katholiken und Orthodoxen weiter gehen. Wir leben in einer Welt der Globalisierung. Da muss gefragt werden, wie nicht nur die einzelnen Kirchen, sondern die Christenheit insgesamt mitwirken will. Ich halte es für vollkommen falsch, in das große Lamento über die Säkularisierung einzustimmen und sich zurückzuziehen. Die Stimme des christlichen Glaubens wird gebraucht im Zeitalter der Globalisierung! Und: Jesus betet selbst im hohepriesterlichen Gebet (Joh 17), dass die Seinen alle eins seien. Er hat das Mahl der Gemeinschaft zu seinem „Markenzeichen“ gemacht. Es gibt einen biblischen Auftrag zur Ökumene!

Und schließlich gibt es ja auch Aufbruchzeichen, denken wir etwa an die Charta Oecumenica, die von den europäischen Kirchen im Jahr 2002 beschlossen wurde. Oder an dir drei Europäischen Ökumenischen Versammlungen in Basel 1989, Graz 1997 und Sibiu/Hermannstadt 2007. Es ist offensichtlich, dass die Christinnen und Christen vor Ort längst mehr Ökumene wollen – und praktizieren! – als alle theologische Auseinandersetzung. Ich denke auch an die oft gute und selbstverständliche ökumenische Kooperation. Wir brauchen die Ökumene schlicht aus theologischen Gründen. Es gibt nur die eine geglaubte Kirche Jesu Christi, die wir im Apostolikum jeden Sonntag bekennen. Keine Kirche hat die Wahrheit, jede ist Zeugin der Wahrheit, die Jesus Christus selbst ist. Darin liegt der Grund und Motor der Ökumene. Das eigene Profil sollte gewahrt werden, unbedingt. „Rückkehrökumene“ ist kein gangbarer Weg, sehr wohl aber „versöhnte Verschiedenheit“. Aber wir sind auch verantwortlich für ein klares Zeugnis in die Welt. Daher in einem zweiten Punkt einige Überlegungen zu den Werten, die wir als Christinnen und Christen vertreten.

2. Christliche Werte bewahren

Sind christliche Werte wirklich ein aktuelles Thema? In Europa hat doch eine deutliche Distanzierung vieler Menschen von den christlichen Kirchen stattgefunden. Die Selbstverständlichkeit, mit der Menschen dazu gehörten, im christlichen Glauben erzogen wurden, christliche Rituale praktizierten, scheint verloren gegangen. Damit unterscheidet sich Europa übrigens deutlich von Afrika, Asien und Lateinamerika, wo die christlichen Gemeinden deutlich wachsen und auch von den USA, wo Religiosität zur Normalität gehört. In Deutschland gibt es schon Diskussionen, wenn der Bundespräsident sagt: „Gott segne unser Land“, in Europa laufen die Laizisten schon Sturm, wenn ein Gottesbezug oder der Verweis auf die jüdisch-christlichen Wurzeln Europas in die Präambel der Verfassung aufgenommen werden soll.

Dabei will ich keinesfalls in einen Lamentogesang einstimmen. Zum einen sind die Kirchen inzwischen dabei, die Situation konstruktiv und offensiv aufzunehmen, eine neue Balance zwischen Innovation und Tradition zu finden, deutlicher und klarer von dem zu reden, was sie glauben. Zum anderen verändert m.E. sich die Lage zur Zeit. Anders als vor einigen Jahren suchen viele Menschen in unserem Land nach Orientierung, und so manche fragen neu und ernsthaft nach der Kirche. dritten Punkt die Herausforderungen und Chancen – trotz aller Engpässe - für die Zukunft in ethischer Sicht.

Allerdings verfalle ich nicht der Illusion, diese „Rückkehr des Glaubens“ sei immer gleich christlich oder gar kirchlich. Eine Studie zum Weltjugendtag hat gerade gezeigt, dass die Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland erklärt, sie glaube an Gott, eine Mehrheit von ihnen aber nichts mit der Institution Kirche zu tun haben will. Gegenüber der individualistischen Patchwork-Religion muss das Christentum nun allerdings auf der biblischen Basis beharren, die Gemeinschaft zur Grundlage hat. Sinnstiftung entsteht durch konkrete Religion und nicht durch diffuse Religiosität. Jesus Christus ist keine Naturgottheit, die mir auf einem Waldweg erscheint. Christlicher Glaube bindet sich an die Bibel. Im Zeitalter der Individualität der Konsumgesellschaft aber basteln sich viele Menschen lieber ihre eigene Religion zusammen, als sich auf Gemeinschaft und Konsenssuche einzulassen. Ein bisschen Buddhismus ist dann schick. Ein bisschen Islam wirkt streng. Ein bisschen Kabalah – Madonna zeigt, wie man das macht! In ihrer Show in Hannover hängt sie sich selbst dann wieder ans Kreuz. Oder Sinead O’Connor, die einst noch den Papst beleidigte und sich heute als katholische Priesterin sieht. Religion ist in, alle basteln sich ihr Teil. Cat Stevens singt jetzt wieder unter dem Namen Jusuf Islam. Tom Cruise und Katie Holmes haben nach Scientology-Ritus geheiratet. - Was das für eine Trauung sein soll, weiß kein Mensch, aber medial macht es sich gut. Vermarktung von Religion, Patchwork-Religion, das ist respektabel in der Welt, in der die, die sich alles kaufen und selbst zusammenstellen, die wahren Helden sind.

Ich bin selbst davon überzeugt, dass die Zehn Gebote Lebensregeln für eine gute Welt sind. Sie sind eine konkrete Anleitung zum Leben und Handeln aus dem Glauben heraus. Und bei der „zweiten Tafel“ der Gebote ist meines Erachtens auch eine klare Grundlage einer allgemeinen Ethik, die auch im 21. Jahrhundert Geltung haben kann, erkennbar. Beginnen wir mit dieser „zweiten Tafel“:

Du sollst Vater und Mutter ehren – das vierte Gebot. Respekt vor dem Alter ist rar geworden in unserem Land. Alle wollen jung bleiben. Wer nicht mehr schnell und fit genug ist, wird an den Rand gedrängt, die Sterbenden aus dem Gesichtsfeld verdrängt. Und: Wir wissen, wie sehr heute der Generationenvertrag wankt. Das Thema ist hochaktuell! Gibt es Altern in Würde, wenn heftig diskutiert wird, ob nicht ab bestimmtem Alter beispielsweise Krankenversorgung eingestellt werden soll. Wie wir mit den Alten umgehen, zeigt etwas von unserem Menschenbild.

Du sollst nicht töten – das fünfte Gebot. Wir erleben auch heute, dass Töten bzw. Mord eine Gesellschaft zerstört. Das gilt einerseits im individuellen Bereich. Wie viel Leid bricht über Menschen herein, wenn ein Angehöriger, den sie lieb hatten, ermordet wurde. Da denke ich zuerst an Kinder, wie etwa die kleine Levke aus Altenwalde bei Cuxhaven. Oder an die so genannten „Ehrenmorde“. Aber auch den Krieg hat die Menschheit nicht bannen können 60 Jahre nach dem 2. Weltkrieg. Töten zerstört immer die Menschlichkeit, auch im Krieg.

Du sollst nicht ehebrechen – das sechste Gebot. Das biblische Verbot von Ehebruch wird von manchen belächelt als vorgestrig in einer Zeit sexueller Freizügigkeit. Und doch ist die tägliche Erfahrung auch heute, dass Ehebruch unendlich viel Schmerz, Kummer und Zerstörung mit sich bringt - für Paare und auch für ihre Kinder! Vielleicht gewöhnen wir uns an die großen hohen Scheidungszahlen, und zum Glück sind auch Geschiedene nicht mehr diskriminiert in unserem Land. Aber doch zerstört Ehebruch auch heute Vertrauen, ist die Trennung einer Ehe eine tiefe emotionale Belastung.

Du sollst nicht stehlen – das siebte Gebot. Stehlen ist kein Kavaliersdelikt. Das gilt im Kleinen: der Einzelhandel wird jedes Jahr durch Ladendiebstahl schwer geschädigt. Das Stehlen aber zerstört die Gemeinschaft auch im internationalen Bereich, in den ungerechten Strukturen unserer globalisierten Welt.

Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten – das achte Gebot. Wäre das nicht gerade in Wahlkampfzeiten und Koalitionsgerangel gut anzuwenden? Wie heißt es in Luthers Erläuterung im Kleinen Katechismus: „Wir sollen unseren Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren“. Ach doch, sich daran erinnern lassen, tut auch vielen Menschen in der Politik gut. Muss nicht dieses Gebot der Wahrheit wieder eingeklagt werden? Wer will in einer Welt leben, in der Menschen niemandem und nichts mehr trauen können? Alles unter dem Verdacht der Lüge – keine Grundlage für Zusammenleben.

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus – das neunte Gebot. Raffen, Haben-Wollen, Habgier, die Geiz als „geil“ deklariert – wer so lebt, verliert jeden Blick auf ein Miteinander, auf Rücksicht, auf die soziale Verpflichtung, die Eigentum mit sich bringt.

Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh noch alles, was sein ist - das zehnte Gebot. Die Gier nach dem, was andere haben, die so genannten Neidgesellschaft -, dass das dem Gemeinsinn nicht zuträglich ist, bleibt bis heute offensichtlich. Das Auseinanderklaffen von Habenden und Verschuldeten in unserem Land, wie in der großen weiten Welt, zerstört Leben. Ein Bewusstsein für Bescheidenheit, eine Ethik der Grenze macht da Sinn.

Mich hat die Geschichte von einem Touristen sehr nachdenklich gemacht, der in einem Kloster übernachtet. Als er sieht, dass es dort sehr karg ist, fragt er einen Mönch: „Wo habt ihr eure Möbel?“ Der fragt zurück: „Ja wo haben Sie denn Ihre?“ „Meine?“, sagt der Tourist verblüfft. „Ich bin doch nur auf der Durchreise!“ „Eben“, sagt der Mönch, „das sind wir auch.“

Insofern lässt sich in aller Knappheit zusammenfassend sagen, dass die Zehn Gebote elementar sind für ethisches Handeln, so elementar, dass sie ein Leitfaden eben nicht nur für Nomadenvölker einer Agrargesellschaft vor 3000 Jahren waren, sondern auch für die Bürgerinnen und Bürger der Gesellschaft des so modernen 21. Jahrhunderts sind.

Meines Erachtens gilt das nun aber auch für die religiösen Gebote, die so genannte „erste Tafel“ der Gebote.

Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir – das erste Gebot. Das ist eine entscheidende Mahnung, uns selbst zu fragen, was unser Gott ist. Martin Luther hat ja einmal gesagt, woran wir unser Herz hängen, das sei unser Gott. Heute hängt das Herz der meisten Menschen anscheinend am Geld, am Haben. Konsum wird da zur großen Religion: Ich konsumiere, also bin ich. Wie hohl dieser Gott allerdings ist, merke ich spätestens, wenn ich kein Geld mehr habe, um zu konsumieren.

Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht unnützlich führen – das zweite Gebot. Der Respekt vor dem Namen Gottes meint auch den Respekt vor dem Glauben. Den Glauben von Menschen gilt es zu respektieren. Wer den Glauben eines anderen verächtlich macht, flapsig, lächerlich von dem spricht, was einem anderen heilig ist, zeigt auch mangelnden Respekt vor der Person. Ein solcher Mensch verliert die Würde des anderen aus dem Auge. Vielleicht ist ihm selbst auch nichts mehr heilig, nichts unantastbar, nichts in aller Zartheit verletzbar.

[Das erleben wir ja auch immer wieder in Kriegen, dass die kämpfenden Parteien sehr wohl wissen: Wenn ich das Gotteshaus des anderen zerstöre, treffe ich ihn in seinem Herzen. Das haben wir erlebt bei der Zerstörung von Synagogen 1938 in Deutschland. Das erleben wir bei der Zerstörung von Kirchen, Moscheen und Tempeln. Gott, als das den Menschen Heilige, die Schöpferkraft, an die sie glauben, gilt es zu respektieren. Das gilt für den Gott, von dem ich glaube, dass er der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Diesen Respekt werde ich aber auch Menschen anderer Religionen nicht verweigern.]

Du sollst den Feiertag heiligen – das dritte Gebot. Ist das nicht ein alter Zopf? Wenn wir aber die Feiertage zu den Akten legen, wie es so oft im Namen des Wirtschaftswachstums gefordert wird, wenn wir die Sonntage den Alltagen ganz gleich machen, alle Geschäfte öffnen, die Autos waschen, alles eben haben wie sonst, dann gibt es nur noch den Gleichklang von sieben Werktagen. Ohne Sonntage gibt’s nur noch Werktage – wie es ein Slogan der Evangelischen Kirche sagt. Die Abschaffung des Feiertags wird den gemeinsamen Rhythmus unserer Gesellschaft zerstören. Gerade Manager leiden unter dem so genannten Burn-out-Syndrom, es ist letzten Endes eine Zerstörung des Rhythmus von Schaffen und Ruhen. Wenn die Gesellschaft diese besonderen Tage nicht mehr kennt, die Feiertage, an denen auch einmal all dieses Rennen und Besorgen und Schaffen ruht, dann wird sie eines Tage selbst einem kollektiven Burn-out-Syndrom unterliegen. (Sonntagskampagne)

Ich bin überzeugt, die Zehn Gebote sind auch heute Regeln für ein gutes Zusammenleben. Als ich das anlässlich der Vorstellung des Bündnisses für Erziehung letztes Jahr vor der Bundespressekonferenz gesagt habe, kam bei den Journalisten Heiterkeit auf. Aber gerade im Miteinander so unterschiedlicher Menschen verschiedener kultureller Herkunft und Generationen in unserem Land setzen sie Maßstäbe. Und sie haben sich bewährt durch Jahrtausende hindurch. Das Christentum hat lange gebraucht, diese Rechte und Regeln für alle Menschen gleich geltend anzusehen: für Frauen und Männer, für Menschen aller Herkunft und Hautfarbe. Alle Menschen sind gleichermaßen Gottes Ebenbild, und diese Regeln gelten für sie alle.

So bin ich froh, dass zwei Drittel aller Menschen in unserem Land die Zehn Gebote als verbindlich ansehen. Wichtig wäre es, ihren Bekanntheitsgrad noch zu steigern, vor allem aber ihre Akzeptanz und den Mut zur Aneignung als Regeln für ein gutes Zusammenleben. Ich bin überzeugt, sie können uns helfen, in all den schwierigen ethischen Herausforderungen unserer Zeit von der Abtreibung bis zur Sterbehilfe, von der Folter bis zur globalisierten Wirtschaft, im persönlichen Leben wie in den Auseinandersetzungen der Welt, Standpunkte zu finden, die vor Gott und den Menschen verantwortet werden können.

Jesus hat die Zehn Gebote zusammengefasst im höchsten Gebot: Du sollst Gott über alle Dinge lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Dieser Grundwert der Nächstenliebe muss in unserer Gesellschaft wieder zu Tage treten. Nicht dass Sie mich falsch verstehen: die Leistungsträger sind wert zu schätzen (Max Weber). Was geteilt werden kann, muss erst erwirtschaftet werden. Meine Gaben soll ich einsetzen, einbringen. Aber eine Grundabsicherung der Schwachen im Land, der Kinder, der Alten, der Behinderten, Kranken und Arbeitslosen sollte selbstverständlich sein. Das christliche Menschenbild von der Würde jedes Einzelnen ist entscheidend. Wir glauben, weil Gott jeden Menschen ansieht, ist er eine angesehene Person. Diese Würde ist unverlierbar. Solche Ethik wird in europäischen Diskussionen von Asylfragen bis zur Sterbehilfe, von Diskriminierungsgesetzen bis zur Existenz landwirtschaftlicher Betriebe eine Rolle spielen.

3. Zukunft gestalten

Kritik und Gestaltung sind für Protestanten die angemessene Haltung gegenüber der Gesellschaft. Das könnte ich mir als gemeinsamen Ausgangspunkt für alle Kirchen in Europa vorstellen. Es geht darum, Prozesse kritisch zu begleiten, weder sich völlig anzupassen noch vollkommen abzuschotten. Kritik ist die Fähigkeit des Unterscheidens. Und Gestaltung bedeutet: wir lassen diese Welt nicht los, weil sie eben Gottes Welt ist. Europa beispielsweise kann doch nicht nur vom Geist des Euro und der Bürokratie geprägt werden. Europa braucht eine Seele! Und global gesehen: Wir brauchen nicht nur Weltpolitik und Weltwirtschaft, wir brauchen Weltethik!

Ein gemeinsamer Impuls der Kirchen wird nicht leicht zu verwirklichen sein. Jede unserer Kirchen ist nicht nur geprägt von ihrer Konfession und Tradition, sondern auch geprägt durch die Kultur, in der sie existiert. Die gemeinsamen Glaubensgrundlagen, das gemeinsame Menschenbild aber, muss in diese eine Welt eingebracht werden, denn es ist Gottes Welt, die uns anvertraut ist. Mir liegt daran, dass unsere Erfahrungen in Fragen von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung eingebracht werden in den Prozess der Globalisierung. Wir brauchen ethische Maßstäbe für unsere Welt, und ich bin überzeugt, dass das Christentum zu diesen Maßstäben beitragen kann. Einige Beispiele in zehn Punkten:

3.1 Immer mehr Menschen in Europa halten sich für von der Religion emanzipiert, und gleichzeitig boomt die Religion. Werbung ist voll von Religiosität und christlichen Bezügen. Wir haben die Aufgabe der Mission in Europa. Nicht in alten Kategorien, nein. Es geht darum, verständlich und glaubwürdig von Gott zu reden in Europa, eine Sprache zu finden für die Menschen unserer Zeit, die die biblischen Geschichten weitererzählen in unsere Zeit hinein. Christentum wie Judentum sind ja Erzählreligionen. „Wenn dein Kind dich morgen fragt...“ (5. Mose 6,20), dann sollst du erzählen von deinen Gotteserfahrungen, vom lebendigen Gott.

Bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates 1998 in Harare sagte ein Mann aus Simbabwe: „Das ist merkwürdig, dass ihr glaubt, ein Mensch kann ohne Religion sein. Religion hat hier jeder Mensch. Das ist nicht immer die christliche. Aber ohne Religion kann ein Mensch doch nicht leben.“ Ehrlich gesagt glaube ich, das gilt auch für Europa, nur: die Menschen haben neue Religionen gefunden. Da ist die Esoterik, da ist die Fernsehkultur als Religion, die Konsumgesellschaft, die zur Religion wird. Die allererste Herausforderung für Christinnen und Christen heute ist, relevant von Gott zu sprechen. Eine Sprachfähigkeit müssen wir finden, die in das säkularisierte Europa die Relevanz des Transzendenten hinein sagt. Heute von Jesus Christus so zu sprechen, dass es den Menschen unmittelbar trifft, das ist wohl die größte Herausforderung. Und da gibt es dann keine Differenz mehr zwischen evangelisch, katholisch und orthodox. Das ist die Herausforderung, die wir gemeinsam tragen.

3.2 Andere Religionen sind zu respektieren. Wenn Muslime Moscheen bauen werden, werde ich mich als Christin dafür einsetzen. Gleichzeitig aber werde ich die Forderung erheben, dass Christinnen und Christen in Pakistan, Afghanistan, der Türkei Kirchen bauen können und auch dort Glaubensfreiheit leben können. Gerade gegenüber dem Judentum haben die christlichen Kirchen Europas schwere Schuld auf sich geladen. Hier zu sagen: Wir haben gelernt. Wir sind Verwandte im Glauben. Wer euch angreift, greift uns an, das ist von entscheidender Bedeutung. Ich bin tatsächlich überzeugt, dass wir dringend den Dialog zwischen den Religionen verstärken müssen. Das wird aber wohl nur möglich, wenn wir in einen ehrlichen Dialog kommen. Da muss ich als Christin sagen können, dass Christus für mich der Weg, die Wahrheit und das Leben ist und eben nicht Allah, wie Mohammed ihn verstanden hat. Da müssen offene Fragen gestellt werden dürfen, beispielsweise nach der Rolle der Frau und nach der Scharia. Ein „Religionenmischmasch“ allerdings führt nicht weiter. Da schreibt eine junge Frau im Internetforum unserer Landeskirche: „Möge der, welcher unser Vater für die Christen, Jahwe für die Juden, Allah für die Mohammedaner, Buddha für die Buddhisten, Brahma für die Hindus, möge dieses allwissende Wesen ... den Menschen Frieden geben und unsere Herzen vereinen.“ Das ist ein im besten Sinne frommer Wunsch nach Frieden zwischen den Religionen und gerade in diesen Tagen verständlich. Aber er birgt die Gefahr der Religionsvermischung, die das Eigene nicht mehr kennt und so für den Dialog ja gerade nicht hilfreich ist, sondern eher Probleme verschärft.

3.3 Immer wieder geht es um die Frage, ob Gewalt ein Mittel zur Konfliktbewältigung sein kann. Nach biblischen und theologischen Maßstäben kann das meines Erachtens nicht begründet werden. Europa sollte gelernt haben aus der Gewalt, die – viel zu oft religiös legitimiert – hier getobt hat, von hier in andere Teile der Welt getragen wurde. Mir ist wichtig, dass Religion nicht missbraucht wird zur Konfliktverstärkung, sondern Faktor der Konfliktbewältigung wird. Das Christentum als Wahrzeichen der Gewaltfreiheit – da hätte die Ökumene ein Signal zu setzen! Die Ökumenische Dekade zur Überwindung der Gewalt, die im Jahr 2001 in Berlin eröffnet wurde, ist eine großartige Chance dazu. Dass im Irakkonflikt die Kirchen der Welt gemeinsam den Krieg verurteilt haben, scheint mir ein Fortschritt. Aufgabe der Kirchen ist es, zum Frieden zu rufen und nicht Kriege zu legitimieren.

3.4 Es geht um die Frage der Gerechtigkeit, der Solidarität der Starken mit den Schwachen, der Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Das sind Maßstäbe, die wir auch weltweit einzuklagen haben. Wie lange wurde dafür gekämpft, dass nicht Klasse, Geschlecht, Herkunft, ethnische Zugehörigkeit entscheiden. Der biblische Maßstab der Gerechtigkeit ist die Situation des schwächsten Gliedes der Gemeinschaft. Da gibt es einiges aufzuholen, in einer Zeit, die eher danach fragt, wie es dem DAX geht als nach dem Nachbarn, in der Alleinerziehende, Behinderte, Alte an den Rand gedrängt werden. Ja, das Thema Gerechtigkeit ist auf der Tagesordnung.

3.5 Und es geht um die Bewahrung der Schöpfung. Wir können nicht nur bebauen und herrschen, wir müssen bewahren für andere Generationen, die nach uns folgen. Die christliche Ethik bietet ein nachhaltiges Konzept ökologischen Wirtschaftens an. Das biblische Zeugnis bietet ethische Maßstäbe, die wir einzubringen haben. Wir sind Haushalterinnen und Haushalter, die Gott rechenschaftspflichtig sind.

3.6 Der Maßstab der Menschenwürde ist von den Kirchen gemeinsam in der Debatte stets herauszustellen. Gerade in Fragen der Gentechnologie ist die Menschenwürde von zentraler Bedeutung und ein elementarer Bestandteil der ethischen Diskussion. Immer wieder wird argumentiert, die Maßstäbe eines Landes (z.B. England) würden Druck auf andere Länder ausüben. Da haben die Kirchen durch ihre transnationalen Verbindungen Chancen!

3.7 Die Bewältigung der Vergangenheit ist ein christliches Thema – Erinnere dich, gedenke!, das sind immer wieder Aufforderungen in der Bibel. Das betrifft in Europa und vor allem in Deutschland 60 Jahre nach Kriegsende die Zeit des Nationalsozialismus, der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, den Antisemitismus und die Judenvernichtung, aber auch die Stalinzeit und die gesamte kommunistische Ära, den kalten Krieg. Aber ich denke auch an Ruanda, an den Sudan, an die Militärdiktaturen Lateinamerikas. Versöhnung in Gerechtigkeit – das ist Thema unserer Kirchen. Es geht darum, dass die Opfer gehört werden und die Täter dazu befreit, Schuld zu bekennen. Die christliche Tradition hat hierfür vieles anzubieten. Und sie könnte manches beitragen zum Zusammenwachsen in der globalisierten Welt.

3.8 Die Ökumene in Europa lebt vom Wissen, dass Menschen in allen Ländern und Völkern dieser Erde zu Gottes Welt gehören. Deshalb sind Flüchtlinge für Christinnen und Christen keine Schmarotzer, sondern biblisch gesehen Fremdlinge, die unsere Hausgenossen sein sollen und politisch gesehen Botschafter des weltweiten Elends. Und Menschen in anderen Ländern sind nicht überflüssige Menschen auf überflüssigen Kontinenten (Hinkelammert), sondern Geschöpfe Gottes mit der gleichen Würde wie jeder Mensch. Gerade die Kirchen können dazu beitragen, jeweils den Blick von außen zu schärfen. Das finde ich immer wieder das Faszinierende an unserem Glauben, unserer Kirche: sie existiert in allen Nationen der Erde. Das heißt, wir können einander als Schwestern und Brüder sehen über unsere kulturellen Unterschiede hinweg. In Christus ist nicht mehr Jude noch Grieche schreibt Paulus im Galaterbrief (3,28). Auf dieser Grundlage kann Fremdheit bestehen bleiben und doch Freundschaft wachsen. Wir können das Vaterunser in vielen Sprachen und doch miteinander beten, uns Gott anvertrauen in allen unseren Ängsten und Nöten. Das Evangelium beheimatet sich in verschiedenen Kulturen auf unterschiedliche Weise. Und vom Schöpfungsverständnis her können wir darüber hinaus gehen: weil jeder Mensch Gottes Ebenbild ist, kann ich im anderen Gott erkennen. Das verpflichtet mich dazu, für die Würde jedes anderen Menschen, egal wo er lebt, einzutreten.

3.9 Die Medien! Der Tsunami hat angeblich die Menschen näher zusammen gebracht. Aber hätten wir uns hierzulande dafür interessiert, wären nicht so viele Opfer Touristen gewesen? Welche Macht geben wir den Medien, den Bildern? Und wie ist es um die Wahrheit bestellt? Die Kirchen in Europa haben für den Wert der Wahrheit einzutreten.

3.10 Und schließlich die Frauen. Sie werden weiterhin weltweit erniedrigt. Zwangsprostituierte werden auch in Europa gehandelt, Frauen sind Ware. Mit Frauenhandel wird heute mehr Geld verdient als mit Drogenhandel. Die Kirchen haben am biblischen Zeugnis neu gelernt: in Christus gibt es keine Differenz oder Abstufung, deshalb werden sie weltweit für die Rechte und die Würde der Frauen entschieden eintreten.

Kirche sein in Europa im 21. Jahrhundert bedeutet für mich: Untereinander gesprächsfähig sein, Kontakte und Partnerschaften pflegen, einander zuhören und voneinander lernen. Wir werden lernen, dass wir in die eine Kirche Jesu Christi hinein taufen. Mir ist es wichtig, dass die Kirchen nach außen und gemeinsam klare ethische Maßstäbe einbringen. Unsere innerkirchlichen Differenzen sind für die Welt vollkommen uninteressant. Die Kontinentalen Räte der Kirchen und der Ökumenische Rat der Kirchen dürfen nicht nur Treffpunkte sein, sondern Orte, an denen die christliche Stimme über nationale Grenzen hinweg artikuliert wird.

Allzu oft haben die Kirchen kooperiert, wenn ethnische oder politische Auseinandersetzungen unendliches Leid über Menschen brachten - in der Zeit der Kreuzzüge, des Kolonialismus und Imperialismus, der Weltkriege, der Diktaturen und Bürgerkriege. Könnte nicht das neue Jahrhundert ein Neubeginn sein, den die Ökumene mitgestaltet? Sie mögen mich für naiv halten, aber ich habe Hoffnung für die Ökumene und auf energische Impulse unserer Kirchen im Zeitalter der Globalisierung. Es geht um neue, menschengerechte Maßstäbe.

Nun, ich werde evangelisch-lutherisch bleiben. Das sola fide, sola gratia, solus Christus sind tief in mir verwurzelt. Mir sind alle Heiligkeiten bei Menschen fremd, Heiligenverehrung schon gar und Ablassfragen ohnehin. Für mich ist jeder Christ, jede Christin Stellvertreter oder Stellvertreterin Gottes auf Erden. Aber ich sehe: uns verbindet mehr als uns trennt. Wir glauben, dass Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist. Ich kann von Katholiken lernen in Fragen der Sinnlichkeit, der Spiritualität und von Orthodoxen in Feierlichkeit der Liturgie. Ich denke, sie können vom Protestantismus die Schärfe des Verstandes und die Verantwortung des Einzelgewissens als Ansätze spannend finden. Wir werden verschieden bleiben. Wir sind so vielfältig wie die ersten Jüngerinnen und Jünger von Susanna bis Petrus, von Paulus bis Lydia. Europa aber muss heute den Willen entwickeln, miteinander zu teilen, die gemeinsamen Wertevorstellungen zu vertreten in der einen Welt, in der wir leben. Dass Gottes Geist die Kirchen mit der Kraft erfüllt, diesen Prozess gemeinsam mitzugestalten, darauf vertraue ich.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.