Predigt zum 75jährigen Jubiläum der Barmer Theologischen Erklärung im Berliner Dom vom Vorsitzenden der Vollkonferenz der Union Evangelischer Kirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (UEK)

Ulrich Fischer

Zuvor Lesung aus Apg 2,1ff und Glaubensbekenntnis mit Worten der Theologischen Erklärung von Barmen 1934

Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

Tausende strömten an einem Ort zusammen - ich rede nicht von Jerusalem, ich rede von Wuppertal. Ein solches Dialektgewirr wurde noch nie gehört - ich rede nicht von Babel, ich rede von Barmen. „Es ist ein Wunder vor unseren Augen“, ich kommentiere nicht das erste Pfingstfest der Gemeinde von Jerusalem, sondern die Bekenntnissynode von Barmen im Jahr 1934.

Wir feiern heute das Pfingstfest. Wir erinnern uns jenes ersten Pfingstfestes der Christenheit, von dem wir in der Schriftlesung aus der Apostelgeschichte hörten. Zugleich gedenken wir eines Ereignisses, das wie kein anderes in der Geschichte des Protestantismus als ein pfingstliches Geschehen begriffen werden muss: Vom 29.-31. Mai 1934 kamen zunächst etwa 300 Menschen zur ersten Synode der Bekennenden Kirche in Wuppertal-Barmen zusammen. An diese Bekenntnissynode schloss sich ein „Gemeindetag unter dem Wort“ an, zu dem 15.000 - 20.000 Menschen aus allen Gegenden Deutschlands zu einer machtvollen Demonstration des Glaubens in Wuppertal zusammenfanden. Seit der Reformation war es zum ersten Mal, dass die Evangelischen in Deutschland auf dem Boden ihres gemeinsamen Erbes von „Schrift und Bekenntnis“ zu einer Synode zusammenkamen und ein bekennendes Wort sagten, von dem sie überzeugt waren, dass Gott es ihnen in den Mund gelegt hatte.

Wie konnte dies geschehen? Die Partei der „Deutschen Christen“ hatte mit ihrer nationalsozialistischen Ideologie die Grundlagen der evangelischen Kirche in fundamentaler Weise in Frage gestellt. Sie wollte Adolf Hitler als quasi messianische Gestalt bezeugen, sein Wirken als Quelle göttlicher Offenbarung deuten. Das Führerprinzip sollte in der Kirche Einzug halten, Jesus Christus als alleiniger Herr der Kirche relativiert werden. Die Gestalt der evangelischen Kirche als Reichskirche sollte ganz dem nationalsozialistischen Staat angepasst werden. Der nationalsozialistische Staat sollte als umfassende Ordnung des Lebens anerkannt und ein artgemäßes, arisches Christentum etabliert werden.

In dieser Situation höchster Not und Anfechtung drohte die Zerstörung evangelischen Bekenntnisses und damit der evangelischen Kirchen in Deutschland. Dem galt es im Glauben einmütig zu widerstehen. Deshalb wurde zu einer Bekenntnissynode nach Wuppertal-Barmen geladen. Die in Barmen Versammelten waren zutiefst davon überzeugt, dass sie sich zum gemeinsamen Bekennen verbinden mussten, wenn sie denn ihren jeweiligen Bekenntnissen treu bleiben wollten.

Im Hören auf das Wort Christi in einer bedrängenden Situation ein mutiges Bekenntnis wagen – darum ging es in Barmen. Dieser Absicht entspricht es, wenn die Bekenntnissynode jeder ihrer sechs Thesen Bibelworte vorangestellt hat. Damit wird der unlösbare Zusammenhang von Bibel und Bekenntnis, vom Hören auf das Wort Gottes und dem aktuellen Bekennen deutlich. Dass jenes gemeinsame Hören auf das Wort und dieses gemeinsame Bekennen vor 75 Jahren in Barmen gelang, das wurde schon damals als ein Pfingstwunder verstanden. Dass sich Menschen verschiedener konfessioneller Dialekte - Lutheraner, Reformierte und Unierte - einander verstanden und einen Akt gemeinsamen Bekennens wagten, das wurde damals schon als ein Geschehen gedeutet, das aus menschlichem Bemühen allein nicht erklärbar ist, als ein Wirken des Heiligen Geistes. Die in Barmen Versammelten erfuhren, dass Gottes pfingstlicher Geist an ihnen und durch sie zu wirken begann, als sie in ihrer Bedrängnis um Verständigung untereinander rangen und miteinander auf ein einmütiges kirchliches Wort hinarbeiteten. Fast ohne es zu merken, wurde eine ganze Kirchenversammlung von einem prophetischen Geist erfasst. Sie hörten einander jeweils „in ihrer eigenen Sprache reden“: Im Bekenntnis von Barmen erkannten Lutheraner das lutherische Bekenntnis, Reformierte ihr reformiertes, und Unierte das gemeinsam reformatorische Bekenntnis. Und in ihrem eigenen Hören, Beten und Bekennen erkannten sie alle neu die Stimme Jesu Christi, die „Muttersprache“ der Kirche aus allen Völkern.

Wie damals beim ersten Pfingstfest der Urgemeinde von Jerusalem gelangten im Mai 1934 Menschen durch das Geschenk des Heiligen Geistes zu einem gemeinsamen Hören und Verstehen des Wortes Gottes. Beide Male, beim Pfingstfest von Jerusalem wie beim Pfingstereignis von Barmen, erlebten sich Menschen als eine bekennende Gemeinde, obwohl sie unterschiedliche Dialekte des Glaubens und der jeweiligen regionalen Herkunft sprachen. Ein Wunder vor unseren Augen. Das Pfingstwunder von Barmen!

Wenn wir heute am Pfingstfest des Jahres 2009 jenes pfingstlichen Ereignisses vor 75 Jahren gedenken, dann dürfen wir es aber nicht in falscher Weise glorifizieren. Vergessen wir nicht die dunkle Seite von Barmen, nämlich das Schweigen zur Judenfrage. Kein Wort der Solidarität mit den entrechteten Juden finden wir in dieser Theologischen Erklärung. Und wie nötig wäre ein solches Wort damals schon gewesen angesichts des Boykotts jüdischer Geschäfte und angesichts der einsetzenden Verfolgung jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Auch im Blick auf die Bekenntnissynode von Barmen gilt das Verdikt Dietrich Bonhoeffers: „Nur wer für die Juden schreit, hat das Recht gregorianisch zu singen.“ Mit dem Schweigen zur Judenfrage liegt ein Schatten über dem Pfingstwunder von Barmen.

Auch wäre es verkehrt, die Theologische Erklärung von Barmen lediglich als ein Beispiel der Kirchengeschichte aus der Distanz heraus mit Ehrfurcht zu betrachten – wie ein wertvolles Museumsstück. Die Barmer Theologische Erklärung ist nicht nur ein Zeugnis der Vergangenheit. Sie ist vielmehr ein Wort, das uns bis heute eine bleibende Verpflichtung aufzeigt. Sie hat nicht nur die damalige Lage der Deutschen Evangelischen Kirche geklärt, sondern auch für den weiteren Weg unserer Kirche wie vieler anderer Kirchen in der Welt wegweisende Bedeutung entfaltet.

So war diese Theologische Erklärung von grundlegender Bedeutung für das Zusammenwachsen von lutherischen, reformierten und unierten Landeskirchen in der einen Evangelischen Kirche in Deutschland. Bei der Gründung der EKD nach dem 2. Weltkrieg war es noch nicht möglich, miteinander Abendmahl zu feiern. Heute besteht zwischen allen Gliedkirchen der EKD eine uneingeschränkte Abendmahlsgemeinschaft. Das haben wir auch dem - alte Konfessionsgrenzen überwindenden - Bekenntnisakt von Barmen zu verdanken. Auf der Basis der Barmer Theologischen Erklärung konnte es in den 50er Jahren gelingen, innerprotestantische Verwerfungen in der Abendmahlsfrage zu überwinden und damit auch den Weg zur Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa zu ebnen.

Und dann vergessen wir nicht, welch große Bedeutung die Barmer Theologische Erklärung für den Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung erlangte. Wenn ich nur an den Bekenntnis gebundenen Protest der Friedensbewegung der 80er Jahre gegen Herstellung, Besitz und Anwendung atomarer Massenvernichtungswaffen denke. Dieser Protest war ganz wesentlich von dem Gedanken gespeist, dass Jesus Christus Anspruch auf unser ganzes Leben erhebt - auch auf unser friedenspolitisches Handeln. Und schließlich hat die Freiheitsbotschaft von Barmen ganz gewiss auch den protestantischen Anteil an der friedlichen Revolution des Jahres 1989 geprägt, wie sie überhaupt für die evangelische Kirche in der DDR in Zeiten der Bedrängnis durch den sozialistischen Staat ermutigend und stärkend war.

Wie aktuell die Aussagen von Barmen bis heute sind, spüren wir, wenn wir wahrnehmen, wie die Welt der Wirtschaft im Begriff ist, immer stärker in totaler Weise unser Leben zu bestimmen. Gegen die völlige Durchökonomisierung der Welt und gegen die Vorstellung von der Eigengesetzlichkeit wirtschaftlichen Handelns nötigt Barmen zu der Frage, welchen ethischen Bindungen auch wirtschaftliches Handeln unterworfen sein muss, wenn es denn dem Wohl der Menschen dienen soll. Einer Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen Lebens muss von Barmen her ebenso widersprochen werden wie der Eigengesetzlichkeit jeden Bereichs gesellschaftlichen Lebens. Auch Wissenschaft und Forschung dürfen nicht eigenen Gesetzen folgen, sondern bedürfen einer ethischen Orientierung. Für eine solche ethische Orientierung kann für die Kirche wie für jeden Christenmenschen nur Jesus Christus alleiniger Maßstab sein.

Diese Aktualität kann die Theologische Erklärung von Barmen auch 75 Jahre nach ihrer Abfassung noch entfalten, weil sie sich ganz darauf konzentriert, den Grund der Kirche in den Blick zu nehmen. Als wir vorhin Teile aus der Theologischen Erklärung als Glaubensbekenntnis sprachen, haben Sie gemerkt, dass fünf der sechs Bibelworte auf Jesus Christus verweisen und dass in den nachfolgenden Thesen immer wieder Jesus Christus als Grund der Kirche in den Blick genommen wird. Er ist „der Weg, die Wahrheit und das Leben“. Er ist die „Tür zum Leben“. Er ist das eine Wort Gottes, „das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben.“ Er ist der eine Herr der Kirche, der „Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden“ und zugleich „Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben“ ist und durch den uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt widerfährt.

Von Jesus Christus als dem alleinigen Grund der Kirche her haben die Menschen in Barmen ihr Bekenntnis gewagt. Von diesem Grund her haben auch wir heute die Maßstäbe für die Gestaltung der Kirche zu gewinnen. Die Gestalt der Kirche leitet sich allein von ihrem Grund her ab. Der Grund der Kirche ist unverfügbar, eine Gestalt der Kirche zu finden, die ihm gemäß ist, das ist unsere Aufgabe. Immer wieder haben wir danach zu fragen, wie wir eine Kirche als Gemeinde von Brüdern und Schwestern gestalten können, „in der Jesus Christus in Wort uns Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt“. Barmen hat uns unübertroffen klar ins Stammbuch geschrieben: Die Gestaltung der Kirche muss ihrem innersten Wesen entsprechen. Grund und Gestalt der Kirche dürfen nicht voneinander getrennt werden. Von der Kirche kann nur richtig geredet werden, wenn zunächst von Jesus Christus geredet wird. Der Kirche darf es nie in erster Linie um ihre Selbsterhaltung gehen, sondern immer vorrangig und zuerst um die Bezeugung ihres Grundes, um das Zeugnis von Jesus Christus.

Aus dem Rückbezug auf Jesus Christus, ihren Grund, haben die vor 75 Jahren in Barmen Versammelten der von der Hitlerdiktatur bedrohten Kirche Freiheit von allen gottlosen Bindungen verschafft. Mit diesem Bekenntnis verzichtete die Bekennende Kirche auf gesellschaftliche Anerkennung im Hitlerstaat, aber sie wurde damit zugleich zu einer Kirche der Freiheit. Indem die Kirche immer wieder von sich selbst weg- und auf Jesus Christus hinweist, wird sie eine Weg weisende Kirche. Keine abweisende. Eine von sich weg auf Christus hinweisende und darin gerade freie Kirche. Eine Kirche der Freiheit, die befreit ist auch von der Bindung an sich selbst. Als eine solche Kirche der Freiheit bewahren wir am besten das Erbe von Barmen.

Verbum Dei manet in aeternum – Des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit. Amen.