„Die Welt im Licht der Gnade - Der missionarische Auftrag unserer Kirche im 21. Jahrhundert“ – Vortrag in der St. Matthäus-Kirche, Berlin

Wolfgang Huber

„Mission Impossible“ heißt ein Agententhriller aus dem Jahr 1996, der so erfolgreich war, dass es inzwischen bereits zwei Nachfolgefilme gab: „Mission impossible“ II und III. Der Film handelt von einem unmöglichen Auftrag. Sein Titel klingt in christlichen Ohren nachdenkenswert, weil er die Frage aufwirft, ob nicht vielleicht auch Mission ein unmögliches Vorhaben sei, ein überholtes Konzept, ein Vorgehen von gestern, kontaminiert mit einer kolonialistischen Vergangenheit, unvereinbar mit einer multireligiösen Situation, in welcher der Absolutheitsanspruch einer Religion keinen Ort mehr haben kann. Mission impossible – Toleranz statt Mission. So kann man es an vielen Orten hören.

„Gehet hin und lehret alle Heiden und taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!“ So, mit diesem provozierenden Wort Heiden wird der Schluss des Matthäusevangeliums am Giebel des alten Berliner Missionshauses zitiert, das nun einen Teil des Evangelischen Zentrums am Berliner Volkspark Friedrichshain bildet. Der Auftrag zur Heidenmission schmückte dieses Haus, in dem seit dem 19. Jahrhundert Missionare ausgebildet wurden; von hier aus wurden sie dann vor allem nach Afrika entsandt; die Berliner Droschkenkutscher gaben dem Haus deshalb den liebevollen Spitznamen „Apostelfabrik“. Nun ist das Haus ein Teil der kirchlichen Präsenz in der Stadt Berlin, einer Stadt, in der nicht nur die Christen, sondern die religiös Gebundenen insgesamt eine Minderheit bilden. Ganz besonders gilt das für östliche Bezirke wie Friedrichshain; die Anwohner, wenn sie denn auf den vergoldeten Schriftzug achten, werden sich unwillkürlich die Frage stellen, ob sie vielleicht selbst mit den „Heiden“ gemeint sind und welche Lehre ihnen wohl erteilt werden soll. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der kirchlichen Verwaltung aber haben sich an den Schriftzug wahrscheinlich gewöhnt. Ich habe noch nicht gewagt, sie zu fragen, ob sie denn im Kopf haben, welches Bibelwort über dem Eingang zu einem der drei Häuser des Evangelischen Zentrums steht.

„Der Auftrag der Kirche, in welchem ihre Freiheit gründet, besteht darin, an Christi Statt und also im Dienst seines eigenen Wortes und Werkes durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk.“ So heißt die sechste These der Barmer Theologischen Erklärung vom 31. Mai 1934, die am Pfingstsonntag dieses Jahres 75 Jahre alt wird. Ein weittragender Satz: Die Freiheit der Kirche gründet nicht in ihren institutionellen Sicherungen, sondern in ihrem Auftrag. Dass sie sich als Volkskirche versteht, hat seinen Grund nicht darin, dass sie das ganze Volk durch Kindertaufe und Kirchensteuer sicher an sich gebunden hat, sondern dass sie diesem ganzen Volk die Botschaft von Gottes freier Gnade bringen soll. So verstanden vermag eine evangelische Kirche Volkskirche zu sein unabhängig davon, ob sie sich in einer Mehrheits- oder in einer Minderheitssituation befindet. Und auch der missionarische Auftrag gilt im einen wie im anderen Fall.

Gerade angesichts des bemerkenswerten Jubiläumsdatums der Barmer Theologischen Erklärung will ich im Folgenden den missionarischen Auftrag unserer Kirche bedenken. Das soll in vier Schritten geschehen: Theologische Grundlegung; Konturen einer missionarischen Kirche; zur Gestaltung der Mission; Sendung.

1. Theologische Grundlegung

Die entscheidende Voraussetzung der Mission liegt darin, dass die Welt – wohlgemerkt: nicht nur die Kirche, sondern die ganze Welt – bereits im Licht der Gnade existiert. Die Nacht ist im Schwinden, und zwar deshalb, weil ein neuer, nun nicht mehr endender Tag unwiderruflich im Kommen ist. Dieser Tag, auf den keine Nacht mehr folgt, ist deshalb unwiderruflich im Kommen, weil (so formuliert es das Johannesevangelium) in der Person Jesu Christi „das Licht der Welt“ (Joh 8,12; 9,5) zu uns gekommen ist: das wahre Licht, das Licht das Leben schenkt.

Dieses Licht ist da. Es bringt die Nacht zum Schwinden, und zwar ohne dass ein Mensch dabei mitwirkt – so wie ja auch im natürlichen Rhythmus der Welt der Tag ohne unsere Mitwirkung der Nacht ein Ende macht.

Wenn die Sonne aufgeht, dann geht sie über Guten und Bösen, also über allen auf. Dabei ist es durchaus anregend, dass im Johannesevangelium in strenger Analogie zu der allen Menschen aufgehenden Sonne Jesus Christus das nicht nur den Glaubenden, sondern allen Menschen leuchtende Licht ist: „Er ist das wahrhaftige Licht, das jedem Menschen leuchtet“ (Joh 1,9).

Das ist der souveräne Indikativ des Evangeliums: dass die ganze Welt bereits im Licht der Gnade Gottes existiert. Ist dieses Licht schon da, dann ist es für alle da. Bricht der Tag schon an, dann bricht er für alle an. In Jesus Christus spricht Gott so zu allen Völkern, zur ganzen Welt, zu den Glaubenden und zu den Nicht-Glaubenden. Das Licht des Lebens ist da, es ist für alle da. Es ist also nicht so, dass unsere missionarische Tätigkeit das Licht des Lebens allererst erzeugt. Sie hat nur eben auf das schon scheinende Licht hinzuweisen, es anzuzeigen. Eine bedrängende, eine bezwingende Missionsart verbieten sich damit ganz von selbst. Der Apostel Paulus wendet sich als Bittender an die Welt, wenn er sie auf den Indikativ, also die Zusage des Evangeliums anspricht. Wer bittet, der geht nicht grob, nicht den anderen gering schätzend vor. Viel Takt, viel weltlicher und geistlicher Takt ist erforderlich, wenn Mission gelingen soll.

Erst von diesem mit der Geschichte Jesu Christi identischen souveränen Indikativ des Evangeliums her werden dann auch die Imperative verständlich, die die Glaubenden auffordern, nun ihrerseits zu leben und tätig zu werden, eben als „Kinder des Lichtes“.

„Doch zwischen diese ethischen Imperative und jenen souveränen Indikativ schiebt sich sozusagen ein Zwischenglied, in dem Indikativ und Imperativ ganz dicht beieinander sind. Und in diesem Zwischenglied zwischen jenem souveränen Indikativ des Evangeliums einerseits und den unsere Aktivitäten herausfordernden Imperativen andererseits hat das, was zu Recht Mission genannt zu werden verdient, seinen theologischen Sitz im Leben.“ (Eberhard Jüngel, EKD-Synode Leipzig 1999)

Das heißt, dass die Glaubenden nun ihrerseits einfach dadurch, dass sie als Glaubende da sind, wie Lichter leuchten. In ihnen leuchtet bereits das, was dann den anderen Menschen noch  zu verkündigen ist. In ihrem Dasein, in ihrem Leben im Licht bezeugen sie das Evangelium und dies Evangelium soll nun auch eigens allen bekannt gemacht werden.

Das ist die Ortsbestimmung christlicher Mission, einer Mission, die unabhängig von der Frage ist, ob die Kirche in einer bestimmten Gesellschaft die Mehrheit oder die Minderheit bildet, ob sie mit anderen christlichen Kirchen oder mit Anhängern anderer Religionen zusammen lebt, oder ob sie von glaubensentwöhnten und kirchenungeübten Menschen umgehen ist. Denn im einen wie im andern Fall muss die neue Wirklichkeit verkündigt werden, weil der unwiderruflich kommende Tag erst im Anbrechen ist, so dass man noch die Augen davor verschließen kann, obwohl die Nacht schon im Schwinden ist. Die Verkündigung soll der selbstverschuldeten Unfähigkeit, die Augen zu öffnen, ein Ende machen. Ja, die ungläubige Welt ist trotz des Beginns des Tages noch immer in die Nacht verliebt. Ihr müssen die Augen geöffnet werden für das, was kommt. Es geht also darum, dass aus Nichtsehenden Sehende werden.

Die Augen sollen allerdings mit Hilfe von menschlichen Worten geöffnet werden - so wie ja auch eine Mutter ihrem Kind eigens sagen kann: sieh – sieh, wie schön! oder: sieh genau hin! Die Sprache kommt den Augen zu Hilfe. Deshalb endet das Matthäusevangelium (28,19f.) mit der Sendung der Jünger, die allen Völkern durch ihre Worte die Augen öffnen und sie auf diese Weise ebenfalls zu Jüngern machen und taufen sollen auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes. Und sodann sollen die, die schon Jünger sind, die anderen, die Jünger werden, alles zu halten lehren, was Christus geboten hat. Nicht nur für das, was Gott schon, und zwar ganz allein getan hat, sondern auch für das, was von uns zu tun ist, müssen der Menschheit offensichtlich erst die Augen geöffnet werden.

Dass der Auftrag zur Mission von dem ausgeht, der von sich selber sagt "Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden" (Mt 28,18), macht deutlich, dass dieser Auftrag eine unerhörte Auszeichnung ist. Denn der, dem alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist, ist auf menschliche Mitwirkung ja nicht angewiesen. Er könnte unmittelbar wirken, sozusagen "senkrecht von oben". Will er aber, dass Menschen anderen Menschen bezeugen, wer er ist, dann ist das eine unerhörte Würdigung, eine Auszeichnung des Christen: wir werden dessen gewürdigt, Mitarbeiter Gottes zu sein (1 Kor 3,9).

Die Möglichkeit zu solcher Mitarbeit beruht darauf, dass Gott in Jesus Christus mit uns Menschen zusammenkommen, zusammensein und zusammenleben will. Wo dieser göttliche Wille sich vollzieht, wo er sich erfüllt, da entsteht Kirche. Doch die Kirche hat, indem sie entsteht, nun ihrerseits alle Welt sehen zu lassen, dass Gott mit allen Menschen zusammenkommen, zusammensein und zusammenleben will. Darum geht es also in der  Mission: nämlich der Welt zu verstehen zu geben, dass Gott mit ihr zusammenkommen, mit ihr zusammensein und zusammenleben will.

2. Auf dem Weg zu einer missionarischen Kirche

Wer dächte da nicht zurück an Leipzig 1999, jene EKD-Synode, die mehr Wirkung gezeigt hat, als wahrscheinlich die Synodalen damals selbst erwartet haben. Mit dieser Synode ist eine Erneuerung des missionarischen Bewusstseins im eigenen Land  verbunden. Freilich ist Leipzig ’99 nicht allein der Auslöser dieser Erneuerung gewesen, wohl aber ein hochwirksamer Katalysator. Es deutete sich in den 90er Jahren schon an, auch hier in unserer Landeskirche, aber mit Leipzig ’99 bekam es ein Symbol: das neue Bewusstsein, wie dringend und wichtig die werbende Verkündigung und der Wille zum Wachstum für die Kirche im 21. Jahrhundert sind. Leipzig 1999 hält fest, dass eine Kirche, die nicht missioniert, krank, und zwar herzkrank ist.

Eberhard Jüngel brachte es auf den Punkt: „Wenn die Kirche ein Herz hätte, ein Herz, das noch schlägt, dann würden Evangelisation und Mission den Rhythmus des Herzens der Kirche in hohem Maße bestimmen. Und Defizite bei der missionarischen Tätigkeit der christlichen Kirche, Mängel beim Evangelisieren, würden sofort zu schweren Herzrhythmusstörungen führen. Der Kreislauf des kirchlichen Lebens würde hypotonisch werden. Wer an einem gesunden Kreislauf des kirchlichen Lebens interessiert ist, muss deshalb auch an Mission und Evangelisation interessiert sein. […] Wenn Mission und Evangelisation nicht Sache der ganzen Kirche ist oder wieder wird, dann ist etwas mit dem Herzschlag der Kirche nicht in Ordnung.“

In der Kundgebung der Leipziger Synode wurden dann vier inhaltliche Bestimmungen vorgenommen, die für Mission und Evangelisation als Sache der ganzen Kirche gelten sollen. Weil sie eine kleine Theologie der Mission darstellen, möchte ich an sie erinnern:

1. Mission ist zuerst bestimmt durch das Evangelium: „Gott hat uns eine Botschaft anvertraut, die die Mühseligen und Beladenen erquickt und die Starken davor bewahrt, sich von Leistung und Erfolg ein erfülltes Leben zu versprechen. Diese Botschaft wollen wir weitersagen, mit dieser Botschaft werden wir gebraucht.“

2. Mission hat ein von Gott gesetztes Ziel: Sie will Menschen gewinnen, sie sucht ohne Druck nach freier Zustimmung von Menschen, damit sie getauft werden, zum Glauben finden und Glieder der christlichen Kirche werden. Von dieser Konversion spricht die zweite inhaltliche Bestimmung: „Gott will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Wir müssen die Ziele, die wir uns bei unserem missionarischen Handeln setzen, am Willen Gottes messen.“

3. Mission geschieht in einer schwierigen Zeit und an einem Ort, an dem Traditionen zerbrochen sind und Säkularisierung Einzug gehalten hat. Davon lässt sich die missionierende Kirche nicht irritieren, denn: „Gott hat uns nicht den Geist der Furcht gegeben, sondern den Geist der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Darum nehmen wir die Situation, in der wir uns heute befinden, und die Schwierigkeiten, die damit gegeben sind, nüchtern in den Blick.“

4. Mission lebt nicht von wenigen, machtvollen Rednern, die bei Gelegenheit missionieren, sondern vom stetigen Zeugnis der vielen, höchst unterschiedlich begabten Christenmenschen. Anders gesagt: Mission ist Sache der Gemeinde wie des einzelnen Christenmenschen in Familie und Beruf. Damit sind auch Evangelisation und Gemeindeaufbau miteinander verknüpft.

Kurzum: In Leipzig 1999 bekannte sich die evangelische Kirche in Deutschland zu ihrem missionarischen Mandat in unserem Land. Und: dieses Mandat wird gekennzeichnet durch die Botschaft, die uns anvertraut ist, durch das von Gott gesetzte Ziel, Menschen liebevoll zu gewinnen, durch die Wahrnehmung unserer Mitwelt und durch die Vielfalt der Gaben und Möglichkeiten in der Gemeinde.

Seither sind Themen wie wachsende Kirche, missionarische Gemeindeentwicklung oder Mission im eigenen Lande nicht mehr von der kirchlichen Tagesordnung wegzudenken. In Berlin-Brandenburg will man schon seit 1998 „Wachsen gegen den Trend“. Die EKD überlegte 2001, wie man „Das Evangelium unter die Leute bringen“ kann. Die Württembergische Kirche widmet sich seit 2004 der Frage, wie sie eine „Wachsende Kirche“ werden kann. Im Rheinland will man „Vom offenen Himmel erzählen“ und unterwegs sein zu einer missionarischen Volkskirche. Und so fort.

Einen weiteren nachhaltigen Impuls auf diesem Weg zu einer missionarischen Kirche brachte das EKD-Perspektivpapier unter dem Titel „Kirche der Freiheit“ im Jahr 2006. Der Ton dieser Studie ist etwas anders: Wir werden eingestimmt auf den notwendigen Wandel. Ausgangspunkt ist die ernüchternde Analyse: Unsere Kirche kann nicht weitermachen wie bisher. Bis 2030 droht uns massive Schrumpfung: ein Drittel weniger Mitglieder und das heißt: 50% weniger Geld. Machen wir einfach so weiter, dann wird die Lage bedrohlich. Der durch „Kirche der Freiheit“ angestoßene EKD-weite Reformprozess ermutigt, uns dem Wandel zu stellen. Und zwar in vierfacher Richtung:

1. Geistliche Profilierung soll an die Stelle undeutlicher Aktivitäten treten. Wie bei Nutella soll evangelisch drin sein, wo evangelisch draufsteht.

2. Schwerpunkte sollen gesetzt werden, weil wir nicht mehr alles Wünschenswerte tun können.

3. Wir sollen uns nicht an alten Strukturen festklammern, sondern beweglich werden in den Formen, in denen sich Kirche organisiert.

4. Und wir sollen uns nach außen orientieren und nicht selbstgenügsam den Fremden und die Welt vergessen.

In zwölf Leuchtfeuern werden konkrete Ziele für diesen Wandlungsprozess markiert. Wachstum ist dabei eine Art Gesamtziel, denn „eine … evangelische Kirche, die ihres Grundes gewiss ist, die mit dem Evangelium die Menschen erreichen und insofern wachsen will und die sich um stabile Strukturen bemüht“, wird auch am ehesten in der Lage sein, die gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen, die sich aus dem Evangelium ergibt.

Der Prozess des missionarischen Aufbruchs in der EKD ist vorangekommen, und gerade in den letzten Monaten konnten einige wegweisende Projekte für die Evangelische Kirche auf den Weg gebracht werden:

- Ein Kompetenzzentrum zur Förderung von abgestimmten Gemeindeentwicklungs- und Missionskonzepten in der Region nimmt die Arbeit auf.

- Die Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste arbeitet an der EKD-weiten Verbreitung von Glaubensgrundkursen.

- Innovative missionarische Projekte werden in Internetforen und durch Förderpreise bekannt gemacht und geben Anregung zu weiterem missionarischem Aufbruch.

In der Tat, wir sind auf dem Weg zu einer missionarischen Kirche - und dieser Weg muss fortgesetzt werden!

Aber wir haben es zugleich mit mancherlei Hindernissen zu tun, die sich auf diesem Weg auftürmen. Dabei interessieren mich nicht so sehr die Hindernisse äußerlicher Art, die mit einem Mangel an Mitteln oder einem Mangel an Aufnahmebereitschaft für Zeugnis und Dienst der Kirche zu tun haben. Mehr beschäftigen mich die inneren Hemmnisse, die ich vor allem in zweierlei sehe: einerseits in einer Vorliebe für die Beschäftigung mit sich selbst – und andererseits in einem noch immer nicht ausgeräumten Vorbehalt gegen die Aufgabe der Mission.

Da ist zum einen die Vorliebe für die Beschäftigung mit sich selbst. Unsere Gemeinden bewegen sich vorzugsweise im eigenen Milieu. Sie fragen danach, wie Gottesdienste gestaltet sein müssen, die denen gefallen, denen der Gottesdienst ohnehin vertraut ist. Sie bemühen sich um gemeindliche Veranstaltungen, die denen gerecht werden, die ohnehin kommen. Sie richten sich an ein tendenziell enger werdendes Milieu. Solche Milieuorientierungen gibt es auch im Umkreis von Veranstaltungsformen, die bewusst evangelistisch oder missionarisch ausgerichtet sind. Das Ergebnis zeigt sich dann oft auch in der besonderen Struktur der Teilnehmerschaft an den entsprechenden Veranstaltungen. Zur missionarischen Existenz der Kirche gehört jedoch beides: die Bereitschaft, an bekannte Erwartungen anzuknüpfen, aber auch die Entschlossenheit, Milieugrenzen zu überschreiten.

Ich habe heute wieder einen erheblichen Teil des Tages in Brandenburg zugebracht, einem in erheblichem Umfang entkirchlichten Land. Drei Ansätze, Milieugrenzen zu überschreiten, sind mir dabei besonders entgegengetreten. Der erste hat damit zu tun, den uns überkommenen Schatz der Kirchengebäude als Ansatzpunkt zu nutzen, um Menschen zu beteiligen – zum Beispiel im gemeinsamen Engagement dafür, ein Kirchengebäude zu erhalten und für interessierte Menschen zu öffnen. Wenn solche Aktivitäten als Ansatzpunkte dazu genutzt werden, das Evangelium selbst zu bezeugen und Menschen aus ihrer Glaubensferne herauszulocken, haben solche Aktivitäten einen besonders hohen Wert.

Als zweiten Ansatzpunkt nenne ich die Bildungsaktivitäten unserer Kirche. Evangelische Kindertagesstätten, Christenlehre und konfirmierendes Handeln, Religionsunterricht und evangelische Schulen haben eine Schlüsselbedeutung dafür, eine neue Aufmerksamkeit für die lebensorientierende und kulturprägende Bedeutung unseres Glaubens zu wecken.

Schließlich ist die diakonische Präsenz im Gemeinwesen zu nennen. Ein „Gesundheitsladen“ in einem sozial prekären Wohngebiet, „Laib und Seele“ als regelmäßiges gemeindliches Angebot, der Trödelladen einer Stadtmissionsgemeinde als Ort beiläufiger Seelsorge: an solchen Orten vollzieht sich oft eine indirekte Mission, die der direkten Mission den Boden bereiten kann.

Mit diesen Beispielen will ich zugleich verdeutlichen, dass sich entscheidende Schritte auf dem Weg zu einer missionarischen Kirche in einem Bereich vollziehen , den ich als die „misionarische Dimension des Normen“ bezeichne. Im Blick auf die Praxis einer missionarischen Kirche ist das die Kernthese, die ich vertreten möchte. Wenn die missionarische Aufgabe unser kirchliches Leben und Handeln insgesamt bestimmen soll, dann muss sich dies auch in der missionarischen Dimension des Normalen zeigen. Ich mache damit außerordentliche Anstrengungen evangelistischer und sonstiger Art nicht unwichtig; es liegt mir fern, sie gering zu achten. Aber sie bleiben Eintagsfliegen oder auch ein fahrender Platzregen, wenn sie nicht eingebettet und zurückgebunden sind in die missionarische Dimension des Normalen, das ich gerade an den Beispielen des Gottesdiensts und der diesem Gottesdienst gewidmeten Räume, des Bildungsauftrags und der Diakonie verdeutlicht habe.

Neben der Neigung, sich in Milieugrenzen einzuigeln, nenne ich die programmatische Abwehr einer missionarischen Neuausrichtung als zweiten Grund noch immer nicht behobener Schwierigkeiten. Noch immer verfangen wir uns in der aktuellen theologischen und kirchlichen Diskussion immer wieder in der Falle einer vermeintlichen Alternative zwischen Mission und Kommunikation, Mission und Wahrnehmung, Eigenständigkeit des christlichen Glaubens und Einbettung der Religion in Kultur, Theologie als kirchlicher Dogmatik oder als Religionshermeneutik.

Ich will in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam machen, dass auch an einer Stelle, an der es vielleicht nicht erwartet wurde, von Mission die Rede ist, nämlich in der Denkschrift der EKD zum Thema der Kultur: "Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive“ aus dem Jahr 2002.

In dieser Denkschrift findet sich ein Abschnitt über „’Inkulturation’ als kirchliche Aufgabe“. Er enthält eine Beschreibung der „Ungleichzeitigkeiten der Entkirchlichung in Deutschland“; daran schließt sich ein Abschnitt über „Kirche und Kultur in missionarischer Situation“ an. Dort heißt es: „Es führt in die Irre, wenn die Aufgabe der ‚Kommunikation des Evangeliums’ gegen die Zielsetzung ausgespielt wird, durch Mission Menschen für das Evangelium zu gewinnen. Eine christliche Kirche, die sich ihrem Missionsauftrag verweigert, gäbe sich  - und damit auch ihre Botschaft - auf; denn die alternative Konzeption, dass die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft des Glaubens einfach Kraft der Geburt weitergegeben wird, steht ihr nicht zu Gebote. Statt auf den Begriff der Mission zu verzichten, muss es darum gehen, ein geklärtes Verständnis für den Missionsauftrag der Kirche unter den Bedingungen der Gegenwart zu gewinnen. Dabei ist zunächst festzustellen: Eine Verkoppelung des Missionsauftrages mit der Vorstellung von einer konstitutiven kulturellen Überlegenheit der eigenen Lebensform ist verfehlt. Was heute Mission genannt werden kann, ist Kommunikation; es vollzieht sich in der Einheit von Hörbereitschaft und Auskunftsfähigkeit. Mission ist Dialog; das Gespräch über den Glauben ist ihre entscheidende Form. Zu diesem Gespräch gehört der Respekt vor den Überzeugungen anderer; gemeinsam vollzieht sich in ihm die Suche nach verbindender und verbindlicher Wahrheit. Jedes Gespräch lebt von der Wechselseitigkeit; es kann alle Gesprächspartner in gleicher Weise verändern. Es ist das Ende des Gesprächs, wenn einer der Gesprächspartner bloß als Empfänger von Botschaften betrachtet wird. Die Einsicht, dass wir in einer Pluralität von Sinnwelten leben, hat insofern auch Konsequenzen für das, was heute Mission heißen kann. Die Herausforderung besteht darin, dass Christen ihr Zutrauen zum Evangelium als den für ihr Leben entscheidenden Halt ins Gespräch bringen und sich der kritischen Nachfrage im Gespräch aussetzen.“

Diese missionarische Dimension des Normalen habe ich in dem Bild einer einladenden, offenen, aufsuchenden und öffentlichen Kirche zu verdeutlichen versucht.

3. Zur Gestaltung der Mission

Mission ist immer Gottes Mission, hatten wir im ersten Teil des Vortrags gesagt. In seine Mission an die Welt bezieht Gott die Christen und seine Gemeinde ein. Sie sind Träger der Mission mit all ihren Aspekten. Davon müssen alle ihre Lebensvollzüge auf allen Ebenen bestimmt sein. Je stärker diese aufeinander verweisen, desto größer ist ihre Ausstrahlung.

Christ werden

Missionarischer Aufbruch beginnt damit, dass seine Trägerinnen und Träger das Evangelium selbst immer wieder neu hören. Denn nicht aus selbst gewähltem Anspruch oder aus Notwendigkeit von Strukturreformen begründet sich Mission, sie lebt vielmehr aus dem Wort Gottes.

Christ werden ereignet sich heute häufiger auf einem langen „Emmaus-Weg” als in punktuellen „Damaskus-Ereignissen”. Deshalb brauchen wir Gemeinden, die Suchende, Fragende, Unentschlossene und Zweifler wertschätzen, ohne sie zu vereinnahmen. Die traditionelle Reihenfolge „1. Zum Glauben finden – 2. In die Gemeinde finden” scheint sich umzukehren: die Beheimatung in einer Gemeinde geht der Beheimatung im Glauben an Christus oft voraus. Darum brauchen wir Gemeinden, welche das spannungsvolle Ineinander von Glaube und Unglaube aushalten und nicht vorschnell Grenzen ziehen.

Die überparochialen Dienste als Träger von Mission

Menschen begegnen dem Evangelium nicht nur in den Lebensvollzügen der traditionellen Ortsgemeinde. Sie hören das Evangelium auch durch das Wirken übergemeindlicher Dienste, wie z.B. missionarische Kongresse, diakonische Einrichtungen und evangelisierende freie Werke, missionarische Bildungsarbeit, missionarische Angebote in den modernen Medien. Zudem ereignet sich Kommunikation des Evangeliums nicht nur in traditionellen Sprachformen, in Gottesdienst, Seelsorgegespräch und Konfirmandenunterricht, sondern in zahlreichen auch sehr ungewohnten kulturellen Ausprägungen, sowohl in Gemeinden als auch in übergemeindlichen Zusammenhängen. Deshalb dürfen wir nicht vorschnell Grenzen ziehen zwischen Parochie und überparochialen Diensten, zwischen Gottesdienst und kulturellen Räumen. Vielmehr muss sich unsere Missionsarbeit engagiert in vielfältige Prozesse der Begegnung mit dem Evangelium hineingeben, diese sich zu Eigen machen, vernetzen und unterstützen.

Die Gemeinde am Ort als Trägerin der Mission

Auch in Zukunft wird die Gemeinde am Ort eine wesentliche Trägerin der Mission in unserem Land bleiben, indem sie die missionarische Dimension in allen gemeindlichen Aktivitäten sucht und fördert. Folgende Beschreibungen können bei der Entwicklung eines eigenen missionarischen Profils als Orientierung und Ermutigung dienen. Eine missionarische Gemeinde kann sich darstellen als

- anbetende und gottesdienstliche Gemeinde, die Gottes Gegenwart in ihrer Mitte feiert;

- betende Gemeinde, die sich und die Welt Gott anvertraut;

- Zeugnis gebende und zum Glauben helfende Gemeinde, die ohne falsche Scheu christlichen Glauben dialogisch und argumentativ vertritt;

- auf Menschen zugehende Gemeinde, die öffentlich präsent ist und Nähe freundschaftlich sucht;

- Gemeinde, die Leben mit den sie umgebenden Menschen teilt und so Gottes Geschichte mit ihnen verstehen lernt.

- kulturell bewegliche Gemeinde, die ihr Zeugnis im Rahmen von unterschiedlichen Gegenwartskulturen zur Darstellung bringen kann;

- geduldige Gemeinde, die in ihrer missionarischen Leidenschaft gelassen bleibt;

- getroste Gemeinde, die sich von Vergeblichkeitserfahrungen nicht entmutigen lässt, sondern auf die Verheißung setzt, dass Gottes Wort nicht leer zurückkommt;

- großzügige und gastfreundliche Gemeinde, in der sich Gottes Menschenfreundlichkeit widerspiegelt;

- beratende und seelsorgliche Gemeinde, die Menschen in ihren Alltagssorgen und Lebensnöten, insbesondere an den Wendepunkten des Lebens, aus der Kraft des Evangeliums herausbegleitet;

- heilende und segnende Gemeinde, in der der Zuspruch des Evangeliums von Menschen persönlich und konkret erfahren werden kann.

- diakonische Gemeinde, die auf Hilfsbedürftigkeit engagiert reagiert, ohne nach der Aufnahmebereitschaft für das evangelistische Wort zu fragen;

- versöhnende Gemeinde, in der Rechtfertigung zugesprochen, Barmherzigkeit erfahren und Gottes Frieden gefeiert werden;

- bildende Gemeinde, die sich an unterschiedlichen Lernorten in gesellschaftliche Bildungs- und Erziehungsprozesse missionarisch einbringt;

- prophetische Gemeinde, die ihre gesellschaftspolitische Verantwortung wahrnimmt, christliche Werte vertritt.

Dabei ist zu bedenken, dass in solchen Beschreibungen nicht nur an Ortsgemeinden im traditionellen Sinn des Wortes zu denken ist. Denn wir wissen: Ortsgemeinden entwickeln sich heute in wachsendem Maß zugleich zu Profilgemeinden. Sie setzen diakonische, pädagogische, kulturelle, spirituelle oder gemeinschaftsbezogene Akzente. Ihr Einflussbereich geht in vielen Fällen über die unmittelbare örtliche Zuständigkeit hinaus. Gemeinden in einer kirchlichen Region können sich ergänzen; wenn sie in einer abgestimmten Weise einander  ergänzende Schwerpunkte bilden, erweitert das ihren Wirkungsradius und kann im Ergebnis zu größerer missionarischer Ausstrahlung führen. Solche Ergänzung ist übrigens auch im ökumenischen Miteinander möglich.

In besonderen Situationen bilden sich auch Profilgemeinden, die den Charakter von Ortsgemeinden hinter sich lassen. In der Gestalt von Personalgemeinden, auch wenn es diese bisher nur in begrenzter Zahl gibt, ist uns das schon vertraut. Ihnen treten aber auch Gemeinden mit einem klaren thematischen Profil zur Seite, die auf eine förmliche Mitgliedschaft im Sinn einer Personalgemeinde verzichten.  Hier in der Mitte Berlins haben sie in der Gemeinde des Berliner Doms das Beispiel einer Personalgemeinde vor Augen, die aber zugleich mit ihrer gottesdienstlichen Ausstrahlung wie mit der Ausstrahlung besonderer Veranstaltungen den Bereich der eigenen Gemeindemitglieder natürlich weit überschreitet. Hier in St. Matthäus befinden Sie sich im Bereich einer thematisch orientierten Gemeinde, die auf eine besondere Gemeindemitgliedschaft verzichtet. Der Dialog zwischen Glaube und Kultur ist das besondere Kennzeichen dieser Gemeinde, ihrer Gottesdienste am Sonntag Abend wie ihrer vielen Veranstaltungen. Dass es sich um eine Gemeinde handelt, spüre ich nicht nur, wenn ich mit den Mitfeiernden um den Tisch des Herrn versammelt bin, sondern auch, wenn ich wahrnehme, wie sich eine Kasualpraxis von wachsendem Umfang an diesem Ort entfaltet. Dabei kann übrigens für mich kein Zweifel daran aufkommen, dass die Kasualien auch in ihrer missionarischen Bedeutung zu beachten und wahrzunehmen sind. Aber genauso wichtig sind in einer Zeit, die durch einen dramatischen Traditionsabbruch gekennzeichnet ist, Glaubensseminare, in denen sich eine Alphabetisierung im Glauben vollzieht. Deshalb freue ich mich besonders darüber, dass eine Initiative zur Verbreitung von Glaubensseminaren und zur Erschließung des richtigen Glaubensseminars für die jeweilige Gemeindesituation einen besonderen Schwerpunkt in den aktuellen Projekten der EKD bildet.

Wie kann man die ganze Spannweite der Situationen zusammensehen und zusammenhalten, die sich in einem solchen missionarischen Blick erschließt. Ich orientiere mich für diese abschließende Frage an der Aufforderung aus dem Hebräerbrief: „Darum werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat. Geduld aber habt ihr nötig, damit ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt“ (Hebr 10,35).

Glaube erscheint hier in der Doppelgestalt von Vertrauen und Geduld. Beides ist nötig, wenn wir an die Mission denken, die uns anvertraut ist:

Wir vertrauen darauf, dass die Mission Gottes auch bei uns keineswegs aufgekündigt ist. Sein Licht der Gnade leuchtet schon, in diesem Licht dürfen wir die Welt und die Menschen sehen. Wir vertrauen darauf, dass wir für unsere Antwort auf Gottes Mission auch neue Wege finden und gehen werden. Der in unseren Kirchen gültige Ordinationsvorhalt sagt dazu in unüberbietbarer Klarheit: „Bewahrt, was den Zugang zum Evangelium erleichtert, und helft mit, dafür neue Wege zu suchen.“

Nötig ist daneben Geduld: Geduld, die der Soziologe Max Weber in anderem Zusammenhang als die Bereitschaft zum Bohren dicker Bretter beschrieben hat, „mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“. Geduld bedeutet, dabei zu bleiben und nicht wegzulaufen. Noch ist die gute Nachricht vom Licht der Gnade nicht überall angekommen. Deswegen bleiben wir geduldig am missionarischen Auftrag.

Vertrauen und Geduld stehen unter der Verheißung Gottes: Er wird uns nicht im Stich lassen. Was wir selbst als Verheißung empfangen haben, wollen wir anderen weitergeben. Deshalb freuen wir uns an der Erfahrung, dass Menschen jedes Alters Jünger Christi werden, getauft und gelehrt im Evangelium. Und wir sind neugierig darauf, welche ungewohnten Wege die Mission Gottes in unserer Zeit sich bahnt – und achten darauf, mit auf dem Weg zu sein.