Referat "Calvins Wirkung auf Kirche und Gesellschaft" bei der Feier zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin in Berlin

Thomas Wipf

Eine Briefmarke ist für Calvin ein sinnvolles Geburtstagsgeschenk. Er war ein grosser Briefeschreiber. Mindestens 8500 Briefe hat er geschrieben, mindestens ebenso viele erhalten.  Das sind Zahlen, von denen ein heutiger Postchef nur träumen kann. Wie Sie wissen, war der Brief damals das Kommunikationsmittel par excellence. Während seiner Genfer Zeit verfasste Calvin durchschnittlich sechs, in der Regel lange Briefe pro Woche. Es ging um die drängenden Fragen der Kirche, Politik und Wissenschaft. Seine Briefpartner befanden sich in ganz Europa. Der Protestantismus wurde massgeblich durch Calvin zu einer europa- und dann weltweiten kirchlichen Freiheits- und Erneuerungsbewegung. Zu Recht wurde Calvins Reformation als „Reformation der Flüchtlinge“ bezeichnet. Sie wurde stärker „von unten“ her getragen und war entsprechend mobiler; im Unterschied zur Reformation Luthers, die dadurch, dass sie sich an den Reichsständen und deren Politik orientierte, stärker „von oben her“ organisiert und entsprechend ortsgebunden war.  Aufs Ganze gesehen aber hatte sich der Protestantismus in der Mitte des 16. Jahrhunderts noch nicht in die engen Grenzen von Konfessionen und Nationalstaaten zurückgezogen. Die Wiederentdeckung des Evangeliums und die Gestaltung einer Kirche, die Gott ehrte und dem Menschen diente, verband Calvin europaweit mit Gelehrten, Regenten und anderen Reformatoren, insbesondere mit Melanchthon und selbstverständlich Luther. Dieser schätzte Calvin, obwohl sie sich nie begegnet waren, und Calvin als eigenständiger und kritischer Schüler Luthers sagte, dass das „Evangelium von Wittenberg ausgegangen“ sei. In einem Brief an seinen Genfer Mitstreiter Farel meinte Calvin einmal, er habe keinen grösseren Wunsch, als gemeinsam mit allen deutschen Kirchen das Evangelium Christi zu verkündigen und mit allen Mitteln die höchste Einigkeit zu bewahren.
 
Wenn ich im Folgenden streiflichtartig einige Aspekte von Calvins Wirkung auf Kirche und Gesellschaft nenne, dann geht es also nicht nur um Calvin und den Calvinismus, sondern um ein gemeinsames, protestantisches europäisches Erbe. Wir dürfen Calvin oder Luther nicht in Genf oder Wittenberg einschliessen. Vielmehr soll das Bleibende und Verbindende ihres Denkens und Wirkens uns heute gemeinsam herausfordern. Ich bin heute ja nicht nur als Vertreter der reformierten Schweiz unter Ihnen, sondern auch als Präsident der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa. Mir ist es ein grosses Anliegen, dass wir Calvins Stimme im Chor der Ökumene, zunächst der innerprotestantischen, hören.

Und Calvins Stimme wurde und wird gehört in diesem Calvin-Jahr. Das Interesse an ihm, seinem Denken und Wirken, ist auch bei uns in der Schweiz oder in Frankreich etwa, überhaupt weltweit überraschend gross. Menschen im säkularen Westeuropa fragen im Zuge der Begegnungen mit Angehörigen anderer Religionen ganz neu nach der Bedeutung von Religion für die eigene kulturelle Identität  und nach ihrer eigenen religiösen Tradition.

Calvin als einem Reformator der zweiten Generation war es das wichtigste Anliegen, nach der Reformation der Lehre, wie sie an erster Stelle Luther initiiert hatte, die Reformation des Lebens anzupacken. Hinter diesem Anliegen verbarg sich nicht der vielgescholtene Moralist Calvin. Calvin war nicht der Verfechter einer „Tyrannei der Tugend“, wie jüngst ein Schweizer Historiker sein Buch über Calvins Reformation in Genf überschrieb. Nach Calvin bedurfte nicht nur der Glaube, sondern das Leben überhaupt der ständigen Erneuerung durch das Wort Gottes. Zu erkennen, wer Gott ist, führt nach Calvin konsequent zur Veränderung der Lebenswirklichkeit des Menschen. Diese positive Veränderung ist Gottes Werk. Ich zitiere dazu Matthias Freudenberg: „Dieses Wirken Gottes zielt auf die menschliche Freiheit, die der christlichen Existenz ihre Signatur gibt. Das Leben zur Ehre Gottes und die christliche Lebens- und Weltgestaltung gründen im Glauben an Gott, der in Jesus Christus sein eigenes Leben zugunsten des Menschen eingesetzt hat. Der Mensch ist dazu geschaffen, mit seinen ihm anvertrauten Gaben dem Schöpfer und Bewahrer seines Lebens zu antworten, sich vor ihm zu verantworten und ihm dankbar zu entsprechen.“  Die verantwortete Freiheit eines Christenmenschen führt nach Calvin zur Gestaltung dieser Welt, der Gesellschaft und der Beziehungen zu den Mitmenschen. Calvin setzte sich dementsprechend nicht nur für die Reform der Kirche und ihrer Ordnung ein, sondern auch für die Erneuerung der Gesellschaft.
 
Dabei war er fest davon überzeugt, dass es gefährlich wäre, wenn sich die Kirche zu sehr mit dem Staat verbündete. Calvins Theologie führte zur Reform des Lebens in den Bereichen des Sozial-, Bildungs- und Staatswesens sowie der Wirtschaft. Hier liegen grosse Leistungen Calvins. Hier liegen aber auch die Angreifbarkeit Calvins und der Ansatzpunkt für Überzeichnungen seines Wirkens. So theologisch motiviert es war, beinhaltete sein reformatorisches Wirken zwangsläufig politische Aussagen, die nicht alle Zeitgenossen gleichermassen teilten. Und hier liegt auch eine Problematik Calvins, nämlich wenn dem Theologen Calvin der studierte Jurist durchging und er bisweilen Einfluss auf die Genfer Gesetzgebung nahm.

Calvins Reform des Lebens war getragen vom Glauben, dass Gott für seine Schöpfung einsteht. Nahrung und Orientierung fand Calvin im Wort Gottes, wie es aus dem Alten und Neuen Testament zu ihm sprach. Jenseits eines  fundamentalistischen Bibelverständnisses war Calvin davon überzeugt, dass darin Kriterien und Massstäbe für die Gestaltung des individuellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens zu finden sind. Das zeigt sich auch in den zwei Bereichen, auf die ich abschliessend beispielhaft hinweisen möchte:  sein  Leitungs- und Amtsverständnis sowie sein Konzept von Gewissensfreiheit - zwei Themen, die wir heute in die Geschichte der Demokratie einordnen, wohl wissend, dass Calvins politische Theorie eher eine aristokratische war.

Eine besondere Leistung mit nachhaltiger Wirkung liegt zweifellos in Calvins Verständnis der Leitung und des Amtes in der Kirche.  Die späteren  Konzepte von Machtteilung, Gewalten-trennung, checks and balances, demokratischer Legitimation sowie Repräsentanz von Macht verdanken Calvin viel. Christoph Strohm drückt es folgendermassen aus: „Mehrere Grundentscheidungen der Theologie Calvins wirkten sich Demokratie-fördernd aus.“  Calvins Leitungs- und Amtsverständnis geht davon aus, dass Christus die Kirche leitet. Weil seine Herrschaft feststeht, braucht die Kirche keine Hierarchie. Eine Wirkung dieser Grundüberzeugung führte dazu,  dass das presbyterial-synodale Modell der Kirchenleitung in den evangelischen Kirchen weltweit verbreitet ist. Eine Fernwirkung dieses Prinzips lässt sich auch in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 feststellen, wo es heisst: Die evangelische Kirche ist eine „Gemeinde von Brüdern“. Deswegen begründen „die verschiedenen Ämter in der Kirche keine Herrschaft der einen über die andern“. Kirche wird als Dienstgemeinschaft verstanden. Christus leitet seine Kirche durch Menschen, die ihn vertreten. Weil Menschen sich mit ihren Gaben ergänzen sollen, und menschliche Machtausübung immer in Gefahr des Missbrauchs steht, konzipierte Calvin das kirchliche Amt als ein kollegiales. Pfarrer, Lehrer, Diakone und Älteste leiten gemeinsam die Kirche. Eine gegenseitige Unterstützung und Kontrolle war damit gegeben. Zweifellos besass der Pfarrer in Calvins Amtskonzeption eine besondere Stellung, doch wurde mit dem Einbezug der anderen kirchlichen Dienste auch deren Anteil in der Wahrnehmung des kirchlichen Verkündigungs- und Zeugnisauftrages theologisch wertgeschätzt. Mit dem Dienst der Diakone und Ältesten räumte Calvin Menschen, die anders als theologisch gebildet waren („Laien“) eine wichtige Rolle in der geistlichen Leitung der Kirche ein. Gemeinsam bildeten sie das Beratungsgremium des Consistoire, aus dem später der Dienst des Kirchenvorstands oder des Presbyteriums entstand. Dieses Modell der Kirchenleitung sollte sich in der späteren Geschichte der reformierten Kirchen in den schwierigsten Situationen von Verfolgung und Migration bewähren. Es stellte sicher, dass sich Kirchen ohne Anlehnung an den Staat selber organisieren und ihre prophetische Rolle wahrnehmen konnten.

Einen weiteren Mosaikstein in der Geschichte der Demokratie und eine wichtige Etappe auf dem Weg zu unaufgebbaren Menschenrechten können wir darin erkennen, dass Calvin für die Protestanten die Freiheit des Gewissens vor menschlichen Gesetzen betonte.  Im frühen Calvinismus wurde Gewissensfreiheit dann pointierter auf staatliche Gehorsamsansprüche bezogen. Dahinter standen die von Reformierten in Verfolgungssituationen gemachten Erfahrungen. Reformierte Juristen und Theologen gingen von der Differenz zwischen Gewissen und staatlichem Recht  aus. Weltliches Recht kann seinen Geltungsbereich nicht auf das Gewissen und die persönlichen Überzeugungen der Menschen beziehen. „Im Konfliktfall entschied man sich unmissverständlich für die Unversehrtheit des Gewissens und gegen Ansprüche der Obrigkeit, die mit dem Gewissen nicht vereinbar sind.“
Wo Reformierte leben und sich engagieren – in Frankreich etwa, in der Schweiz oder im angelsächsischen Raum – prägt diese Grundüberzeugung bis heute die Mentalität und die politische Kultur. Autonomie des Denkens, Skepsis gegenüber allem, was sich zwischen Mensch und Gott stellen will, Partizipation, Verantwortungsübernahme und demokratische Legitimation von unten nach oben sind Ausdruck dieser Prägung.

Dieses letzte Beispiel für die Wirkung Calvins macht auch deutlich, dass Impulse seiner Theologie und Ethik in späteren und unterschiedlichen sozialen sowie politischen Kontexten auf fruchtbare Weise weiterentwickelt wurden.

Calvin gibt uns auch heute noch viel zu denken und er kann unsere Reflexion über die Gestaltung des kirchlichen, sozialen und politischen Lebens inspirieren.  Das bekannte Diktum Calvins aus seinem Kommentar zum Buch des Propheten Jeremia kann uns dabei wegweisend sein: „Wo Gott erkannt wird, gedeiht auch die Menschlichkeit.“