„Dein Wort ist unseres Fußes Leuchte – Über die Schönheit des Protestantismus“

Fulbert Steffensky

Liebe Geschwister,
wie kann man über die eigene Schönheit und Stärke reden, ohne der Dummheit zu verfallen, die Paulus den Selbstruhm nennt? Gibt sich der nicht der Lächerlichkeit preis, der seine eigene Schönheit lobt und sich in sich selbst sonnt? Aber es gibt nicht nur die Lächerlichkeit dieses Selbstruhmes. Es gibt auch eine Art negativer Eitelkeit, die einen immer betonen lässt, dass wir nichts sind, dass mit unserer Macht nichts getan ist oder dass wir echte Rabenaase sind, wie es in den Buddenbrooks heißt. Wenn man schon nicht groß ist in der Tugend, so will man wenigstens groß sein in der Untugend. Lasst uns heute und in dieser Stunde vergessen, was wir alles nicht sind, schuldig bleiben und worin wir ungenügend sind! Lassen Sie uns mit Dank auf das schauen, was uns schon geschenkt ist! Lassen Sie uns dies nicht tun in Konkurrenz zu anderen Konfessionen oder anderen Dialekten des Christentums! Wer sich seiner gewiss ist, verzichtet auf den kindischen Ruhm auf Kosten anderer, und er nimmt ohne Arroganz die eigene Stärke in den Blick. Unsere Hoffnung bleibt mager, wenn sie nicht ernährt wird von dem Blick auf alles, was schön, charmant, liebenswürdig ist in unserer Tradition und unserer Kirche. Vielleicht werde ich etwas zu dick auftragen, wenn ich die Schönheit des Protestantismus lobe. Aber wen man liebt, den findet man immer schöner, als er ist. Und schön wird nur der, dem man eine Schönheit andichtet, die erst im Entstehen ist. Man lockt die Schönheit hervor, indem man sie sieht, bevor sie ganz da ist. Und wenn wir einmal ganz erwachsen sind, dann werden die Protestanten die Schönheit des Katholizismus loben und die Katholiken die Schönheit Wittenbergs.

Über die Schönheit der Musik
Ich lobe eine erste Schönheit unserer Kirche: die Musik und die Lieder natürlich. Sie sind die Muttersprache des Glaubens. In einem der schönsten Märchen der Antike werden uns Ursprung und Gehalt der Musik gedeutet. Der Gott Pan jagt die Baumnymphe Syrinx. Sie flieht vor ihm, sie kommt ans Wasser und bittet das Wasser, sie in eine Welle zu verwandeln, dass Pan sie nicht erkennt. Pan greift nach ihr, hält aber nur noch Schilfrohr in den Händen. Während seiner Klage fährt der Wind durch das Rohr, und Pan hört einen leisen und sehnsüchtigen Flötenton. Er bindet Schilfrohre verschiedener Größe zusammen, und wir haben die Panflöte. Die ersten Töne, die er spielt, sind die der Klage, des Vermissens und des Entbehrens. Musik, die Lieder, sind der „Ruf ins Entbehrte“, sagt Ernst Bloch an der Syrinxgeschichte. Die Panflöte gleicht am meisten der Orgel, und diese gleicht am meisten der menschlichen Stimme. Gesang als Ruf ins Entbehrte und Gesang als Ausgriff in die Fülle. Was schon da ist, wird in seiner Güte und Schönheit besungen. Was noch nicht da ist, ersehnt wird, wird herbei gesungen. Unsere Stimme und unser Mund sind oft klüger als unser Herz. Es ist ja erstaunlich, was wir alles singen. Wir singen: „Aus meines Herzens Grunde sag ich dir Lob und Dank!“ Und man fragt sich, wie es mit dem Grund des Herzens ist. Wir singen: „Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich!“ Singt das Herz, oder singt nur der Mund? Das ist eine falsche Frage. Manchmal singt wirklich nur der Mund. Aber wir sind ja nicht nur Herz, Gottseidank! Wir sind auch Mund, der das schwache Herz hinter sich her schleift, bis es wieder auf den eigenen Beinen stehen kann. Daran ist nichts falsch. Das Herz muss nicht immer Meister seiner selbst sein. In der Poesie des Singens sind wir uns selber voraus - unseren Einsichten, unseren Argumenten, unserem Zwiespalt und unserem Zweifel. Wie an keiner anderen Stelle tut man beim Singen, als könnte man schon glauben, ganz und gar. Wir geraten in der Musik und mit den Liedern in den Bereich der Schönheit. Die Schönheit heilt. Sie lehrt uns lächeln - wer täte es nicht bei Paul Gerhardts „Narzissus und Tulipan“? Sie lehrt uns weinen wie das „Wenn ich einmal sollt scheiden“. Sie lehrt uns Zartheit wie jenes weihnachtliche „Brich an, du schönes Morgenlicht“. Die Schönheit und die Gnade sind leibliche Geschwister, und sie begegnen uns am dichtesten in den Liedern. Wenn hier nicht ein protestantischer Ratsvorsitzender stände, würde ich sagen: Ich kann im Gottesdienst eher auf die Predigt als auf die Lieder verzichten.
Die Lieder, die ich schon lange gesungen habe, sind wie alte Formulare, in die ich im Laufe meines Lebens meine Ängste, meinen Schmerz und mein Glück eingetragen habe. Es sind aber auch die Lieder meiner Toten, meiner verstorbenen Frau, meines Vaters, meiner Mutter und deren Toten. Sie haben sie vor mir gesungen, und die Gesänge sind gewaschen mit den Hoffnungen und den Tränen der Toten. Keiner muss nur er selber sein und an seiner eigenen Glaubenskärglichkeit verhungern. Die Toten nehmen uns hinein in ihre Sprache und damit in ihren Glauben. Eine Kirche ist auch eine „Glaubensverleihanstalt“. Wir glauben unseren toten und lebenden Geschwistern ihren Glauben, wenn wir ihre Lieder singen. Auch das ist eine Weise des Glaubens. Das heißt Tradition, das heißt Kirche: Einstimmen in einen großen Gesang, der das Leben preist, und beklagen, was ihm angetan wird. Und am Ende noch eine Liebeserklärung an Paul Gerhardt: Seine Lieder sind zum Evangelisch werden. Ich habe gestern Abend zum Ratsvorsitzenden zwar gesagt, ich sei evangelisch geworden wegen … wegen der Posaunenchöre. Lassen Sie uns jetzt die ersten drei Strophen vom „Wach auf mein Herz und singe“ anstimmen! Paul Gerhardt darf nicht fehlen.

Über die Schönheit der Gnade und Freiheit
Was liebe ich am Protestantismus? frage ich, was ist sein Charme? Es fällt mir eine Betonung der christlichen Botschaft ein, die ich im Protestantismus mit besonderer Deutlichkeit finde, die Lehre von der Rechtfertigung des Menschen in den gnädigen Augen Gottes. Einer meiner Lieblingstexte aus der Bibel ist das 8. Kapitel des Römerbriefes mit seiner Unterscheidung von Fleisch und Geist. Wenn ich die Schwierigkeit einer zeitgebundenen Sprache überwunden habe, finde ich darin den Grund einer unbeschreiblichen Lebensheiterkeit. Ich bin nicht gezwungen, mein eigener Schöpfer zu sein. Ich stehe nicht unter dem Zwang, mein eigener Lebenszeuge zu sein. Ich bin, weil ich bezeugt bin. „Der Geist selbst gibt Zeugnis unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind“, heißt es im 8. Kapitel (V. 16). Unter verdammendem Zwang stehe ich, oder – wie Paulus sagt –im Fleisch lebe ich, wenn ich mein Leben durch meine eigenen Kräfte und Stärken bezeugen will und muss, durch mein Lebenswerk, durch meine Religiosität, durch meine Schönheit, meinen Erfolg, meine Gesundheit, meinen Reichtum. Nicht einmal die Gebete und Lieder müssen uns aus der eigenen Kraft gelingen, denn „der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen“, wie der Apostel sagt.
Der Satz von der Gnade ist einer der tröstlichsten und einer der kritischsten Sätze in der Bibel. Tröstlich, weil er jedem Menschen sagt, dass er schon gefunden ist, ehe er seine Suche beginnt. So befreit er von dem Zwang der Selbstbeabsichtigung, die immer in Verzweiflung führt. Man ist dazu befreit zu leben, zu lieben, den Willen Gottes zu tun. Und man ist davon befreit, ein Heiliger zu werden. Man lebt unter dem leichten Gedanken, dass man Fragment sein kann. Wir sind nicht die Autoren unserer eigenen Ganzheit. Der Blick Gottes sieht uns in eine Ganzheit, die alle unsere Selbstversuche übersteigt. Man kann in schmerzlicher Heiterkeit Fragment sein. Wir müssen uns nicht selbst genug sein. Gott ist unser Genug, das genügt.
Protestantismus sagt in letzter Radikalität: Jener Blick der Güte, der unsere Ganzheit und Liebenswürdigkeit in uns hineinsieht, genügt. Nichts, aber auch gar nichts (natürlich außer der Gerechtigkeit, die vom Menschen verlangt wird) kann noch irgendeine Heilswichtigkeit bedeuten. Es gibt keine religiös-substantiellen Materien mehr: Kein Priestertum, ausgestattet mit einer speziellen Macht; keine Amtsgewalt, die speziell an das Geschlecht eines Mannes gebunden ist; kein Amt mit dem Anspruch der Unfehlbarkeit. Das Prinzip der Gnade hat eine zersetzende Kraft. Es zersetzt alles, was sich außer dem Zeugnis des Geistes noch als substantiell religiös wichtig aufspielen will. Es führt uns in eine Freiheit, vor der wir selber manchmal erschrecken.
Mit dieser Freiheit hat die Buntheit des Protestantismus zu tun. Es kann nicht von oben geregelt werden, was der Fall sein soll. Und so gibt es den Protestantismus immer nur im Plural der Protestantismen. Der Gottesdienst im lutherischen Hamburg sieht anders aus als der der Reformierten in Emden. Die Theologien sind bunt und vielfältig. Die Leitenden einer Landeskirche heißen in Hannover Bischöfin, in der Rheinischen Kirche Präses, in Hessen Kirchenpräsident und als Gipfel des Understatement in der Bremischen Kirche Schriftführer. Das sind nicht nur verschiedene Namen, es sind auch verschiedene Auffassungen von Kirchenämtern. Protestantismus kommt immer im Dialekt vor. Es gibt den heißen schwäbischen Pietismus und die norddeutsche Kirchenkühle. Es gibt keinen genormten Protestantismus, es gibt Protestantismen. Viele stöhnen darunter und wünschen sich eine Theologie, eine Kirchenverfassung, einen Gottesdienst, die sich zwischen Flensburg und München aufs Haar gleichen. Aber Einförmigkeit ist nie ein Ideal des Geistes. Geist will Muttersprache werden. Er will sich einlassen auf geistige Landschaften; auf ihre Probleme, Sprachen, Begabungen und Schönheiten.
Diese Verschiedenheit ist allerdings die dauernde Quelle von anstrengenden Konflikten. Aber ohne Konflikte, ohne geschwisterliche Auseinandersetzung ist die Wahrheit gefährdet. Der Protestantismus kennt ja nicht ein Depot von Wahrheiten, das von Kirchenleitungen verwaltet und von ihnen verkündet wird. Sie wird gefunden im Dialog, manchmal auch im Streit der Geschwister. Die Einheit dieser Kirche muss nicht gefährdet sein durch diese Auseinandersetzungen. Sofern man sich in solchen Streiten nicht die Daseinsberechtigung und das Christentum abspricht, können sie nur heilsam sein und die Wahrheit voranbringen. Man streitet ja nicht im luftleeren Raum. Man streitet auf einem Boden, der von allen anerkannt wird, auf dem Boden der Bibel. Anders wäre eine Versöhnung kaum möglich. Und jetzt sage ich in Klammern: Ob aber die Protestanten wirkliche eine Streitkultur entwickelt haben, oder ob sie fürs Streiten zu hohe Individualisten sind, darüber will ich gerne sprechen, wenn wir ‘mal darüber reden, was wir im Protestantismus nicht lieben. Klammer zu. Lassen Sie uns die nächsten drei Strophen des Liedes singen.

Über die Schönheit der Freigeister, die das Recht lieben
Ich liebe im Protestantismus seine Kargheit und seine Liebe zur Gerechtigkeit. Ich fange mit der Kargheit an. Protestantismus ist schwach in der Selbstinszenierung, er ist bilderschwach. Ich sehe es sofort, wenn ich in eine evangelische Kirche komme. Wir waren einmal in Holland in einer calvinistischen Kirche. Unser Kind war noch sehr klein. Sie kam in die Kirche und sagte: „Ist kein Gott drin!“. Ich sehe es auch spätestens am Talar des Pfarrers oder der Pfarrerin, diesem unerotischsten aller liturgischen Kleidungsstücke. Diese Schwäche, die viele Protestanten bedauern, ist seine Stärke; die Kargheit ist seine Stärke, seine unbelohnte Stärke, das ist wahr. Denn im Augenblick wird belohnt, wahrgenommen, gewürdigt, was ins Bild gebracht werden kann. Könnte es sein, dass manchmal die Wahrheit durch Buntheit ersetzt werden kann? Das Bild untergräbt die Skepsis und wird zum Argument. Oder, wie der Prophet Habakuk sagt, „Das Bild lehrt lügen“(vgl. Hab 2, 18). Ich erinnere an eine kleine Geschichte. Die Geschichte des Photojournalismus beginnt mit einer trügerischen Inszenierung. Die ersten veröffentlichten Fotos stammen aus dem Krimkrieg (1853-1856). Sie beschönigen den Krieg, sie zeigen ihn nicht von seiner grausamen Seite, es ist ein gemütlicher Safaribericht aus einem fremden Land. Das Bild lehrt lügen. Wer die Bilder beherrscht, beherrscht auch die Köpfe. Mit Bildern kann man gigantische Scheinwirklichkeiten errichten – auch religiös. Es ist Zeit, das Misstrauen zu retten gegen den munteren Tanz der Bilder, die da lügen lehren. Darum achte ich das Bilderverbot aus der hebräischen Bibel, das in der protestantischen Tradition seine größere Heimat hat. Ich achte die Würde und die Kraft jener religiösen Tradition, die sich weigert, Gott oder die Menschen einzufangen und sich dienstbar zu machen in den Bildern, die wir von ihnen entwerfen.
Im 5. Buch Mose heißt es: „Macht euch kein Bildnis! Hebe deine Augen nicht auf zum Himmel, dass du die Sonne siehst, den Mond und die Sterne! Lass dich nicht verführen, sie anzubeten und ihnen zu dienen.“ Dies ist ein Freiheitstext der Weltgeschichte. Es könnte sich ein Menschentyp herausbilden, der nicht mehr auf Argumente hören kann und der nur noch durch Bilder und Inszenierungen zu gewinnen und zu überzeugen ist. Darum das Lob protestantischer Kargheit und das Misstrauen gegen die Augenschönheiten.
Ich nenne die andere Schönheit unserer Kirche: Gott mutet uns als erste Aufgabe den Schutz seiner Armen zu. Der Beter des 119. Psalms dankt, dass Gott ihn in die Ordnungen seiner Gerechtigkeit eingeführt hat. Spiritualität ist eine Tätigkeit: sie ist Gerechtigkeit. Die Frommen wandeln auf dem Weg des Herrn, und sie wissen, dass es keine Gotteserkenntnis ohne Barmherzigkeit gibt. Der Prophet Jeremia sagt von dem König Josias: „Er half den Elenden und Armen zum Recht. Heißt dies nicht, mich recht erkennen? Spricht der Herr“ (Jer 22,16).
„Wer in Gott eintaucht, taucht neben den Armen wieder auf“, sagt der französische Bischof Jacques Gaillot. So sagt es das wundervolle 58. Kapitel aus Jesaja: Dem Hungrigen das Brot brechen, die Nackten bekleiden, die Elenden aufnehmen – das sind Formen der Frömmigkeit, ohne die alles Beten, Fasten und jeder Gottesdienst Geplärr sind. Nur dessen Heilung wird voranschreiten, nur dessen Gebete und Schreie werden gehört, der die Schreie der Armen nicht überhört. Die prophetische Kritik an der „puren Frömmigkeit“, an der Gottesverehrung an der geschundenen Welt vorbei zieht sich durch die ganze Tradition. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat es in Nairobi (1975) so formuliert: Das Wachsen am inneren Menschen geht einher mit dem Kampf um Befreiung und Menschlichkeit. Und auch Paul Gerhardt wusste schon davon, und darum singen wir die drei nächsten Strophen.

Ermutigung zum Aufbruch
Wir werden – nach einer Inszenierung von Gisela Matthiae mit ihrer Gruppe - unseren Stationenweg gehen. Wir werden von diesem Kongress-Palais ausgehen, an der Friedenskirche halten, über den Samuel-Beckett-Platz gehen, vor der katholischen Kirche St. Familia anhalten und den Kulturbahnhof erreichen. Aber einmal - sage ich Ihnen! – wird der Protestantismus noch schöner sein. Dann werden wir „auf dem Weg der Gerechtigkeit“ noch ganz andere Stationen finden. Wir werden an den Plätzen Halt machen, wo die Obdachlosen jetzt ihre Schlafsäcke aufmachen. Wir werden einen Umweg machen zu einer Gemeinde, die eine Tafel, eine Kleiderkammer und ein Frauenhaus unterhält. Wir werden in einer Kirche beten, in der eine Gemeinde einer Flüchtlingsfamilie aufgenommen hat und ihr Asyl gibt. Wir werden wach bleiben für eine noch größere Schönheit und für andere Wege und Stationen, die die Stationen Christi sind. Das Christentum ist schön, und es ist noch zu seiner Schönheit unterwegs.