tempi - Bildung im Zeitalter der Beschleunigung

Statement des EKD-Ratsvorsitzenden, Präses Manfred Kock, zur Eröffnung des Bildungskongresses in Berlin

Sehr geehrte Damen und Herren,

an einem für den gesellschaftlichen Diskurs hervorgehobenen Ort veranstalten die katholische und die evangelische Kirche gemeinsam und öffentlich einen Bildungskongress. Das hat es - zu dieser Thematik jedenfalls - noch nicht gegeben. Was hat uns zu diesem Kongress bewogen?

Vor drei Jahren haben sich die beiden Kirchen in ihrem Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" stark gemacht. Darin wird das "Recht auf Bildung und Teilnahme am kulturellen Leben" als ein Menschenrecht beschrieben. Zum Abbau der Arbeitslosigkeit wird eine Verbesserung der Ausbildungssysteme angemahnt. Ausgaben für Bildung und Ausbildung, heißt es im gemeinsamen Wort, sind Investitionen für die Zukunft der Gesellschaft.

Heute hat sich das Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung weiter gesteigert. Das Internet zum Beispiel war im Wort der Kirchen noch kein Stichwort. In kürzester Zeit aber ist es ein Mittel und gleichzeitig ein Symbol für Globalisierung geworden. Weltweit sind immer mehr Daten immer schneller und gleichzeitig verfügbar. Moderne Zeiten sind Zeiten der Beschleunigung. Das hat bereits Charlie Chaplin in unnachahmlicher Weise zum Ausdruck gebracht. Wer erinnert nicht seinen Kampf mit den riesigen Zahnrädern industrieller Fließbandproduktion und ihren unerbittlichen Zeittakten? Diese flimmernden Schwarz-Weiß-Bilder scheinen einer längst vergangenen und überwunden geglaubten Epoche zu entstammen. Ob das wirklich so ist, soll dieser Kongress zeigen.

Im postindustriellen und an Rohstoffen armen Deutschland wird der Mensch zu einer entscheidenden Ressource im weltweiten wirtschaftlichen Wettbewerb. Um diese Ressource zu fördern, wurde die Wissens- und Lerngesellschaft ausgerufen. Bildung soll helfen, den sich entwickelnden ökonomischen Anpassungsdruck zu bewältigen. Die Diskussion um die Effizienz des Bildungssystems ist auf diese Weise in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung gerückt. Zusätzlich haben internationale Vergleichsstudien zur Qualität unserer Ausbildung die Verantwortlichen aufgeschreckt.

Um die entstandenen Debatten und Initiativen zu bündeln, die sich um ein neues Verständnis von Bildung bemühen, haben Bund und Länder das "Forum Bildung" gegründet. Ihm gehören neben den staatlichen Vertreterinnen und Vertretern verschiedene gesellschaftliche Gruppen und Institutionen an. Dazu zählen gemeinsam auch die evangelische und die katholische Kirche. Die beiden Kirchen sind die größten Träger freier Bildungseinrichtungen in unserem Land. Die vielen Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Erwachsenenbildungsinstitutionen in kirchlicher Trägerschaft sind Ausdruck der Verantwortung, die die Kirchen zusammen mit anderen gesellschaftlichen Trägern für das öffentliche Bildungssystem wahrnehmen.

Unsere Kultur ist von Kommerzialisierung und Wissenschaftlichkeit geprägt. Es dominieren diejenigen Wissenschaften, die technisch und sozial anwendbares Wissen produzieren, das unsere ökonomischen Handlungsmöglichkeiten erweitert. Auf dieses Wissen richtet sich das besondere Interesse von Forschung und Industrie. Es unterliegt jederzeit der Kritik und Revision und wird durch effektiveres Wissen mit umfassenderer und besserer Anwendbarkeit überholt.

Erkenntnisse, die sich nicht auf diese Weise nutzbringend einsetzen lassen, gelten als weniger wichtig. Hierher gehören alle Erkenntnisbemühungen, die sich der Frage stellen: Was ist der Mensch? Wie kann er die Wirklichkeit besser und angemessener verstehen, nicht nur ihre rationalen Strukturen und ihre ökonomischen Abläufe, sondern ihren Sinn, ihre Lebenstiefe, ihre humanen Bedingungen? Wie kann der Mensch die Wirklichkeit verantwortlich gestalten und entwickeln? Wie kann er das Menschliche bewahren und auf eine humane Zukunft hinwirken?

Gegen solche Fragen wird oft eingewendet, dass sie den Kriterien der Wissenschaftlichkeit nicht genügen. Aber selbst wenn sich menschliche Handlungsziele, Normen und Werte nicht mit mathematischer Exaktheit erheben lassen, sind diese Fragen unentbehrlich. Wir Menschen leben nur einmal und können unterschiedliche Lebensentwürfe nur sehr begrenzt experimentell erproben. Lebensorientierung muss auf anderen Wegen gewonnen werden.

Lernen und Wissen müssen sich darum am Selbstverständnis und am Weltverständnis des Menschen ausrichten. Die religiöse Dimension dieses Welt- und Selbstverständnisses darf nicht ausgeblendet werden. Es ist richtig: Die Zukunft des Einzelnen und unserer Gesellschaft wird entscheidend davon abhängen, in welchem Maße es gelingt, das Wissen zu erwerben und zu vermitteln, das in Zukunft gebraucht wird. Die Kinder müssen in die Lage versetzt werden, in dieser Welt zu leben und ihre Zukunft zu gestalten. Gerade deswegen darf sich das Bildungsverständnis nicht darin erschöpfen, Menschen für die Bewältigung der Wirtschafts- und Modernisierungsdynamiken zu qualifizieren. Die Bildungsaufgabe schließt die weltanschaulich-religiöse Dimension des menschlichen Lebens ein. Christliche Erkenntnis weiß: Wissen und Erkennen sind Stückwerk. Wüsste ich alle Geheimnisse und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts, schreibt der Apostel Paulus. In unserem Zusammenhang heißt das: Es kommt wesentlich darauf an, wie wir unsere Kinder erziehen. Der Ernstfall wird bleiben, wie wir den eigenen Begrenzungen begegnen, den Kranken und Sterbenden und denen, die den Anforderungen des Lebens nicht gerecht werden.

Ohne kulturelle Durchdringung, ohne glaubende Verantwortung ist die moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft gefährdet. Das, was wir wissen können und lernen sollen, muss in Beziehung zu unserer Kultur gesetzt werden. Um menschliche Kulturleistungen in Geschichte und Gegenwart wirklich zu erfassen, müssen die technischen und ökonomischen Denk- und Handlungslinien auf die ethischen und weltanschaulich-religiösen bezogen werden. Dies ist ein wesentlicher Teil einer übergreifenden Bildungsaufgabe. Im Umgang mit den neuen Technologien geht es nur bedingt darum, den Einzelnen besser an die Bedingungen und Regeln technischer Systeme anzupassen. Vielmehr stellt die Vernetzung der Systeme hohe Ansprüche an Verantwortungsbereitschaft und Rechenschaftsfähigkeit. Betriebsführung - sagen Wirtschaftsethiker - erfordert heute ein erhebliches Maß an ethischem Denken, das der Komplexität menschlichen Handelns gerecht wird. Auch die Gentechnologie wirft ethische Fragen auf, die sie selbst nicht beantworten kann. Nicht alles, was machbar ist, darf gemacht werden. Die Dynamik der Wissensgesellschaft gerät an ihre Grenze, wenn die Anwendung des Wissen dazu führt, grundlegende Bedingungen der menschlichen Freiheit aufzuheben und das Wesen des Menschen selbst zu gefährden.

Der Mensch ist dazu genötigt, sein tägliches Leben eigenständiger zu gestalten und seinen gesamten Lebensentwurf selbst zu verantworten, und zwar vor der Gemeinschaft der Menschen, die mehr ist als die Summe ihrer Individuen. Das ist verbunden mit einem Emanzipationsprozess, der aus der Vormundschaft von Autoritäten und Institutionen entlässt. Auch Staat und Kirche und alle durch sie abgestützten Institutionen sind diesem Prozess unterworfen.

So wird der Mensch immer mehr zum "Pfadfinder" auf dem Weg zu sich selbst und zu dem, worin er seine Lebenserfüllung sieht. Das ist eine für viele nicht einfache Aufgabe. Man braucht Bildung, um sie zu bewältigen. Wie sonst kann neue Sinnstiftung erworben und vermittelt werden? Auf dem Weg der Bildung muss der Mensch Aufklärung über seine Lebensverhältnisse, ihre geschichtliche Entwicklung und ihre geistig-religiösen Voraussetzungen gewinnen, um sich selbst zu verstehen - jenseits seines wirtschaftlichen Erfolgs, seines Wissens und seiner Leistung.

Dies gilt um so mehr, weil der Gegensatz zwischen den Qualifizierten und Informierten einerseits und den Unqualifizierten und Uninformierten andererseits schärfer zu werden scheint als die bisherigen Gruppen-, Schichten- und Klassengegensätze in der Gesellschaft. Viele fürchten, der Dynamik und Innovationskraft des Entwicklungsprozesses nicht gewachsen zu sein. Deshalb muss der entstandene Anpassungsdruck kritisch überprüft werden. Vordringlich zu beantworten ist die Frage nach Art, Ausmaß und Tempo der technologischen Entwicklung.

Wir Kirchen wissen nicht alles besser. Wir ringen mit um die Ziele des Lernens. Wir fragen nach dem Maß des Wissens. Im Zeitalter der Beschleunigung treten wir dafür ein, Zeit für unterschiedliche Lernwege zu geben. Die unumgängliche Anpassung an den Zeittakt einer technisierten Welt braucht ein Gegengewicht.

Dieses Gegengewicht beschreibt Günter Grass im Blick auf die Aufgabenstellung von Schule, und ich denke, es kann auch auf alle anderen Lern- und Bildungsorte angewendet werden: "Ich schlage vor", so Günter Grass, "in allen Schulen einen Kurs zur 'Erlernung der Langsamkeit' einzuführen. Von mir aus darf es sogar ein Leistungskurs sein. Langsamkeit wäre eine Gangart, die der Zeit zuwider verliefe. Die bewusste Verzögerung. Das bis zum Stillstand gebremste Tempo. Das Erlernen des Innehaltens, der Muße."

Die Linie dieses Gegengewichtes hat eine lange Tradition. Sie ist tief in der Menschheitsgeschichte verankert. Die Erkenntnis der jüdischen Schöpfungserzählung am Anfang der Bibel lautet: "Und so vollendete Gott am siebenten Tage seine Werke, die er machte, und ruhte am siebenten Tage von allen seinen Werken, die er gemacht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn, weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken, die Gott geschaffen und gemacht hatte." (2. Mose 2, 2+3)

Hannover, 16. November 2000
Pressestelle der EKD