Statement Prof. Dr. Gustav A. Horn Vorsitzender der Kammer für soziale Ordnung

Zur Vorstellung der Denkschrift des Rates der EKD „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“ in Frankfurt/Main

Es gilt das gesprochene Wort!
 

  1. Wer heute über die Arbeitswelt nachdenkt, muss deren grundlegenden Wandel im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts zur Kenntnis nehmen. Leitende Prinzipien für eine Bewertung des Wandels und der damit verbundenen Herausforderungen sind Selbstbestimmung und Solidarität. Dies geschieht in dem Wissen, dass ungeachtet der zentralen Bedeutung der Arbeit für die Menschen, Arbeit immer nur das Vorletzte ist. Der Mensch wird nicht erst durch Arbeit zum Menschen.
     
  2. Globalisierung, dichtere Vernetzung und Digitalisierung haben tiefe Spuren hinterlassen. Dieser Wandel ist von großer Ambivalenz gekennzeichnet. Auf der einen Seite entstehen durch neue Technologien mehr Möglichkeiten, sich selbst zu entfalten. Sei es, dass Arbeitszeit und – ort flexibler gewählt werden können, sei es, dass betriebliche Aufgaben selbständiger und eigenverantwortlicher erledigt werden können. Auch die innerfamiliäre Arbeitsteilung kann flexibler geregelt werden. Dies erzeugt eine von mehr individueller Verantwortung geprägte Arbeitswelt, zumal der Anteil anspruchsvollerer Produkte immer mehr zunimmt. Auf der anderen Seite erzeugt die Flexibilisierung prekäre und entgrenzte Beschäftigungsverhältnisse, da Arbeitskräfte mit den neuen Technologien örtlich und zeitlich leichter ausgetauscht werden können und technisch gesehen die Arbeit niemals endet. Hinzu kommt, dass mehr Selbstverantwortung in der Arbeit in Arbeitsdruck gewendet werden kann, der erhebliche psychische Belastungen hervorrufen kann. Dies alles trifft auch auf die Arbeitsteilung innerhalb der Familien zu. Die Entgrenzung der Arbeit ist für viele zu einem familiären Problem geworden.
     
  3. In Deutschland ist zudem im Laufe des vergangenen Jahrzehnts einer größten Niedriglohnsektoren in den Industrieländern entstanden, so dass die Qualität der Beschäftigung vielfach zu wünschen übrig lässt. Vor allem ist die Verteilung von Einkommen und Vermögen seit der Jahrtausendwende – spürbar ungleicher geworden. Gerade die unteren Einkommensschichten haben nicht am vom Wohlstandszuwachs teilhaben können und die wirtschaftliche Lage der Mittelschicht war stagnativ. Die Vermögen sind nach einer aktuellen EZB-Studie in Deutschland – und Österreich – ungleicher verteilt als in den anderen Ländern des Euroraums. Die Folgen dieser Entwicklungen sind umstritten. Diese Entwicklungen widersprechen allerdings eindeutig der kirchlichen Präferenz für die Armen. Es geht bei dieser Ungleichheit nicht nur um Ungleichheit zwischen Arbeitseinkommen und Gewinneinkommen, sondern auch um die Ungleichheit innerhalb der Arbeitseinkommen. Es ist nicht zu verantworten, dass durch das Missachten von Mindeststandards Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ihren Rechten und in ihrer Menschenwürde verletzt werden.
     
  4. Dabei ist die Arbeitsmarktlage in Deutschland insgesamt und im internationalen Vergleich seit dem Ende der Finanzmarktkrise ausgesprochen gut. Maßgeblich hierfür war die überaus erfolgreiche Bewältigung dieser Krise. Der für die Weltwirtschaft und auch Deutschland mit Abstand dramatischste Einbruch der Wirtschaftsaktivität seit dem Zweiten Weltkrieg führte durch gutes Krisenmanagement nur zu einem verhältnismäßig geringen Anstieg der Arbeitslosigkeit, nach kurzer Zeit konnte eine dynamische Erholung einsetzen. Dieser Befund ist umso bemerkenswerter als das internationale Umfeld alles andere günstig war. In vielen Ländern war die Erholung schwach und zäh. Im Euroraum erweist sich dessen Krise als nach wie vor als schwere Bürde für die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt, insbesondere für den Arbeitsmarkt. Die Folgen der Krisen sind hier bei weitem noch nicht überwunden.
     
  5. Die Kammer für Soziale Ordnung der EKD – und der Rat der EKD hat sich diese Sichtweise mit seinem Beschluss zur Verabschiedung der Denkschrift zu Eigen gemacht - sieht in dem System der Sozialpartnerschaft einen der wesentlichen Gründe für die Erfolge am Arbeitsmarkt . Gerade in Krisenzeiten bewährt sich also kooperatives Handeln. Dies entspricht dem Verständnis von Arbeit als einem Gemeinschaftswerk. Arbeit ist für die Menschen nicht nur eine Tätigkeit, deren Entlohnung dazu dient, den Lebensunterhalt zu finanzieren. In der Arbeit suchen die Menschen auch Gemeinschaft. Für Arbeitslose ist – und das zeigen viele Umfragen – nicht nur der finanzielle Einbruch ein bedrängendes Problem, sondern gerade auch der Verlust an Gemeinschaft. Auch Menschen, die in instabilen Beschäftigungsverhältnissen stecken, haben oft das Gefühl, nicht richtig „dazuzugehören“. Umso wichtiger ist es, selbst in wirtschaftlich schweren Zeiten Beschäftigung zu erhalten. In dieser Sichtweise ist der Gemeinschaftscharakter der Arbeit ein wichtiger Beitrag zum Gemeinwohl und entspricht daher der evangelischen Werteorientierung zur Arbeit.
     
  6. Das Verständnis von Arbeit als Gemeinschaftswerk sollte nicht dazu verleiten, Arbeitsbeziehungen als konfliktfrei zu interpretieren. Es gibt den klassischen Konflikt zwischen den Interessen des Kapitals und der Arbeit, und es gibt Konflikte innerhalb der Arbeitnehmerschaft. Aber diese werden durch die Sozialpartnerschaft und ihre institutionellen Regelungen im Rahmen der betrieblichen Mitbestimmung, der Unternehmensmitbestimmung und der Tarifautonomie in für das Gemeinschaftswerk konstruktiver und kooperativer Form bewältigt. Und dies hat sich bewährt.
     
  7. Mit dem Wandel der Arbeitswelt muss sich aber auch die Sozialpartnerschaft immer wieder an neue Gegebenheiten anpassen. Hier stellen sich gewichtige Herausforderungen. Die Eingrenzung der Arbeit und das Sichern von Freiräumen für eine angemessene familiäre Arbeitsteilung sind Aufgaben, denen sich die Sozialpartner zu stellen haben. Das Tarifsystem zeigt Anzeichen von Erosion. Der Abdeckungsgrad von Tarifverträgen ist rückläufig. Dies schwächt die Sozialpartnerschaft und ist einer der Gründe, warum die Spreizung der Einkommen stark zugenommen hat. Die Tarifparteien sollten gemeinschaftlich nach Wegen suchen, die Bedeutung tariflicher Vereinbarungen zu erhöhen. Das Prinzip der Tarifeinheit wurde unter dem Druck richterlicher Entscheidungen aufgegeben. Diese Entwicklungen können zu einer weiteren Erosion flächendeckender Tarifvereinbarungen führen. Hier sind Vereinbarungen und Regelungen anzustreben, die ohne das Streikrecht zu beschränken, die Tarifeinheit wieder stärken.
     
  8. Die Verantwortung der Sozialpartnerschaft kann heute nicht mehr nur national interpretiert werden. Der Euroraum ist wirtschaftlich, nicht aber institutionell ein einheitlicher Arbeitsmarkt. Aber auch die globale Verflechtung verbindet Arbeit in Deutschland mit Arbeit im Rest der Welt. Deshalb sollten die Sozialpartner gewährleisten, dass die Konflikte, die in Deutschland kooperativ geregelt werden, nicht auf die Menschen im Ausland abgewälzt werden. Es muss Sorge dafür getragen werden, dass Vertragspartner auch im Ausland Menschenrechte und Mindeststandards einhalten.

Selbstbestimmung und Solidarität sind universale Werte. Sie in einer sich ständig wandelnden Arbeitswelt zu verwirklichen, ist sowohl innerhalb Deutschlands, Europas und der übrigen Welt eine große Herausforderung. Aus Sicht der EKD ist ein kooperatives Vorgehen, das in Deutschland in der Sozialpartnerschaft seinen Niederschlag findet, ein guter Weg, Selbstbestimmung und Solidarität im Arbeitsleben zu verwirklichen.