Da wird auch deine Kirche sein. Welche Schätze birgt der Glauben? - Hauptvortrag auf dem 33. Deutschen Evangelischen Kirchentag

Prof. Dr. Christiane Tietz, Mitglied des Rates der EKD

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

fragt man Menschen, die aus der Evangelischen Kirche ausgetreten sind, nach dem Grund für ihren Austritt, so wird im Westen als erster Grund die hohe Kirchensteuer genannt und als zweiter, man könne ja auch ohne Kirche glauben, auch ohne Kirche christlich sein. Im Osten wird sogar als primäre Ursache angegeben, die Kirche sei den Betreffenden gleichgültig.[1] Manchmal wird hinzugefügt, dies sei doch gerade das besondere Kennzeichen evangelischen Glaubens, dass die institutionelle Kirche nicht länger als vermittelnde Heilsanstalt propagiert werde und stattdessen jeder Christ direkt mit Gott in Verbindung stehe. Dieses direkte Gottesverhältnis könne man am Sonntag auch beim Spazierengehen im Wald oder beim Hören eines klassischen Konzertes pflegen, Kirche sei dafür nicht notwendig. - Das sind aus kirchlicher Sicht bedrückende Antworten, weil sie aufzeigen, dass es der Kirche nicht gelungen ist, für diese Menschen Bedeutsamkeit zu entwickeln. Doch was genau ist "die Kirche" - und was hätte sie für diese Menschen zu "meiner" Kirche machen können? Und ist es richtig, dass man ohne Kirche glauben kann? Oder verliert man etwas, wenn man sich dazu entschließt, ohne Kirche christlich sein zu wollen?

Bevor ich auf diese Fragen eingehe, will ich Ihnen von einem Erlebnis erzählen, das ich jüngst hatte. Ende März reiste ich in die USA, zu einem Forschungsaufenthalt an der Universität von Chicago. Etwas mulmig war mir wohl, als ich in der Millionenstadt Chicago eintraf, ohne eine Menschenseele zu kennen. Doch zwei Monate später, am Tag meiner Abreise, fand ich mich, nach einem Gottesdienst, von zahlreichen Menschen umarmt wieder, die mir sagten, wie schön es sei, dass wir uns begegnet sind. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Bereits am ersten Sonntag meines Aufenthaltes ging ich in den Gottesdienst einer Kirche, an der ich bei meinen Erkundungen des Campus vorbeigelaufen war und die auf mich einladend gewirkt hatte. Die Teilnehmer des Gottesdienstes kamen augenscheinlich aus ganz verschiedenen gesellschaftlichen und ethnischen Hintergründen. Menschen mit einer europäischen Einwanderungsgeschichte und Afroamerikaner, asiatisch geprägte und mittelamerikanische Christen feierten hier zusammen. Das beeindruckte mich. Mehr noch freilich berührte mich, dass die Gemeinde merkte, dass ich fremd war. Mehrere Gemeindeglieder kamen nach dem ersten Gottesdienst auf mich zu und sprachen mich an, wer ich denn sei und was ich hier machte. Als ich auf die Frage, ob ich singen könne, mit einem verhaltenen: "ich singe auf jeden Fall sehr gern" antwortete, lud man mich ohne Zögern ein, für die Dauer meiner Zeit in Chicago im Chor mitzusingen. Und so war ich, drei Tage nach meiner Ankunft, Mitglied im Chor der Gemeinde. Jeden Mittwoch trafen wir uns, um den Gesang für den Sonntagsgottesdienst zu proben. Manche waren professionelle Musiker und sangen herrlich, andere konnten kaum Noten lesen und nur mit viel Ermutigung die richtigen Töne treffen. Aber die Freude, gemeinsam zur Ehre Gottes zu singen, die verband uns und ließ unseren Gesang im Gottesdienst in ungeahnter Schönheit erklingen. Was habe ich in dieser Gemeinde erlebt? Lag die Zuwendung der Menschen zu mir, der Fremden, daran, dass sie, vielleicht durch eigene Lebenserfahrung geschult, besonders aufmerksam waren auf jemanden, der Entgegenkommen brauchte? Waren sie einfach froh, noch eine Altstimme, die zwar nicht gut vom Blatt singen, aber immerhin Noten lesen konnte, hinzugewonnen zu haben? Oder lag etwas anderes dahinter, eine Nähe und Verbundenheit trotz aller Fremdheit, die jenseits psychologischer oder funktionaler Wirklichkeiten liegt? Konnte ich in dieser kleinen, bunten Chicagoer Gemeinde etwas von der Verbundenheit der Christen erleben?

In der nächsten dreiviertel Stunde will ich zusammen mit Ihnen darüber nachdenken, worin diese Verbundenheit der Christen besteht und wie sie sich zur Institution der Kirche verhält. In Zusammenhang damit will ich die Anfangsfrage diskutieren, ob man ohne Kirche glauben kann. Dabei geht es mir nicht darum, mit dem erhobenen Zeigefinger Drohungen auszusprechen - durch Drohungen hat noch keiner seine Freude an der Kirche entdeckt -, aber darum, ganz nüchtern dem Gehalt des christlichen Glaubens und seinem Verhältnis zur Kirche nachzudenken. Ist die Kirche ein "Schatz" des Glaubens?

Ich argumentiere dabei nicht als Praktische Theologin, die beschreibt, was der Fall ist, und dann nach Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb des Faktischen sucht, sondern als Systematische Theologin, die von den theologischen Konzepten von Glaube und Kirche ausgeht, kirchliche Realitäten dabei gleichwohl nicht aus dem Blick verlieren will.[2] Ich tue dies nicht nur deshalb, weil das nun einmal das ist, was ich gelernt habe; ich tue es auch deshalb, weil das Nachdenken über theologische, genauer: dogmatische Einsichten - so komisch das klingt - nicht selten der Phantasie Flügel verleiht. - Dabei werde ich mehrfach auf die Reformation zurückgehen, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass die Einsichten der ersten Evangelischen so reichhaltig sind, dass wir uns von ihnen auch heute noch anregen lassen können.

1. Das Verhältnis von Glaube und Kirche

Vielfach - ich deutete es schon an - begegnet im Protestantismus die Überzeugung, wesentliches Kennzeichen evangelischen Christseins sei die Freiheit von der Kirche und die Unabhängigkeit von kirchlichen Institutionen. Dazu bezieht man sich gern auf Martin Luther, der die damaligen kirchlichen Strukturen und Machtanmaßungen einer vehementen Kritik unterzog und davon sprach, dass jeder Christ - ich zitiere Luther - "ganz ausdrücklich mit Gott handelt, Gott am nächsten ist und mit lauter göttlichen Dingen umgeht."[3] Wenn jeder Christ durch Christus unmittelbar zu Gott ist, mit ihm reden und handeln kann, dann wird die Kirche als vermittelnde Instanz überflüssig. Im Pietismus des späten 17. und des 18. Jahrhunderts wurde diese Tendenz verstärkt und die Institution der Kirche in den Hintergrund gedrängt; entscheidend sei die Frömmigkeit und Lebenspraxis des einzelnen.[4] Die Aufklärung tat ein Übriges, als sie folgerte: Die kirchlichen Lehren und Ordnungen haben nur Bedeutung für die im Glauben Schwachen, wogegen "die Starken, die moralisch aufmerksamen, gewissenhaften Liebhaber der christl[ichen]. Wahrheiten" in sich selbst um das Wahre und Gute wissen und durch die kirchlichen Normen nur in ihrer evangelischen Freiheit eingeschränkt werden.[5] Diese Vorstellung scheint sich heute vielerorts durchgesetzt zu haben. "Die Kirche mit ihren Dogmen und Moralvorstellungen engt mich ein, nur für mich selbst kann ich in Freiheit glauben."

Nun hat freilich die Reformation, trotz aller Kritik an der kirchlichen Institution, nicht den Schluss gezogen, der evangelische Christ könne und solle ganz für sich selbst Christ sein. Vielmehr hat sie neu darüber nachgedacht, was die Kirche ist und warum sie für den Christen nicht gleichgültig sein sollte. Klar war: Kirche kann nicht mehr durch die Unterordnung unter die Autorität des römischen Papstes charakterisiert sein;[6] eine andere Definition musste her. Diese musste so beschaffen sein, dass sie der reformatorischen Entdeckung der Unmittelbarkeit eines jeden Christen zu Gott nicht widerspricht, sondern entspricht.[7] Grundlegend für alles Weitere wird das Augsburger Bekenntnis von 1530 mit seinem 7. Artikel. Dort heißt es: Die Kirche ist "die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden".[8] Diese Antwort klingt spröde, ist aber so reichhaltig und war so wirkmächtig, dass ich sie Ihnen genauer auslegen will.

Zunächst: Die Kirche ist "die Versammlung aller Gläubigen". Das bedeutet: Die Kirche ist nicht primär eine Institution, sondern sie besteht zu allererst aus Menschen, aus den Gläubigen. Die Kirche besteht aber nicht derart aus den Gläubigen, dass man diese schlicht statistisch erfassen könnte und dann die Kirche hätte. Die Kirche ist nicht die Menge aller Gläubigen, sie ist die Versammlung aller Gläubigen, ist dies, dass die Gläubigen an einem konkreten Ort sichtbar zusammenkommen, sie ist, wie Luther sagt, der "versammlete… Haufen"[9]. Wir hier auf dem Kirchentag, wir in Dresden "versammleter Haufen", sind Kirche.

Luther behauptet nun, die derart bestimmte Kirche sei ein "Geschöpf des Evangeliums"[10]. Das ist eine starke These. Sie besagt,[11] dass Kirche nicht dadurch entsteht, dass Menschen die gleichen Interessen hätten (so wie z.B. ein Fanclub von Dynamo Dresden dadurch entsteht, dass alle seine Mitglieder leidenschaftlich gern zu Dynamo-Spielen gehen). Kirche entsteht auch nicht dadurch, dass Menschen sich gegenseitig mögen (so wie ein regelmäßiges Treffen von Freunden dann organisiert wird, wenn sich alle sympathisch finden). Kirche entsteht durch das Wirken des Evangeliums. Denn das Evangelium, d.h. die frohe Botschaft von der vorbehaltlosen Zuwendung Gottes zu jedem Menschen in Jesus Christus, macht Menschen zu Glaubenden. [Bemerkung zu Friedrichs Wilhelm Grafs These, dies sei ein "Kuschelgott"]

Diese das Evangelium Glaubenden, die Gläubigen sind bereits Gemeinschaft. Weil sie durch den Glauben an das Evangelium mit Christus verbunden sind, sind sie es auch miteinander.[12] (Das klingt nach einer steilen theologischen Aussage. Doch manchmal kann man davon etwas erahnen, z.B. wenn beim "Vater unser", dem Gebet Jesu, hinzugefügt wird, dass wir es gemeinsam mit allen Christen dieser Erde beten.) Weil durch den Glauben an die frohe Botschaft von Christus miteinander verbunden, ist diese Gemeinschaft das "Geschöpf des Evangeliums".

Dietrich Bonhoeffer hat den Sachverhalt schön zusammengefasst: "Christliche Gemeinschaft heißt Gemeinschaft durch Jesus Christus und in Jesus Christus."[13] Weil Christen zu Christus gehören, sind sie miteinander verbunden. Genau so wird in den neuesten Forschungen auch das deutsche Wort "Kirche" abgeleitet: von kuriako,j, "zum Herr gehörig"[14]. Kirche, das sind die, die zu Christus gehören. Dieses "zu Christus Gehören" meint nicht eine besonders abgehobene Frömmigkeit oder einen besonders hohen moralischem Lebenswandel, sondern schlicht, sich dies, dass Gott in Jesus mir nahe gekommen ist, gefallen zu lassen und mich und Gott von hier aus zu verstehen.

Ich glaube, in der Gemeinde in Chicago habe ich etwas davon erlebt, dass die Christen einfach durch ihren Glauben miteinander verbunden, paulinisch gesprochen: ein Leib sind. Ohne uns zu kennen, wussten wir uns durch den gemeinsamen Glauben miteinander verbunden, wussten wir uns durch das gleiche zu Christus Gehören auch zueinander gehörig. Wir wussten nicht, ob wir die gleichen theologischen oder ethischen Positionen teilen. Aber wir wussten: der andere gehört zu Gott so wie ich - und darin waren wir bereits vor unserem persönlichen Kennenlernen miteinander verbunden.

Zu dieser bereits gegebenen Gemeinschaft kommt ein Zweites: Das Evangelium von Gottes Zuwendung in Jesus Christus muss mir gesagt werden. Dass Gott mir bedingungslos nahegekommen ist, dass er mich ohne Vorbedingungen annimmt, d.h. mit mir, so wie ich bin, zusammen sein will, das ist nichts, was ich in mir als Lebensweisheit vorfinde, sondern es ist etwas, das mir von anderen gesagt werden muss. In mir selbst finde ich wohl eher Selbstzweifel, ob ich genüge für Gott, ob ich so bin, dass Gott das Zusammensein mit mir ertragen kann, ob nicht andere viel brauchbarer sind für Gott. Vielleicht findet mancher in sich auch Selbstgewissheit und die Meinung, eigentlich könne Gott sich glücklich schätzen, dass sich so ein begabter, attraktiver, beruflich erfolgreicher Mensch für den Glauben interessiert und einsetzt - aber vielleicht kommt doch manchmal Angst, ob man auch dann noch für Gott zählt, wenn man nicht mehr attraktiv ist, wenn sich beruflich das Blatt wendet, man nicht mehr leistungsfähig ist. Und was ist mit all den Versäumnissen in meinem Leben oder mit dem, was ich anderen angetan habe - in mir selbst finde ich weder Grund noch Mut anzunehmen, dass dies vergeben werden kann und ich trotz alledem in Gemeinschaft mit Gott leben darf. Es muss mir von außen zugesagt werden. Noch einmal hat Dietrich Bonhoeffer den Sachverhalt hilfreich auf den Punkt gebracht: "… der Christ [braucht] den Christen, der ihm Gottes Wort sagt, er braucht ihn immer wieder, wenn er ungewiß und verzagt wird … Der Christus im eigenen Herzen ist schwächer als der Christus im Worte des Bruders."[15] Ich bin darauf angewiesen, anderen Glaubenden zu begegnen, weil nur so mein Glaube am Leben bleibt. Und andere sind auf mich angewiesen, damit ihr Glaube am Leben bleibt.

Zwei Aspekte ergeben sich:

  1. Durch das Hören des Evangeliums von der Nähe Gottes in Jesus Christus werden Menschen zu an Christus Glaubenden. Dadurch sind sie mit Christus und so auch miteinander verbunden. Diese Verbundenheit kann ich aber genauso wenig wie den Glauben der einzelnen eindeutig sehen; sie sind "verborgen".
  2. Weil ein Mensch nur durch das Hören des Evangeliums zu einem an Christus Glaubenden wird und er dafür Menschen braucht, die es ihm sagen, braucht er das sichtbare, d.h. das konkrete, tatsächliche Zusammentreffen mit anderen Glaubenden - und er braucht es stets neu, damit dieser lebendig bleibt. Wie sehr uns die Begegnung mit anderen Glaubenden zum eigenen Glauben ermutigt, das spüren wir oft in diesen Dresdener Tagen.

Die Rede von der Kirche als "Versammlung der Gläubigen" verknüpft beide Aspekte: sichtbare Versammlung und verborgenen Glauben. Beides ereignet sich gleichzeitig.

Damit ergibt sich aber: Wer christlich glaubt, gehört immer schon zur Kirche. Die oft zu lesende These, es gebe ein "Christentum außerhalb der Kirche"[16], ist schlichtweg falsch. Sie ist nicht deshalb falsch, weil einem, der nicht Mitglied der "Institution Kirche" ist, das Christsein abgesprochen werden könnte, sondern deshalb, weil jeder, der Christ ist, zur Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden hinzugehört, eben durch seine Verbundenheit mit Christus. Und er hätte diese nicht finden können, wenn ihm nicht an Punkten seines Lebens andere Christen von diesem Jesus Christus erzählt hätten und er also in irgendeiner Weise Teil der sichtbaren Versammlung gewesen wäre. Nicht ist zuerst hier das religiöse Individuum, das sich fragt, was ihm an der Kirche nützlich ist, und dort die Kirche, von der eventuell Nutzen für die eigene Religiosität erwartet wird. Sondern glaubendes Individuum und Kirche sind immer schon miteinander verbunden. Dann aber kann die Kirche nicht als "ein religiöse[s]… Dienstleistungsunternehmen" verstanden werden, dem der einzelne als religiöser Kunde mit seiner religiösen Erwartungshaltung entgegentritt, die es marktwirtschaftlich zu analysieren gilt, wie ein praktischer Theologe unserer Tage von der Kirche fordert: "Der Service muß … stimmen. Kundenorientierung, Markbeobachtung sind wichtig."[17] Nein, Individuum und Kirche können gar nicht wie Kunde und Dienstleister einander gegenübergestellt werden, weil der einzelne Glaubende immer schon Teil der Kirche ist.

Versammlungen von Gläubigen, Zusammenkommen und Zusammensein von Menschen, die glauben, gibt es in verschiedenen Formen. Und das ist auch gut so, weil es den Reichtum menschlicher Beziehungsformen zeigt. Es geschieht im Gottesdienst und Kindergarten, in Freizeiten und im Posaunenchor, aber auch dort, wo Freunde sich treffen. Die Reformatoren haben gleichwohl gemeint, eine besondere Form dieser Versammlung als Kriterium für Kirche ausmachen zu müssen: den rechten Gottesdienst. Im lutherischen Augsburger Bekenntnis von 1530 heißt es weiter: Die Kirche ist "die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden".[18] Kennzeichen der Kirche ist, dass in der Versammlung wirklich das Evangelium gepredigt wird, also Glauben entstehen kann. Wieso aber wird auch noch auf die evangeliumsgemäß gereichten Sakramente verwiesen? Weil die Sakramente für das Luthertum nichts anderes als "sichtbares Wort" sind. In den Sakramenten, in Taufe und Abendmahl, wird die gnadenvolle Zuwendung Gottes, von der das Evangelium redet, fühlbar, schmeckbar, mit den Sinnen erfahrbar. Hier spüre ich leibhaft, wie sich Gott mich berührend, mich abwaschend, mich erquickend und stärkend, mir zuwendet. Damit geschieht in den Sakramenten nichts anderes als im Wort der Predigt. Aber es geschieht auf sinnenfällige und nicht nur meinen Intellekt ansprechende Weise. Ingesamt sind diese Kennzeichen der Kirche derart, dass sie von den Glaubenden, die sich versammeln, weg weisen auf das, wodurch man immer wieder neu ein Glaubender wird, eben Verkündigung und Sakrament.[19] Soll heißen: Kennzeichen der Kirche ist ihr Ursprung und Grund.

Aber kann ich Gott nicht auch an anderer Stelle entdecken, z.B. wenn ich bei einem Sonnenaufgang im Elbsandsteingebirge von der Schönheit der Schöpfung und der Herrlichkeit Gottes überwältigt werde? Natürlich ist das möglich; wer könnte es Gott verbieten, auch so Menschen anzurühren! Allerdings: In der Schöpfung begegnet mir nicht nur die Heiligkeit Gottes, sondern auch Härte und Grausamkeit - die Bilder von den haushohen Wellen des japanischen Tsunami stehen uns noch erschütternd vor Augen. Wer nur auf die Schöpfung blickt, muss sich fragen lassen: kann, muss ich auch aus solchen Ereignissen Rückschlüsse auf Gott ziehen, z.B. den, dass Gott ein willkürlicher, grausamer Gott ist?

In besonderer Weise kann ich Gott wohl in der Zuwendung anderer Menschen spüren,[20] wenn mir andere Menschen so begegnen, dass mir Gottes Liebe dadurch glaubwürdig wird. Das geschieht natürlich nicht nur in der Kirche, es kann auch auf dem Gemüsemarkt oder im Schwimmbad geschehen, besonders wohl in unseren Familien und mit treuen Weggefährten. Aber es geschieht in der Kirche vor dem ausdrücklichen Hintergrund der Liebe Gottes, als deren Ausdruck sich das Handeln von Christen versteht. Es geschieht, wenn die Kirche sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzt und sich politisch zu Wort meldet, damit alle Menschen unter Bedingungen leben können, die Gottes Liebe zu ihnen entspricht. Es geschieht, wenn jemand ohne Vorbehalte, ohne scheele Seitenblicke in einer Gemeinde willkommen geheißen wird. Es geschieht, wenn sich in diakonischen Einrichtungen Mitarbeiter in Fürsorge um Menschen kümmern. Und es geschieht in prominenter Weise, wenn mir in Verkündigung und Sakrament Gottes Zuwendung in Jesus Christus direkt zugesagt wird. Dadurch bekomme ich sozusagen einen Auslegungsschlüssel in die Hand, der mich in den anderen menschlichen Zuwendungen diese Zuwendung Gottes entdecken lässt. Wäre ich für mein Wissen um Gottes Liebe allein auf die - leider wechselhafte - menschliche Wärme und Fürsorge angewiesen, dann wüsste ich mal von Gottes Liebe - und dann müsste ich sie wieder in Frage stellen. Nur weil ich durch Verkündigung und Sakrament um Gottes verlässliche, treue Zuwendung in Jesus Christus weiß, kann ich menschliche Zuwendung als ein Zeichen für sie sehen, das ich dankbar annehmen kann, ohne von dieser menschlichen Zuwendung im letzten abhängig zu sein.

2. Kirche als Versammlung der Glaubenden und als Institution

Nun klingen all diese Worte recht erbaulich und nett und machen vielleicht klar, dass Gemeinschaft mit Christen hilfreich ist, doch fordern sie auch die Institution Kirche? Reicht es nicht, wenn Menschen sich einfach so versammeln, in egalitären Strukturen, ganz nach den eigenen Bedürfnissen organisiert? Wäre solches nicht stärker im Sinne der "Freiheits"-Emphase der Reformation?

Um diese Frage zu beantworten, möchte ich noch ein drittes Mal in die Reformation zurückschauen, in die Zeit, in der sich die evangelischen institutionellen Grundstrukturen entwickelt haben, und fragen: Warum wurde den meisten Reformatoren die Ausbildung eines organisierten Kirchenwesens, einer kirchlichen Struktur wichtig? Ausgangspunkt für die Strukturen war für die Reformatoren, man wundere sich nicht, erneut der Glaube, insofern dieser in besonderer Weise von Verkündigung und Sakramenten lebt. Im Augsburger Bekenntnis heißt es: "Solchen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, Evangelium und Sakrament geben"[21]. Kurz und knapp: Das kirchliche Amt ist um des Glaubens willen da.

Dieses Predigtamt können nach reformatorischem Verständnis grundsätzlich alle Christen ausüben. Jeder ist in der Lage und beauftragt, dem anderen von Gottes Güte zu erzählen, und hat prinzipiell die geistliche Vollmacht, die Sakramente auszuteilen.[22] Luther schreibt: "… alle Christen sind wahrhaftig geistlichen Standes und ist unter ihnen kein Unterschied … denn die Taufe, Evangelium und Glauben, die machen allein geistlich und Christenvolk … Demnach so werden wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht"[23]. Alle Christen sind nach evangelischer Vorstellung Priester. Doch um des Gottesdienstes willen braucht es ein besonderes Predigtamt. Denn im Gottesdienst können nicht alle gleichzeitig predigen oder die Sakramente austeilen.[24] Luther sorgt sich: "Was wollt … werden, wenn ein jeglicher reden oder reichen [d.h. die Sakramente darreichen] wollt …?"[25] Man stelle sich das in unseren Gemeinden vor: alle, die meinen, etwas zu sagen zu haben, stürzen am Sonntag morgen nach vorne und reißen das Mikrophon an sich, jeder, der sich gerufen fühlt, teilt auf eine Weise, die ihm selbst einleuchtet, zu einem Zeitpunkt, der ihm selbst richtig dünkt, Brot und Wein (oder vielleicht ein anderes Getränk, das er lieber mag) aus. Es käme zu einem unüberschaubaren Chaos, zu einer "confusio" im Volk Gottes[26].

Deshalb fordert Luther: "Weil wir alle in gleicher Weise Priester sind, muss sich niemand selbst hervor tun und sich anmaßen, ohne unsere Bewilligung und unser Erwählen das zu tun, zu dem wir alle gleiche Vollmacht haben. Denn was gemeinsam ist, mag niemand ohne den gemein[sam]en Willen und Befehl an sich nehmen."[27] Darum soll, so erneut das Augsburger Bekenntnis, "niemand in der Kirchen öffentlich lehren oder predigen oder Sakrament reichen … ohne ordentliche Berufung (recte vocatus)"[28]. Das Pfarramt entsteht aus evangelischer Sicht also dadurch, dass "[a]lle in gleicher Weise Berechtigten … aus ihrer Mitte einen [berufen], der den Dienst stellvertretend für sie alle öffentlich ausübt."[29] Wenn bei uns der Bischof die Ordination dieser Berufenen ausführt, so ist er Repräsentant der Gemeinde.[30]

Damit nun allerdings die Glaubenden nicht in einem Gottesdienst diese Liturgie und in einem anderen Gottesdienst jene erleben und sich dann mehr mit ihrem Ärger oder ihrer Verunsicherung über die Vorlieben des Pfarrers als mit dem liturgischen Inhalt beschäftigen, werden in der Reformationszeit "Kirchenordnungen" erlassen. Sie haben ihren Zweck nicht in sich selbst, sondern sollen den Menschen dienen. Sie sind, weil "von Menschen gemacht", nicht "notig zur Seligkeit", dienen aber "zu Frieden und guter Ordnung in der Kirche"[31].

Selbst dass Menschen regelmäßig den Sonntag begehen, ist nach reformatorischer Auffassung für ihre Seligkeit nicht nötig. Aber für die - wie Luther sagt - "Arbeitsleute", die viel arbeiten müssen und wenig Zeit zur Muße haben, ist die Einrichtung einer festen, freien Zeit zum Gottesdienst sinnvoll, weil damit Zeit für das Hören des Evangeliums und für das Nachdenken über ein evangeliumsgemäßes Leben bleibt.[32] Luther fügt freilich hinzu: "… wenn wir alle vollkommen wären und das Evangelium auswendig könnten, dann könnten wir alle Tage arbeiten"[33]. (Vermutlich sind Sie genauso wie ich froh, nicht vollkommen zu sein!)

Damit sind dann aber eben bestimmte Strukturen gegeben: es braucht das Pfarramt, damit die Verkündigung ordentlich zugeht - und eine Ordnung, die Gottesdienste, Taufen, etc. regelt, sowie Richtlinien, die die Ordination ins Pfarramt festlegen. Und schon haben wir eine kirchliche Struktur, die um der Verlässlichkeit willen auf Dauer gestellt wird. Wichtig aber ist stets: Diese kirchliche Struktur ist nicht um ihrer selbst, sondern um der Evangeliumsverkündigung und des Glaubens willen da.

Nun scheine ich allerdings mit diesen Überlegungen noch nicht wirklich in unserer kirchlichen Realität angekommen zu sein. Sind unsere Strukturen nicht viel zu verkrustet, steckt nicht hinter zu vielen institutionellen Entscheidungen das Bedürfnis des Machterhaltes? Sind wir in der Kirche nicht eher von finanziellen Engpässen und Sparzwängen, von der Sorge um sinkende Steuereinnahmen und Personalstreichungen geleitet anstatt von der Verkündigung des Evangeliums? Hat nicht der institutionenkritische Satz recht, Jesus habe das Evangelium gepredigt, gekommen sei aber die Kirche? Was soll eine solche theologische Orientierung, wenn die wirklichen Themen der Kirche augenscheinlich andere sind? Vermutlich haben wir alle in diesen Hinsichten mannigfache schmerzhafte Erfahrungen mit unserer Kirche gemacht, Erfahrungen, in denen uns kirchliche Strukturen enttäuscht, in denen sie Veränderungen blockiert und eine evangeliumsgemäße Kirche verunmöglicht haben.

Eine Möglichkeit, mit diesen Erlebnissen umzugehen, ist zweifellos der Austritt aus der Kirche. Ich kann verstehen, dass jemand, der sich schwer durch die Kirche geschädigt fühlt, nicht länger in ihr bleiben will. Und doch bitte ich die, die noch können, die noch ein wenig Liebe zu "ihrer" Kirche in sich spüren, bei ihr zu bleiben und die Geschwister nicht allein zu lassen. Wir brauchen alle, die Hoffnung für die Kirche haben und die dabei helfen und darum kämpfen wollen, dass die institutionelle Kirche so wird, dass sie dem Glauben der Menschen dient. Und vielleicht entdeckt man dann, dass auch andere – auch in der Institution Kirche – Erneuerung und eine evangeliumsgemäße Kirche wollen.

Noch ein Weiteres macht das Bleiben in der Kirche schwer: Schaut man unsere Kirche realistisch an, dann entdeckt man nicht nur in den kirchlichen Institutionen manches Beschwerliche. Auch die Christen selber sind ja nicht durchgängig Anlass zu reiner Freude. Sind sie wirklich immer so zugewandt, wie ich es aus Chicago berichtet habe? Was ist mit den vielen Streitereien in den Gemeinden darüber, ob man zuerst die Orgel oder zuerst den Hof des Kindergartens renovieren soll? Ist unter den Christen wirklich etwas vom Evangelium zu spüren? Klar, auf dem Kirchentag ist das so. Aber zu Hause? Oft hat man den Eindruck, Friedrich Nietzsche habe Recht mit seinem scharfen Urteil: "… wenn euer Glaube selig macht, so gebt euch auch als selig! Eure Gesichter sind immer eurem Glauben schädlicher gewesen als unsere Gründe [gegen den Glauben]! Wenn jene frohe Botschaft eurer Bibel euch ins Gesicht geschrieben wäre, ihr brauchtet den Glauben an die Autorität dieses Buches nicht so halsstarrig zu fordern."[34] - Wie nur sollen wir mit der menschlich-allzumenschlichen Wirklichkeit fertig werden, die uns im kirchlichen Alltag begegnet?

Für beide Probleme, die Probleme der strukturellen Realität wie der menschlichen Realität in unserer Kirche, kann, so meine ich, eine Unterscheidung hilfreich sein, die dazu ermutigt, für eine bessere Kirche zu hoffen, zu beten und zu arbeiten. Ich meine eine Unterscheidung, die ich vorhin bereits angedeutet habe: die Unterscheidung zwischen sichtbarer und verborgener Kirche.[35] Sie ist nicht zu verwechseln mit der bei manchen beliebten, in meinen Augen aber eher schädlichen Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche.[36]

Die Unterscheidung zwischen sichtbarer und verborgener Kirche soll sagen, dass ich auf der einen Seite "sehen" kann, wenn Menschen zur "Versammlung", die die Kirche ist, gehören. Ich kann wissen, dass sie getauft sind, kann mitbekommen, ob sie ab und an in den Gottesdienst und zum Abendmahl gehen, sich vielleicht sogar in der Gemeinde engagieren. Aber ich kann nicht sehen, dass der andere ein "Glaubender", dass der andere von Gott angerührt worden ist. Dieses kann nur Gott; nur Gott kennt die Herzen. Der Glaube ist etwas zwischen dem einzelnen und Gott. Luther drückt dies drastisch aus: "Gott will die Welt nicht lassen wissen, wenn er bei seiner Braut schläft."[37] Das aber bedeutet: Das Wesentliche an der Kirchenzugehörigkeit des anderen, seine Zugehörigkeit zu Christus, kann ich im Kern nicht sehen, es ist meinen Augen verborgen. Das soll heißen: die Realität des Glaubens der Glaubenden "will nicht ersehen, sondern erglaubt sein"[38]. Luther folgert: Immer dann, wenn jemand getauft ist, d.h. zur sichtbaren Kirche gehört, sollen wir auch seine Zugehörigkeit zur verborgenen Kirche, d.h. seinen Glauben an Christus, glauben.[39]

Dieser Glaube an die Zugehörigkeit des anderen zur Kirche wirft dann aber ein neues Licht auf die Ambivalenzen, mit denen wir uns bei unseren Brüdern und Schwestern (und bei uns selbst) herumschlagen. Das kann gezeigt werden an einem großen Bekenntnis aus dem 4. Jahrhundert, in dem dieser Glaube spezifiziert wird: wir glauben an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, heißt es da.[40] Die Reformatoren haben dieses Bekenntnis übernommen, das ich nun noch auslegen will.

Wir glauben an die eine Kirche. Wir glauben, dass, auch wenn wir andere aus der "Versammlung der Glaubenden" nicht leiden können, auch wenn wir theologisch oder kirchenpolitisch anderer Meinung sind, wir eins sind durch den Glauben an Christus. Weil Christen von dem einen Herrn herkommen und durch ihn leben, sind sie, trotz aller inhaltlichen Differenzen, trotz der Verschiedenheit der Konfessionen, immer schon in Christus eins. D.h. so wenig wie die Freude auf unseren Gesichtern das Evangelium konstituiert, so wenig konstituiert die Harmonie in unseren Gemeinden unsere Gemeinschaft. Und so wenig wie unsere Zweifel das Evangelium nichtig machen, so wenig zerstören Streitereien unsere Verbundenheit in Christus. Diese Streitereien entsprechen ihr nicht; und das ist schmerzlich und peinlich; und es sollte alles daran gesetzt werden, dass wir in möglichst vielen sichtbaren Hinsichten unserer Verbundenheit in Christus entsprechen. Aber diese kommt - als zu glaubende - zuerst.

Wir glauben an die heilige Kirche. Wir glauben, dass die an Christus Glaubenden in diesem Glauben gerechtfertigt und in diesem Sinne vor Gott bereits heilig sind,[41] d.h. in seine Nähe treten dürfen. Noch einmal Luther: Es ist "eine Gotteslästerung, die Orden der Klostergeistlichen ‚heilig’ zu nennen. Der einzige heilige und heiligmachende Stand ist das Christentum oder der Glaube."[42] Als derart durch ihren Glauben Geheiligte sehe ich die Anderen und nenne die Gemeinde die "Gemeinschaft der Heiligen". Nicht sehe ich im Anderen in erster Linie den Mürrischen, den Egoisten, den Intriganten, sondern den, dem Gott trotz aller diese Dinge nah sein will.

Noch ein Weiteres kommt hinzu. Wir glauben an die katholische, die weltumspannende Kirche. Wir glauben, dass zur Kirche nicht nur die Glieder unserer Ortsgemeinde mit ihren speziellen finanziellen Interessen, die gegenüber dem Dekanat verteidigt werden müssen, gehören, sondern alle Christen dieser Welt. Und wir glauben, dass das Evangelium ein Angebot an alle Menschen ist.[43] Dazu passt - immer noch - die Institution der Volkskirche, deren Besonderheit nach Dietrich Bonhoeffer darin besteht, dass sie "mit der Predigt des Wortes, das sie trägt …, über sich selbst hinaus[greift] und [sich] ... an alle [wendet], die auch nur der Möglichkeit nach zu ihr gehören könnten."[44] Darin hat sie eine Geh-Struktur - die freilich weiterreichende Formen braucht als nur den Predigtgottesdienst. Die Offenheit an unseren Kirchentüren am Sonntag, an denen man weder den Mitgliedsausweis noch den Kirchensteuernachweis vorzeigen muss, ist dafür ein beredtes Zeichen. Wo gibt es so etwas noch in unserer Gesellschaft, dass ich einfach durch die Tür eintreten kann?

Und wir glauben an die apostolische Kirche. Wir glauben, dass trotz aller unterschiedlichen theologischen und kirchenpolitischen Positionen die Versammlung der Glaubenden von der ursprünglichen, der von den Aposteln überlieferten Botschaft am Leben erhalten wird.[45]

Diese Eigenschaften beschreiben als geglaubte eine durch Gott bereits gegebene Dimension kirchlicher Wirklichkeit,[46] die jedoch gleichzeitig der Auftrag ist, die sichtbare, konkrete Kirche ihr immer mehr entsprechen zu lassen.[47] Die Eigenschaften der verborgenen Kirche sind eine Herausforderung für die gegenwärtig vorfindliche Kirche und sind "geradezu provoziert durch die Erfahrung all der Unvollkommenheit der Kirche"[48]. Sie sind, wie Gerhard Ebeling formuliert, "Kampfaussagen", "die dagegen protestieren, den Anschein für die Wahrheit zu nehmen und aus dem, was vor aller Augen ist, das Urteil darüber zu schöpfen, was letztlich gilt".[49] Der Glaube an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche ermutigt dazu, Ideen und Impulse zu entwickeln und darum zu kämpfen, dass die strukturelle Gestalt der Kirche so wird, dass in ihr die durch Gott gesetzte Wirklichkeit der Kirche sichtbar wird. Weil sie dazu ermutigt, das Faktische nicht für das allein Wirkliche zu nehmen und auf eine andere Kirche begründet zu hoffen, deshalb meinte ich zu Beginn meines Vortrages, Dogmatik verleihe der Phantasie Flügel. Darum komme ich am Schluss zu

3. Konsequenzen

  1. Wenn richtig ist, dass die Einheit der Kirche immer schon durch Christus in ihrer verborgenen Weise gegeben ist, dann sind alle Versuche, eine sichtbare Einheit herzustellen, nur vor diesem Hintergrund zu vollziehen. Das bedeutet insbesondere: Jedes ökumenische Gespräch vollzieht sich vor dem Hintergrund der bereits in Christus gegebenen Einheit der Kirche und mit dem Ziel, dieser Einheit sichtbare Gestalt zu verleihen. Es vollzieht sich gleichzeitig in der Perspektive eschatologischer Einheit, die dereinst sein wird. Alle gegenwärtigen menschlichen Einheitsbemühungen stehen zwischen der in Christus bereits gegebenen und durch den Heiligen Geist dereinst vollendeten Einheit. Das und nicht das uns Trennende sollte die Grundlage der Ökumene sein.
  2. Ich habe versucht plausibel zu machen: Der Ursprung des Kirchengedankens ist der Glaube des einzelnen Menschen. Christlichen Glauben gibt es, weil es Kirche gibt, weil in ihr das Evangelium in Wort und Sakrament zu hören und zu sehen ist. Und weil Glauben wachsen und bewahrt werden soll, deshalb ist die Kirche da.

    Wie aber wird ein Mensch biographisch zum Glaubenden? Auf der einen Seite und theologisch strikt gesprochen, ist Glaube durch Gott gewirkt, die Tradition sagt: durch den Heiligen Geist, wenn Gott selbst das Herz eines Menschen so berührt, dass er merkt: ja, hier ist Wahrheit über mich, die Welt und Gott. Dies kann man nicht durch missionarische Methoden erzwingen, nicht durch perfekt organisierte Gottesdienste andemonstrieren. Auf der anderen Seite und lebensgeschichtlich beschrieben ist in der Regel die persönliche Glaubwürdigkeit und Zugewandtheit der Christen, die ich kennen lerne, bedeutsam. Natürlich sind professionell organisierte kirchliche Aktivitäten wünschenswert. Doch die meisten Menschen erzählen, wenn man sie fragt, wie Glauben für sie wichtig geworden ist, von Menschen, denen sie begegnet sind. Es gibt auch andere Wege: durch theologische Bücher, religiöse Musik oder die Bibel selbst. Aber auch diese sind letztlich ein Ausdruck von Menschen, sind etwas, was Menschen von Gott erzählen.

    Bei allen Reformbemühungen in der Kirche, bei allen strukturellen und konzeptionellen Änderungsversuchen sollten wir dies nicht vergessen: die Kirche ist um des Glaubens willen da, und dieser entsteht zuerst durch die Begegnung mit Menschen. Und diese gibt es schon in unseren Gemeinden, tagtäglich, auch jenseits des Lauten und Medienwirksamen. Wir können versuchen, neue Formen von Begegnung zu entwickeln und Menschen für den Umgang mit anderen zu schulen. Aber dass Menschen sich wirklich begegnen, lässt sich nicht organisieren. Quantifizieren, an Effektivität messen, in Erfolgskategorien einordnen lassen sich Begegnungen zwischen Menschen und das, was im Herzen des anderen ankommt, eben nicht.

  3. Die verborgene Kirche als die Verbundenheit durch den Glauben ist nichts, was sich jenseits der sichtbaren Kirche abspielt. Die verborgene Kirche ist verborgen in der sichtbaren Kirche. Und auch ich existiere de facto immer sichtbar, d.h. in der konkreten historischen Realität. Diese kann ich aber so oder so gestalten. Ich bin - das habe ich versucht zu zeigen - mit den anderen Glaubenden immer schon verborgen verbunden, aber wenn sich das in meinem konkreten Leben an keiner Stelle zeigt, wenn ich an keiner Stelle mehr dieser verborgenen Realität entspreche, dann zieht sich ein merkwürdiger Riss durch meine Existenz.

    Zum Kirchentag zu kommen ist eine Form davon, diese Verbundenheit in sichtbarer Weise zu leben. Spüren wir in diesen Tagen nicht etwas davon aus unserer Individualisierung und Vereinsamung herausgerissen zu sein, aus der Haltung des "ich, ich, ich", die unsere Gesellschaft so stark prägt? Wäre es nicht schön, auch im Alltag Formen zu finden, in denen wir die Sichtbarkeit unserer Verbundenheit leben, in denen wir nicht nur heimlich für uns, sondern gemeinsam und auch im gesellschaftlichen und politischen Raum für das einstehen, was unser Leben trägt? Die Teilnahme am Leben unserer Gemeinde vor Ort mit ihren mannigfachen Angeboten ist dafür eine gute Möglichkeit. Welche Ideen haben wir dafür, dass dies wirklich "unsere" Kirche wird? Wie lassen wir uns, jenseits persönlicher Ab- und Zuneigungen, von der Wirklichkeit der gemeinsamen Verbundenheit zur Mitarbeit motivieren?

Ich komme zum Schluss: Ja, die Kirche ist ein Schatz, den der Glaube birgt, insofern der Glaube die Zugehörigkeit zur Kirche in sich enthält. Die Kirche ist aber auch in dem Sinne ein Schatz, den der Glaube birgt, als nur durch den Glauben dieser Schatz freigelegt wird, weil ich die verborgene, in Gott gegründete Dimension der Kirche glauben muss.

Gleichzeitig ist die Kirche aber auch der Schatz, von dem der Glaube lebt. Ich bin mit meinen Zweifeln und Anfragen nicht allein, ich kann mit anderen Menschen darüber sprechen. Und, mehr noch: in ihrer Zuwendung, die ein Zeichen von Gottes Zuwendung ist, wird mein Glaube gestärkt.


Fußnoten:

  1. Quelle: http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Kirchenaustrittsgruende_Evangelische_Kirche%2C%201992.pdf. Anscheinend wird auf evangelischer Seite weniger mit dem auf katholischer Seite begegnenden Argument gearbeitet, man könne aus der Kirchensteuer fordernden Institution Kirche austreten, aber dennoch Glied der geistlichen Kirche bleiben, ein Argument, das die Bedeutung der Kirche für den katholischen Glauben unterstreicht. Ist dem Protestanten die Kirche weniger Herzensanliegen? - Vgl. dazu den Fall von Prof. Hartmut Zapp, der aus der katholischen Kirche als Körperschaft öffentlichen Rechts ausgetreten war, aber sich weiterhin als gläubiges Mitglied der katholischen Kirche verstehen wollte (vgl. www.kath.net).
  2. Vgl. zu dieser Unterscheidung zweier Zugangsweisen zur Kirchentheorie Kristian Fechtner, Kirche (Praktische Theologie), in: Albrecht (Hg.), Kirche, 197-218, 198.
  3. WA 41,153,29-154,20.
  4. Wobei freilich der neue Mensch zur "wahren Kirche" gehörte; vgl. Reiner Anselm, Art. Kirche V. Neuzeit, RGG4 4, 1008-1011, 1008f.
  5. Reiner Anselm, Art. Kirche V., 1009, zu J.S. Semler; vgl. Laube, Kirche, 153.
  6. So die seit der Gregorianischen Reform vorherrschende ekklesiologische Vorstellung; vgl. Walter Kasper/Joachim Drumm, Art. Kirche II., LThK3 5, 1993, 1458-1465, 1460.
  7. Vgl. Martin Laube, Kirche (Systematische Theologie), in: Kirche, hg. von Christian Albrecht (Themen der Theologie, Bd. 1), Tübingen 2011, 131-170, 133.
  8. CA 7, BSLK 61.
  9. M. Luther, Großer Katechismus, BSLK 656.
  10. WA 2, 420,6f.: "Ecclesia enim creatura est Euangelii."
  11. Vgl. zum Folgenden Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/New York 1995, 570f.
  12. Vgl. Fechtner, Kirche (Praktische Theologie), 201. In dieser Gemeinschaft stehen sie auch dann, wenn sie sich nicht konkret versammeln.
  13. Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 5, München 1987, 18.
  14. Vgl. Jens Schröter, Kirche (Neues Testament), in: Kirche, hg. von Christian Albrecht, 37-80, 38. - "Der Begriff ekklesia entstammt dagegen dem Bereich des öffentlich-persönlichen Lebens und bezeichnete ursprünglich die Versammlung der freien Bürger einer Stadt, später dann eine Versammlung überhaupt. … Die etymologische Ableitung von evkkalei/n (‚herausrufen’) spielt für das inhaltliche Verständnis des Begriffs keine Rolle." (Schröter, Kirche [Neues Testament], 38). Wichtig für die Verwendung des Begriffs ekklesia im Urchristentum ist, dass es damit "sein Selbstverständnis als endzeitliche Gemeinschaft der von Gott Berufenen ausdrückte" (ebd., 40).
  15. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, 20.
  16. Laube, Kirche, 152.
  17. Wilhelm Gräb, Sinn fürs Unendliche, Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002, 253.
  18. CA 7, BSLK 61.
  19. Vgl. auch Härle, Dogmatik, 571.
  20. Vgl. zur nachfolgenden Zusammenstellung Jan Hermelink, Die Freiheit des Glaubens und die kirchliche Organisation. Praktisch-theologische Bemerkungen zum Impulspapier des Rates der EKD "Kirche der Freiheit, in: Pastoraltheologie 96 (2007), 45-55, 50.
  21. Confessio Augustana, Art. 5, BSLK 58.
  22. Vgl. Reinhardt Brandt, Art. Ordination IV. Dogmatisch, in: RGG4 6, 622-625, 623.
  23. WA 6, 407.
  24. WA 6, 408,13-17. In einer Notsituation darf jeder Christ alle pfarramtlichen Aufgaben übernehmen (vgl. WA 38, 494,13-16).
  25. WA 50, 633,6ff.
  26. WA 12 189,23.
  27. WA 6, 408,13-17 (meine Modernisierung).
  28. Confessio Augustana, Art. 14, BSLK 69 (meine Eindeutschung)
  29. G. Neebe, Allgemeines Priestertum bei Luther und in den lutherischen Bekenntnisschriften, in: R. Rittner (Hg.), In Christus berufen. Amt und allgemeines Priestertum in lutherischer Perspektive, 2001, 57-79, 68.
  30. Auch im Gottesdienst selbst ist nicht der Pfarrer der, der liturgisch redet, die Gemeinde redet mit; in Luthers Worten: wir "lassen unsern Pfarrherrn nicht für sich, als für seine Person die Ordnung Christi sprechen, sondern er ist unser aller Mund, und wir alle sprechen sie mit ihm von Herzen" (WA 38, 247,9ff.).
  31. Confessio Augustana, Art. 15, BSLK 69.
  32. Von den guten Werken, AS 1, 101.
  33. Von den guten Werken, AS 1, 101.
  34. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, Vermischte Meinungen und Sprüche 98.
  35. Sie findet sich auch schon bei Luther: WA 18, 652,23; Härle, Dogmatik, 572.
  36. Mit der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche meinte man in der Reformationszeit eine Unterscheidung zwischen denen, die äußerlich Glieder der Kirche sind, vielleicht auch an kirchlichen Vollzügen teilnehmen, aber nicht wirklich an Christus glauben, auf der einen und denen, die ebenfalls äußerlich zur Kirche gehören, aber eben auch wahrhaft glauben, auf der anderen Seite (vgl. ApolCA 7, BSLK, 236. 238). Zur sichtbaren Kirche gehören beide, aber zur unsichtbaren nur die wahrhaft Glaubenden. Auch wenn man hinzufügt, es sei nicht von außen zu erkennen, wer nicht nur zur sichtbaren, sondern auch zur unsichtbarer, zur Kirche im engeren Sinn gehöre, ist schnell zu sehen, was ein solcher theologischer Ansatz bewirkt: man kann kaum umhin, sich zu fragen, ob der andere, der doch bei seinen Gebeten so wenig fromm aussieht und außerdem am letzten Sonntag mal wieder nicht im Gottesdienst war, wirklich zur unsichtbaren, wahren Kirche gehört. Ein skeptisches den anderen - und vielleicht auch sich selbst - Beäugen ist die Konsequenz. Das Konzept der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche ist das von zwei ineinander enthaltenen Kreisen: Die unsichtbare Kirche enthält die wahren Glaubenden. Die sichtbare Kirche sind die wahren Christusgläubigen plus die Heuchler. (vgl. Härle, Dogmatik, 573) Dies aber führt nicht nur zum kritischen Beäugen, sondern auch zur Diskreditierung der sichtbaren Kirche.
  37. WA 17/II, 501,32.
  38. DB 7, 418.
  39. Vgl. WA 39/II, 161,8. Vgl. Härle, Dogmatik, 575. Vgl. WA 18, 652: "… [wir] müssen uns alle gegenseitig für heilig halten nach dem Recht der Liebe".
  40. Nach dem Nizänokonstantinopolitanum glaubt Christenheit an (Pisteu,omen eivj) die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche. Die spätere lateinische Fassung hat Credo (sg.) und kein "in". Während Calvin die Fassung ohne "eis" für besser hielt, weil Vertrauen nur Gott allein zukomme, betont Jüngel, dass die Kirche als Werk Gottes, als Kreatur des Evangeliums (Luther) nur dem Glauben erkennbar ist und in diesem Sinne in gleicher Weise Gegenstand des Glaubens sei wie auch der Vater, Jesus Christus und der Heilige Geist geglaubt werden. Jüngel, Credere in ecclesiam, 179.
  41. Vgl. Härle, Dogmatik, 575.
  42. Ein Urteil Luthers über die Klostergelübde, Luther deutsch, Bd. 2, 319.
  43. Vgl. Härle, Dogmatik, 575.
  44. D. Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche, DBW 1, München 1986, 149.
  45. Vgl. Härle, Dogmatik, 575.
  46. Vgl. Härle, Dogmatik, 575.
  47. Die sichtbare Kirche hat eben zwei Dimensionen: die sichtbare Versammlung, deren sichtbare Kennzeichen rechte Evangeliumspredigt und Sakramentsverwaltung sind - und die sichtbaren Menschlich- und Unmenschlichkeiten. Erstere reichen, damit da Kirche ist; letztere sollen immer mehr dem geglaubten Wesen der Kirche entsprechen.
  48. Ebeling, Dogmatik, Bd. 3, 370.
  49. Ebeling, Dogmatik, Bd. 3, 369f.