Erklärung von Kirche und Diakonie zur Situation von Kindern und Jugendlichen in evangelischen Heimen von 1945 bis 1975

Nikolaus Schneider und Johannes Stockmeier

Im Rahmen der öffentlichen Veranstaltung am 11. September 2011 in der Französischen Friedrichstadtkirche in Berlin erklärte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Nikolaus Schneider, zusammen mit dem Präsidenten des Diakonischen Werkes der EKD, OKR Johannes Stockmeier, vor den anwesenden ehemaligen Heimkindern:

- Es gilt das gesprochene Wort -

Kinder und Jugendliche, die in den ersten Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik in Heimen schweres Leid erfahren haben, sind dadurch für ihr ganzes Leben geprägt. Allzu lange schwieg die Öffentlichkeit, schwiegen auch wir, zu diesem vielfach verdrängten Leid. Zwar änderten sich die Verhältnisse in der Jugendhilfe durch die Heimreform der 70er Jahre grundlegend, aber das Stigma, Heimkind zu sein, wirkte lange nach und verhinderte die notwendige Aufarbeitung. Die Opfer sind lange Zeit aus dem Blick geraten. Wir müssen eingestehen: Erst ein Anstoß von außen und die Stimmen der Betroffenen, die den Mut hatten, ihre Erlebnisse und Traumata öffentlich zu benennen, haben uns die Augen dafür geöffnet, dass Leid, das viele Heimkinder auch unter Verantwortung von Kirche und Diakonie ertragen mussten, bis heute fortwirkt.

Heute sehen wir Missstände in evangelischen Heimen und Leid, das sie bei Betroffenen verursacht haben, deutlich. Gewalt wurde nicht selten als Mittel zur Durchsetzung erzieherischer Maßnahmen eingesetzt. Kinder und Jugendliche wurden oft mit dem Ziel, ihren Willen zu brechen, auf menschenunwürdige Weise erniedrigt. Es gab Fälle sexueller Gewalt durch Heimpersonal und durch andere Jugendliche. In evangelischen Heimen wurde religiöse Erziehung vielfach mit Zwang verbunden. Die Beschränkung der Betreuung auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und äußere Gesundheit und auf das Funktionieren der Gruppe stand oft so sehr im Vordergrund, dass eine individuelle Förderung häufig unterblieb. Vielen Kindern und Jugendlichen wurden dadurch Bildungs- und Ausbildungschancen verwehrt. Häufig fehlte es an menschlicher Wärme, die für die Entwicklung von Kindern, gerade auch in Säuglingsheimen, so lebensnotwendig ist. Das wenige Personal, aufgrund der damaligen Rahmenbedingungen oft unterbezahlt, unzureichend ausgebildet und schlecht angeleitet, war häufig überfordert. Viele handelten hartherzig oder hilflos. Darunter mussten die Kinder leiden. Wenn es engagierten Mitarbeitenden trotzdem gelang, eine Atmosphäre der Warmherzigkeit herzustellen, so war das kein Ausgleich für die Mängel, unter denen Kinder und Jugendliche litten.

Arbeit, selbst für Kinder, galt damals als wichtiges Erziehungsmittel, das vielfach missbräuchlich eingesetzt wurde. Die Wertschöpfung durch die verpflichtende Arbeitsleistung der Kinder und Jugendlichen wurde gemäß den damals geltenden Regelungen für die Eigenversorgung der Heime eingesetzt. Wo dieser Arbeitseinsatz ohne vertragliche Grundlage erfolgte, sind Lücken bei der Rentenversicherung entstanden.

In dem Prozess der Aufarbeitung, der allen Beteiligten viel abverlangt, wurden diese Missstände immer deutlicher sichtbar. Zu diesem Prozess gehört es, den Betroffenen zuzuhören und sich dem benannten Leid zu stellen. Dieser Weg ist für Betroffene, die das Schweigen überwinden, nicht leicht. Wir danken allen, die mitgeholfen haben, die Wahrheit ans Licht zu bringen.

Denn zur öffentlichen Aufarbeitung gehören das Benennen von Tatsachen, die Dokumentation von Details und das Erkennen verdrängter Wahrheiten, wie es etwa in dem an der Universität Bochum durchgeführten Projekt oder in Publikationen von diakonischen Trägern erfolgt ist. Auch wenn hier weitere Arbeit geleistet werden muss, wird heute das schwere Leid, das Kinder und Jugendliche in der Nachkriegszeit auch in Heimen in evangelischer Trägerschaft erfahren haben, klar benannt und anerkannt.

Was in evangelischen Heimen an Fehlverhalten geschehen ist, steht deutlich im Widerspruch zu unseren christlichen Überzeugungen. Die Wertschätzung, der Respekt vor der Einzigartigkeit der Kinder und Jugendlichen und das Recht auf würdevollen Umgang miteinander sind Ansprüche, die in der Arbeit in evangelischen Heimen vielfach verfehlt wurden. Es fällt uns schwer und es ist schmerzlich, dieses Versagen zu bekennen. Es beschämt uns, dass die Atmosphäre in evangelischen Heimen oft nicht vom Geist christlicher Liebe geprägt war. Damit sind Kirche und Diakonie schuldig geworden – vor denen, die uns anvertraut waren, und vor Gott.

Wir werden den begonnenen Weg der Aufarbeitung, der persönlichen Begleitung und des Dialogs weiter gehen und unseren Beitrag zur Übernahme von Verantwortung leisten. Wir rufen nochmals alle Einrichtungen auf, die Geschichte ihrer Erziehungspraxis aufzuklären und auf ihre ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner zuzugehen. An der Bereitstellung angemessener Hilfen und materieller Unterstützungen für die Opfer werden wir uns beteiligen. Dabei sind wir uns bewusst, dass materielle Hilfen lindern und befrieden, aber verlorene Lebenschancen nicht wieder gut machen können. Der Prozess der Aufarbeitung und die Suche nach einem angemessenen Umgang mit dem erfahrenen Leid sind Ausdruck dessen, dass wir unser Versagen erkennen.

Im Namen der Evangelischen Kirche in Deutschland und im Namen des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland bitten Präsident Stockmeier und ich die betroffenen Heimkinder für das in evangelischen Heimen erfahrene Leid um Verzeihung.