Stellungnahme bei der Pressekonferenz zur Vorstellung der EKD-Denkschrift „Und unsern kranken Nachbarn auch! Aktuelle Herausforderungen der Gesundheitspolitik“

Prof. Dr. Peter Dabrock, Erlangen, Vorsitzender der ad-hoc-Kommission der EKD

Für die vorliegende Denkschrift zu aktuellen Herausforderungen der Gesundheitspolitik gilt wie für alle kirchlichen Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Fragen das berühmte Wort Richard von Weizsäckers aus dem Jahre 1996: „Es kann … nicht darum gehen, Politik zu ‚machen‘, aber es geht halt doch darum, Politik möglich zu machen.“ Im Sinne der Ermöglichung von Gesundheitspolitik, nicht als ein weiterer Beitrag für unmittelbar anstehende Reformbemühungen ist daher die neue Denkschrift zu lesen. So verstehen sich ihre kritischen Analysen der gegenwärtigen Situation, die Identifizierung entscheidender ethischer, rechtlicher, ökonomischer und medizinischer Kriterien für eine gerechte und gute Gesundheitspolitik wie die umfangreichen Empfehlungen, die der Rat aus dem Zusammendenken von Analyse und Kriterien ableitet.

Zum Teil ergeben sich daraus tatsächlich sehr aktuelle Anregungen, z. B. für die bald anstehende Reform der Pflegeversicherung: Wenn der Mensch, der zu Pflegende, der Angehörige, der Pflegende, im Mittelpunkt stehen soll, dann sollten die massiven Reibungsverluste, die sich aus der Schnittstellenproblematik der unterschiedlichen Sozialgesetzbücher ergeben, offensiv angegangen werden. Bei der Leistungserbringung sollte ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff leitend werden: weg von einem verrichtungsbezogenen hin zu einem, der sich daran orientiert, wie viel nötig ist, damit die zu Pflegenden ihre eigenen Lebensbereiche möglichst eigenständig gestalten können. Bei der Finanzierung der Pflegeversicherung kann darüber nachgedacht werden, eine kapitalbildende Versicherung einzuführen. Sie wird aber systematisch Menschen mit niedrigem Einkommen, als deren Anwalt sich die EKD begreift, benachteiligen. Eine Einbeziehung anderer Einkommensarten als dem Erwerbseinkommen zur Berechnung der Beiträge erscheint demgegenüber gerechter.

Zum Teil sind die Empfehlungen mittel- bis langfristig ausgerichtet. Dies ist der Fall, wenn der Rat eine Überwindung der hergebrachten, aber im Prinzip als unsolidarisch und ineffektiv eingestuften Systemkonkurrenz zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung kritisiert und langfristig für eine neue Konvergenz beider Versicherungssysteme plädiert. Auch hier ist ernsthaft zu erwägen, die Beiträge nicht einfach an das Erwerbseinkommen zu koppeln. Denn ein zunehmender Teil des Einkommens stammt aus Privatvermögen. Versicherte mit solchen Erträgen werden systematisch und damit ungerechterweise bevorzugt.

Zum Teil – und hierauf und nicht nur auf die von Manchem möglicherweise als politische Provokation empfundenen, aktuellen Empfehlungen zu achten, rate ich besonders – weist der Rat aber auch auf vernachlässigte Handlungsfelder einer umfassend verstandenen Gesundheitspolitik hin. Gerade wenn man Gesundheitspolitik nicht nur als Geschäftsfeld eines gleichnamigen Ministeriums begreift, sondern sie intensiver verknüpfen würde mit anderen zivilgesellschaftlichen und politischen Aktivitäten, erschlössen sich nachhaltig neue Ressourcen zur Verbesserung des gesundheitlichen Status der Menschen im Lande – und so auch zum Vorteil für die klassische Gesundheitspolitik. Mit der vorliegenden Denkschrift bringt die Evangelische Kirche ihre feste Überzeugung zum Ausdruck: Die ohne Zweifel großen Herausforderungen der Gesundheitspolitik sind nur zu meistern, wenn endlich der Blick über die klassischen gesundheitspolitischen Handlungsfelder hinaus geweitet wird: „Themen wie Bildungsfragen, Familienförderung oder Fragen der Quartiersentwicklung [sind] in den Verantwortungsdiskurs über Gesundheitspolitik [einzubeziehen].“ (S. 28f.) Umgekehrt bedeutet dies auch: In den genannten Bereichen schlummern bisher noch ungenutzte Ressourcen für ein tragfähiges und menschengerechtes Gesundheitssystem. Diese Ressourcen müssen aber sektorübergreifend eingesetzt werden.

Wenn dabei der Mensch wirklich im Mittelpunkt stehen soll, wie die EKD besonders im Kapitel über die leitenden Kriterien einer gerechten und guten Gesundheitspolitik anmahnt, sind einige klare Grundsätze und Zielperspektiven zu beachten:
Die bisher allzu sehr vernachlässigte Prävention sollte nicht so sehr auf individuelle Verhaltensänderung setzen. Wenn man nämlich, wie es die Kirche möchte, die Menschen im Blick hat, die Schwierigkeiten haben, ihr Leben zu meistern, weiß man: Der vorrangige Appell an eigenverantwortliches Handeln bringt zu selten Erfolg (so wichtig der auch ist). Vielmehr kommt der in der Regel aus der Änderung der Verhältnisse.

Ganz wichtig ist zudem die Stärkung der Menschen, die sich als Angehörige oder Nachbarn dafür einsetzen, dass Kranke und Pflegebedürftige in ihrer bisherigen Lebenswelt verbleiben können. Nicht nur volkswirtschaftlich, sondern auch im Sinne einer menschlichen Gesellschaft müssen hier Konzepte entwickelt werden, solche Pflegenden zu pflegen. Nur durch ihre Unterstützung kann dem wachsenden Pflegebedarf einigermaßen angemessen begegnet werden.
Aber auch die im Pflege- und Gesundheitssystem arbeitenden Menschen müssen gestärkt werden. Ihr Professionsverständnis weiterzuentwickeln stellt eine wichtige Ressource für ein humanes Gesundheitssystem dar, das sich nicht nur als ein Wachstumsmarkt begreift. Wo Patienten den Eindruck gewinnen, dass sie von den im Gesundheitssystem Beschäftigten als Menschen und nicht nur als Fall behandelt werden, da verbessern sich nicht selten die Heilungschancen. Eine menschenzentrierte Medizin hat daher auch – und in dieser Aufgabe liegt ein wichtiger Beitrag für Kirchen, Diakonie, Gemeinden und einzelne Christinnen und Christen – die spirituellen Ressourcen für Heilungsprozesse erneut in den Blick zu nehmen. Dass eine kommunikationsbasierte Medizin auch refinanziert werden muss, steht außer Frage. Kaum zu fragen ist aber wohl, dass sie uns das wert sein sollte.

Wenn der Rat der EKD an diese elementaren, zu sehr aus dem Blick geratenen Verbesserungsmöglichkeiten einer gerechten und nachhaltigen, umfassenden Gesundheitspolitik erinnert, spricht er sich nicht gegen Wettbewerb im Gesundheitssystem aus. Im Gegenteil, es wird ausdrücklich betont, dass der Wettbewerb bei Leistungserbringern wie bei Kassen zu ungeahnten Effizienzhebungen geführt hat. Dennoch mahnt der Rat, zwischen sinnvollem Wettbewerb und einer schrankenlosen Vermarktlichung des Gesundheitssystems zu unterscheiden. Hier gilt es, den Markt für Gesundheitsleistungen zu regulieren und Leistungsangebote zu optimieren. Nicht regulierte Wettbewerbsimperative schwächen zu viele Akteure wie die meisten Patienten und unterlaufen das grundlegende Prinzip und hohe Gut der Solidarität. Die Solidarität, wie sie seit Jahrzehnten im deutschen Gesundheitssystem u.a. zwischen Gesunden und Kranken, aber auch zwischen reicheren und ärmeren Beitragszahlenden geübt wird, erweist sich gerade in der Finanz- und Wirtschaftskrise als ein Pfund unseres Gemeinwohls. Man sollte es nicht nur nicht aufs Spiel setzen, sondern vielmehr angesichts der Krise noch mehr stärken. In diesem Sinne sind die konkreten Vorschläge, die der Rat mit Blick auf die Entwicklung von Kranken- und Pflegeversicherung unterbreitet, zu lesen. Sie sind vor allem dem Gedanken verpflichtet, dass wir niemanden in der Gesellschaft abhängen dürfen. Genau deshalb legt der Text auch einen besonderen Akzent darauf, die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, die Deutschland 2009 ratifiziert hat, als Chance der Gesundheitspolitik zu begreifen, Teilhabe für alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zu ermöglichen. Eigenverantwortung sollte entsprechend nicht als verkappte Forderung, bisherige Versicherungsleistungen zu privatisieren, verstanden werden, sondern als Ziel, alle Menschen gemäß ihren Möglichkeiten zu stärken und zur Selbstsorge zu befähigen. In diesem Sinne versteht sich der Titel der Denkschrift: Menschen als Nächste wahrzunehmen und sie in ihrer Nächstenschaft zu stärken – durch Gebet in der Nacht, der die Gerechtigkeit am Tage entsprechen sollte.

Kurzum: Die aktuellen Herausforderungen sind gewaltig, die Krise bietet aber eine noch größere Chance, sich der Potentiale jenseits reiner Marktorientierung zu erinnern, die wir auch haben und nutzen sollten: Solidarität und Mitmenschlichkeit. Die vielfältigen Möglichkeiten, die die EKD benennt, Menschen wieder mehr in den Mittelpunkt der Gesundheitspolitik zu rücken, bieten starke Impulse für ein gerechtes und nachhaltig tragfähiges Gesundheitssystem. Mit der vorliegenden Denkschrift kann daher eine innovative Gesundheitspolitik möglich gemacht werden.

Es gilt das gesprochene Wort.