Predigt über Offenbarung 5, 1-5 anlässlich der Ökumenischen Adventsvesper mit Kardinal Meisner in der Kölner Basilika St. Aposteln am Neumarkt

Nikolaus Schneider

Liebe Gemeinde,

morgen feiern wir den ersten Advent.
Wieder beginnt diese Zeit der Erwartung und der Hoffnung auf Kommendes,
auf den kommenden Herrn.

Wieder hören und singen wir:
„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit;
Es kommt der Herr der Herrlichkeit,
ein König aller Königreiche,
ein Heiland aller Welt zugleich;
der Heil und Leben mit sich bringt;
derhalben jauchzt, mit Freuden singt:
Gelobet sei mein Gott,
mein Schöpfer reich von Rat.“

Vielleicht, liebe Gemeinde,
vielleicht ist manchen von Ihnen aber gar nicht zu Jauchzen und freudigem Singen zu Mute.
Vielleicht sehen, erfahren und fühlen sie in diesen dunklen Novembertagen nicht Weite und Herrlichkeit, nicht Heil und Leben, sondern Enge und Bedrückung, Unheil, Zerstörung
und Tod.

Seit mehr als zweitausend Jahren feiert die Christenheit den Advent,
und bezeugt die Ankunft des Gottessohnes auf dieser Erde.

Und doch:
Noch immer und immer wieder neu zeigt sich uns Menschen diese Welt und unser Leben auch als ein
Tal der Tränen.

Und noch immer und immer wieder neu überkommen uns Menschen Zweifel an der
Menschenfreundlichkeit und der Gegenwart Gottes.

Wir lassen uns erinnern an die Weihnachtsbotschaft der Heiligen Schrift, an das Jubellied des Engels, der den Menschen zurief:
„Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird;
denn euch ist heute der Heiland geboren!“
Und wir sehnen uns danach,
dass diese Botschaft auch für uns, für unser Leben und unser Volk erfahrbar wird.

In uns ist eine tiefe Sehnsucht,
eine Hoffnung danach, dass nicht alles so bleiben muss, wie es ist.
Wir brauchen die Adventszeit.
Die Zeit der Erwartung und der Hoffnung auf den kommenden Herrn.

Wir brauchen Bilder und Verheißungen, die uns den Himmel öffnen.
Wir brauchen eine Hoffnung und einen Glauben, die über das hinausweisen,
was wir auf unserer Erde alltäglich sehen, erfahren, erleiden und tun.

Im letzten Buch der Bibel, im Buch der Offenbarung des Johannes, werden uns viele solcher Bilder geschenkt. Hören wir den Predigttext für den ersten Advent.

Ich lese die Verse 1 bis 5 aus dem 5. Kapitel der Offenbarung:

„Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß,
ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln.

Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme:
Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?
Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde,
konnte das Buch auftun und hineinsehen.

Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde,
das Buch aufzutun und hineinzusehen.

Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht!
Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel.“

Das Buch der Offenbarung, liebe Gemeinde, wurde wahrscheinlich am Ende der Regierungszeit des
römischen Kaisers Domitian geschrieben, der bis 96 n. Chr. regierte.
In dieser Zeit nahm der römische Staats- und Kaiserkult zu und Domitian verlangte schon zu seinen
Lebzeiten göttliche Verehrung.

Christenmenschen standen vor schweren Herausforderungen:
Sollten sie sich vor einer Kaiserstatue verbeugen?
Sollten sie das Opferfleisch der Tiere essen, die römischen Göttern geopfert wurden.
Sollten sie die Feste mitfeiern, die zu Ehren des Kaisers zelebriert wurden?
Wenn sie sich widersetzten, dann wurden sie als Staatsfeinde verdächtigt, dann riskierten sie ihr
Leben.

Johannes deutet in seinem Buch der Offenbarung diese Not der Menschen.
Er ist sich ganz gewiss, dass das Ende dieser unheilen und ungerechten Welt ganz nahe ist,
dass das Gericht über diese Welt bald anheben wird, dass die Ankunft des verherrlichten Christus zur
Erlösung der Seinen nahe bevorsteht.In dieser „letzten Zeit“ müssen die Glaubenden zwar noch
leiden,aber durch das Leiden führt ihr Weg doch ganz gewiss in die Herrlichkeit des Gottesreiches.

Wir Christenmenschen heute wollen und müssen uns nicht unseren Kopf darüber zerbrechen, ob und wann diese „letzte Zeit“, die „Endzeit“ für unsere Welt anbricht.

Eins aber ist gewiss: In der Stunde unseres Todes werden wir der Ankunft des verherrlichten Christus begegnen. Auf alle anderen zeitlichen Spekulationen über ein Datum des Weltendes können wir ruhig verzichten!

Im Buch der Offenbarung schaut Johannes in den geöffneten Himmel. Und mit seinen Visionen will er auch unsere Augen für den Himmel öffnen und unsere Herzen mit Zukunftshoffnung erfüllen. Damit wir Kraft gewinnen für unsere Gegenwart.

Drei Bilder sind es, die uns diese Kraft vermitteln sollen:
das Buch mit den sieben Siegeln,
der Löwe aus Juda,
und die Wurzel Davids.

Zum Ersten: Das Buch mit den sieben Siegeln

„Das ist für mich ein Buch mit sieben Siegeln!“ -,
dieser Seufzer, liebe Gemeinde, wurde jenseits unserer Kirchensprache zu einem Bildwort für totales Nichtverstehen.

Aber nicht darauf will das Bild unseres Predigttextes abheben.

Unser Predigttext meint hier eigentlich auch kein Buch, sondern eine Papyrusrolle, die eingerollt und – wie bei Urkunden damals üblich - siebenfach versiegelt war. So, dass niemand den inneren Urkundentext verändern konnte.

Die Beschriftung außen gab dem Besitzer einen kurzen aber ausreichenden Hinweis auf den Inhalt der Urkunde. Lediglich bei einem Rechtsstreit wurden die Siegel geöffnet und der Innentext gelesen.

Wer das verlangte, bestritt damit das Recht dessen, der die Urkunde besaß.

Hier ist Gott im Besitz der Urkunde und hier wird das Recht Gottes bestritten.

Dem Seher Johannes wird die tröstliche Offenbarung zuteil: kein Mensch, keine irdische Gewalt kann die Siegel öffnen. Gottes Rechte auf die Welt und das Leben bleiben unangetastet!

Christus allein vermag es, das Buch bzw. die Rolle mit den sieben Siegeln zu öffnen und damit das Recht Gottes für alle Welt zu beweisen.

Das von Christus geöffnete Buch mit den sieben Siegeln soll und kann allen Zweifeln und Bedrängnissen dieser Welt zum Trotz von der Nähe und dem Segen Gottes vollmächtig Zeugnis
geben.

Dass Gott die Kraft hat, die Seinen zu bewahren und zu tragen, dass ist für alle Zeiten verbrieft und besiegelt! Das ist dem Johannes offenbart!

Zum Zweiten: Christus, der Löwe von Juda

„Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun“, hatte den Rechtsrang, die Urkunde über Gottes Recht zu öffnen.

Angewiesen sind wir auf den, der die Brücke zwischen Himmel und Erde verkörpert: auf Jesus Christus, der aus dem Stamm Juda geboren und mit seiner Auferstehung zu Gott erhöht ist.

Ein Symbol des Stammes Juda ist der Löwe.

Auf zwei Schriftstellen bezieht sich dieses Symbol.
Auf ein Wort Jakobs an seinen Sohn Juda:

„Juda ist ein junger Löwe. Du bist hochgekommen, mein Sohn, vom Raube. Wie ein Löwe hat er sich hingestreckt und wie eine Löwin sich gelagert.“ ( Gen 49, 9 )

Und auf die Verheißung des Propheten Jesaja, dass eine Zeit kommen wird, in der Stier und Löwe miteinander weiden, weil Gottes Frieden herrscht. ( vgl. Jes 11, 6-9 ).

Deshalb ist in manchen Gegenden der Löwe Teil der Krippenszene. Er liegt bei den Schafen und freut sich am geöffneten Himmel.

Das Bild unseres Predigttextes steht für diese beiden Botschaften:

Christus, der Löwe aus dem Stamm Juda, ist kraftvoll und mächtig. Er droht als Löwe all denen, die Gottes Recht anfechten.

Und: Christus, der Löwe aus dem Stamm Juda, steht ein für den Frieden Gottes.

Und zum Dritten: Christus, die Wurzel Davids

Dieses dritte Symbolwort wird gar zu schnell falsch übersetzt oder falsch interpretiert als „Spross aus der Wurzel Davids“. Anders aber als beim Propheten Jesaja, wo von „einem Spross aus der Wurzel Isais“ die Rede ist, wird hier in dem Offenbarungstext eine andere Perspektive gewählt:

Vom Himmel aus gesehen ist Chrsitus nicht ein Spross Isais, sondern die Wurzel Davids. Nicht Christus folgt David, sondern:

Christus geht David voraus wie eine Wurzel, die trägt und nährt, was aus ihr wächst.

Jede Wurzel aus unserem Garten kann es uns verdeutlichen:

Die Pflanzen über der Wurzel sterben im Winter ab. In der Wurzel dagegen bleibt die Kraft. Sie kann neue Blüten, neue Früchte, neues Leben tragen.

Wenden wir dieses Bild auf unseren Predigttext an, so sieht er im Himmel den Boden und im himmlischen Christus gleichsam die Wurzel für alles irdische Leben.

Wie blühende Pflanzen in guter Erde wurzeln, so wurzelt ein gesegnetes Leben von Menschen in der Kraft des Himmels und in der Kraft des erhöhten Christus.

Der offene Himmel ruft uns Menschen, uns dort, bei Gott und Christus zu verwurzeln. Die himmlische Wurzel wird uns tragen, nähren und stützen, in allem was uns gegenwärtig bedrängt
und beschwert, bis dass unser Herr kommt.

Aus drei Bildern der Offenbarung des Johannes, liebe Gemeinde, soll uns heute zu Beginn der Adventszeit Kraft und Segen für unsere Gegenwart zuwachsen.

Unser Predigttext will unsere Augen und Herzen für den Himmel öffnen und uns so auf das Weihnachtsfest und für den zukünftigen Advent Christi vorbereiten.

Wir erwarten keine Katastrophen-Endgeschichte und kein heilloses Gottesgericht.

Wir erwarten Christus, den machtvollen Herrn der Herrlichkeit,
der uns als ein Heiland aller Welt entgegenkommt;
der Heil und Leben auch für unsere angefochtenen und verwundeten Herzen mit sich bringt.
Deshalb können und wollen wir jauchzen und mit Freuden singen:
Gelobet sei unser Gott, unser Schöpfer reich von Rat.

Eine gesegnete Adventszeit!