Predigt im Gottesdienst anlässlich 50 Jahre Aktion Sühnezeichen Friedensdienste im Dom zu Magdeburg (2. Korinther 4, 16 – 18)
Nikolaus Schneider
Liebe Gemeinde!
„Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“
So lautet der Titel eines philosophischen Bestsellers von Richard David Precht.
Das Buch macht vielen Menschen Mut, auf eine innere Entdeckungsreise zu gehen. Es macht Mut, nach uns selbst zu fragen – gerade dann, wenn äußere Umstände uns verunsichern. Wenn der Erfolg unseres Tuns oder sogar unsere ganze Zukunft in Frage stehen.
Wer bin ich?
Diese Frage bewegte auch Dietrich Bonhoeffer, als er im Gefängnis auf seinen Prozess wartete.
„Ich habe das Gefühl, ich werde durch das, was ich sehe und höre, um Jahre älter und die Welt wird mir oft zum Ekel und zur Last.“, schrieb er an seinen Freund Eberhard Bethge. Und weiter:
„Ich frage mich selbst oft, wer ich eigentlich bin,
der, der unter diesen grässlichen Dingen hier immer wieder sich windet und das heulende Elend kriegt, oder der,…, nach außen hin als der Ruhige, Heitere, Gelassene, Überlegene dasteht und sich dafür bewundern lässt?
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?“
Dietrich Bonhoeffer hat den Widerspruch zwischen der Außenwirkung seiner Persönlichkeit und der eigenen Selbstwahrnehmung nicht lösen können. Aber er konnte diesen Widerspruch getrost in Gottes Hände legen:
„Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“
Eben dieser Widerspruch zwischen seiner Außenwirkung und der inneren Selbstwahr-nehmung bewegte auch den Apostel Paulus vor fast 2000 Jahren. Paulus leidet unter der Diskrepanz von äußerer Unansehnlichkeit und Schwäche auf der einen und innerer Kraft und innerem Strahlen auf der anderen Seite.
Ganz nüchtern sieht er seine Situation: Ihn quälen chronische Schmerzen, und dazu mehren sich die Anzeichen seines alternden Körpers. Viele Gemeindeglieder in Korinth zweifeln deshalb an seiner Kompetenz und Berufung als Apostel. Paulus will die existentielle Frage „Wer bin ich?“ nicht beantworten mit dem Verweis auf seine äußere Erscheinung und auf seine sichtbaren Erfolge. Paulus singt in dem Predigttext für diesen Gottesdienst ein Loblied auf den inneren Menschen und auf das Unsichtbare.
Ich lese die Verse 16 bis 18 aus dem 4. Kapitel des 2. Korintherbriefes:
„Darum werden wir nicht müde;
sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt,
so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.
Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist,
schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit,
uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare.
Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich;
Was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“
Paulus weiß, dass das eigene Selbstwertgefühl oft im Widerspruch steht zu der Außenwahrnehmung von Mitmenschen. Selbst wenn diese Mitmenschen Glaubens-geschwister sind. Und Paulus ist – wie Dietrich Bonhoeffer - getragen von der Gewissheit: Aus der Perspektive Gottes ist der Unterschied zwischen dem inneren und äußeren Menschen aufgehoben! Gott sieht nicht allein auf unsere Außenwirkung. Gottes Liebe und Wertschätzung müssen wir uns nicht verdienen durch unsere äußere Gestalt und durch äußere Erfolge.
„Ein Mensch sieht, was vor Augen ist,; der HERR aber sieht das Herz an.“, so heißt es im 1.Samuelbuch (1.Samuel 16,7b).
Deshalb will Paulus auch den Blick von Christinnen und Christen auf „das Unsichtbare“ lenken. Deshalb will er unsere Sensibilität wecken und schärfen für den „inneren Menschen“ - in uns selbst und in unseren Mitmenschen.
Paulus unterscheidet in der Tradition der hellenistischen Philosophie den „äußeren“ von dem „inneren“ Menschen und interpretiert beides aus seinem Glauben heraus.
Der „innere Mensch“ ist diejenige Dimension des Fühlens und Denkens, die sich an Gottes Wort orientiert; diejenige Dimension im Menschen, die schon hier und jetzt offen ist für Erfahrungen, die im kommenden Reich Gottes umfassende Realität sein werden.
Deshalb will Paulus unsere Sensibilität wecken und schärfen für den „inneren Menschen“ - in uns selbst und in unseren Mitmenschen. Denn: Wer schon jetzt einen Geschmack von dem kommenden Frieden und der kommenden Gerechtigkeit hat, der wird schon hier und jetzt danach hungern und dürsten. Versöhnung, Sühnezeichen und Friedensdienste werden dann die Haltung und das Handeln der Menschen schon in der Gegenwart bestimmen.
Paulus ist sich gewiss: Unser „innerer Mensch“ kann schon jetzt - in unserem vergänglichen Leben - Anteil gewinnen an der verheißenen zukünftigen unvergänglichen Herrlichkeit.
In einer Welt, die uns täglich die Vergänglichkeit unseres Körpers und die Vergänglichkeit unseres Planens und Gestaltens vor Augen führt, ermutigt uns Paulus mit der Zusage:
„wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.“
Auch wenn es uns äußerlich nicht gut geht,
auch wenn unsere Sühnezeichen nicht angenommen werden,
auch wenn unsere Friedensarbeit wieder einmal scheitert,
wir müssen nicht verzagen und nicht verbittern.
Gott will uns und Gott wird uns von Tag zu Tag neue Kraft schenken.
Im Glauben an Jesus Christus beantworten sich nicht alle Fragen und verschwinden nicht alle Probleme. Und wir haben mit unserem Glauben keine Erfolgsgarantie für alle unsere Friedens- und Versöhnungsprojekte abonniert. Das Nebeneinander und das Ineinander von Scheitern und Erfolg, von bedrückter und jubelnder Existenz wird unser Leben weiter begleiten. Und manchmal auch der Widerspruch zwischen der Außenwirkung unserer Persönlichkeit und unserer eigenen Selbstwahrnehmung. Aber wir können unseren Jubel und unsere Bedrückung und alle Widersprüche zwischen unserem äußeren und inneren Menschen getrost in Gottes Hände legen. Gottes Wort wird unseren Blick öffnen für das Unsichtbare, für die kommende Welt, die uns schon heute verändert. So gewinnen wir eine befreiende Distanz zu den Konventionen und vorgeblichen Sachzwängen, die unseren „äußeren Menschen“ prägen.
- Wir müssen nicht immer und überall darüber nachdenken, wie wir uns am besten „verkaufen“ können.
- Wir müssen nicht allein nach beruflicher Karriere und materiellen Besitztümern hungern und dürsten, sondern können von Tag zu Tag neu nach den Idealen, Hoffnungen und Visionen fragen, die unsere Herzen und unseren Verstand bewegen.
- Wir können beharrlich nach Versöhnung, Frieden und Gerechtigkeit suchen und so Gottes Reich auf Erden wachsen lassen.
Lassen wir uns von Gottes Wort ermutigen, auf eine innere Entdeckungsreise zu uns selbst zu gehen. Fragen wir immer wieder neu nach dem, was unsere Identität ausmacht – gerade dann, wenn äußere Umstände uns verunsichern. Wenn der Erfolg unseres Tuns oder unser zukünftiger Lebensweg in Frage stehen. Und lassen wir dabei unseren „inneren Menschen“ Tag für Tag von Gott erneuern! Dann werden wir Gottes unsichtbare kommende Welt inmitten unserer sichtbaren vergänglichen Menschenwelt entdecken, dann wird Zuversicht unser Leben bestimmen. Wir können Hoffnung ausstrahlen, Zeichen der Versöhnung suchen und Schritte des Friedens wagen. Und diese Hoffnung und diese Zeichen werden uns und unsere Welt verändern. Amen.