Gottesdienst am 29.01.2012 (Letzter Sonntag nach Epiphanias) in Hugenottenkirche zu Carlsdorf.

Bischof Prof. Dr. Martin Hein, Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.

Predigttext: Offenbarung 1,9-18

9 Ich, Johannes, euer Bruder und Mitgenosse an der Bedrängnis und am Reich und an der Geduld in Jesus, war auf der Insel, die Patmos heißt, um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses von Jesus.

10 Ich wurde vom Geist ergriffen am Tag des Herrn und hörte hinter mir eine große Stimme wie von einer Posaune,

11 die sprach: Was du siehst, das schreibe in ein Buch und sende es an die sieben Gemeinden: nach Ephesus und nach Smyrna und nach Pergamon und nach Thyatira und nach Sardes und nach Philadelphia und nach Laodizea.

12 Und ich wandte mich um, zu sehen nach der Stimme, die mit mir redete. Und als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter

13 und mitten unter den Leuchtern einen, der war einem Menschensohn gleich, angetan mit einem langen Gewand und gegürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel.

14 Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme

15 und seine Füße wie Golderz, das im Ofen glüht, und seine Stimme wie großes Wasserrauschen;

16 und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus sei-nem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht.

17 Und als ich ihn sah, fiel ich zu seinen Füßen wie tot; und er legte seine rechte Hand auf mich und sprach zu mir: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte

18 und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.

Wer hat das Sagen in dieser Welt, liebe Schwestern und Brüder? Diese Frage scheint beantwortet: Was die Weltpolitik betrifft, so erleben wir, wie wir den Interessenslagen einiger weniger Großmächte ausgeliefert sind und wie sie die Einflusssphären unter sich aufteilen. Daran hat sich auch zwanzig Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nichts geändert. Und im Blick auf die Weltwirtschaft begegnen wir einem schier undurchschaubaren Geflecht anonym bleibender Kapitalgesellschaften, denen das Ergehen einzelner Nationalstaaten schlicht gleichgültig ist. Wo Restriktionen geplant werden, um den Einfluss oder gar die Abhängigkeit zu vermindern, flieht das Kapital in andere Regionen. Während wir hier sitzen, trifft sich in Davos die globale Elite zum Abschluss des Weltwirtschaftsforums. Da macht sich bei vielen Menschen ein tiefes Gefühl von Ohnmacht breit, die bisweilen in Wut umschlägt, weil der Eindruck Überhand gewinnt, anders überhaupt nichts mehr bewirken zu können. „Es wird regiert“, sagte Karl Barth am Vorabend seines Todes seinem Freund Eduard Thurneysen am Telefon. Und fuhr fort: „Nur ja die Ohren nicht hängen lassen.“ Leichter gesagt als getan. „Es wird regiert!“ In der Tat. Aber eben: von wem? In manchen Zirkeln hat sich ein-gebürgert, von der Macht des „Imperiums“ zu reden – ein Ausdruck völliger Hilflosigkeit.

Das Gefühl der Ohnmacht kennen wir allerdings auch in unserer Kirche: Schon lange besteht für uns kein Monopol mehr auf die Deutung und Orien-tierung des Lebens. Der Abschied in den Pluralismus ist keineswegs nur leichtgefallen, auch wenn wir ihn als evangelische Kirche womöglich einfacher bewältigt haben. In unserer Gesellschaft sind wir immer noch gut zur „Wertevermittlung“. So jedenfalls hören wir es von Politikerinnen und Polit-kern, weniger schon von Medienleuten. Als Dienstleister für Soziales gelten wir weitgehend als anerkannt und wohl auch einstweilen als unverzichtbar. Aber irgendwie scheint das alles nicht mehr so ganz zu stimmen und in unsere Zeit zu passen. In manchen Gemeinden, gerade den kleineren, macht sich angesichts schwindender Zahlen Verzagtheit breit. „Es wird regiert!“ Jaja, heißt es dann: und wie! Die da oben in Kassel im Landeskirchenamt tun es: und tun es natürlich bar jeder Erkenntnis, wie es wirklich in den  Kirchengemeinden zugeht. Viel Geschäftigkeit in der EKD und ihren Gliedkirchen gibt es, viele gute Ideen wollen umgesetzt werden. Doch die Resonanz, die unsere Aktivitäten und Initiativen auslösen, ist eher gedämpft.

Wer hat das Sagen in dieser Welt? Manchmal wäre auch ich gern auf Patmos. Nicht immer, aber doch manchmal! Möchte erleben wollen, was dem Seher Johannes widerfahren ist. Etwas Außergewöhnliches, etwas, das die Grenzen des Herkömmlichen und Vertrauten sprengt und eine Antwort gibt auf die Machtfrage, die sich uns mit Macht stellt. Glauben wir doch bitte nicht, die Situation der Christen in jenen Jahren um die Wende zum 2. Jahrhundert sei besonders rosig gewesen. Nach allem, was wir wissen und aus dem Buch der Offenbarung herauslesen können, befanden sich die Gemeinden vielmehr in einer äußerst prekären Lage: Der zunehmende religiöse Totalitätsanspruch des römischen Imperiums zeigte sich darin, dass der Kaiserkult mit aller Macht propagiert wurde. Und eines der Zentren der erzwungenen Kaiserverehrung war das Gebiet in Kleinasien, wo die Christen beheimatet waren, an die Johannes schreibt. Patmos war für ihn kein berauschender Dauerzustand, sondern eher ein zeitweiliger Rückzugsort, von dem aus es wieder mitten hinein in die bedrängenden Auseinandersetzungen um die Wahrheit des Glaubens ging. 

Aber Patmos wurde für Johannes zum Ort der Vergewisserung. Und an solch einem Ort wäre ich manchmal schon gern: um auf eine unbeschreibliche, aber ergreifende Weise darin bestärkt zu werden, dass regiert wird: „nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, sondern es wird regiert, und zwar hier auf Erden, aber ganz von oben, vom Himmel her!“, wie es Karl Barth am Telefon sagte. Vom Himmel her! Genau das erlebte Johannes in unruhiger Zeit und wurde zum Seher und zum Verkündiger einer anderen Wirklichkeit: Während der römische Kaiser damit befasst war, seine Allmacht religiös zu zementieren, erschien Johannes niemand Geringeres als der erhöhte Christus selber – versehen mit den Insignien einer Macht, die über allen Mächten steht. In seiner Rechten hält er sieben Sterne: Das Schicksal der Welt, das vom Lauf der Gestirne bestimmt sein soll, liegt in seiner und in keines anderen Hand. Und das Schwert des Jüngsten Gerichts zeigt an, wer zuletzt das Sagen hat: Er allein – und niemand anderes!

Um das zu bekräftigen, folgen auf den Anblick die Worte, die alles Begreifen, alle Begrenzung und allen Kleinmut übersteigen: „Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige.“ Und als wolle die Erscheinung alle Zweifel an der Eindeutigkeit beseitigen, dass es sich bei ihr um Christus selber handelt, verweist die Stimme zurück auf sein irdisches Leben: „Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ Der Tod ist schon entmachtet. Da ist die Machtfrage seit Ostern entschieden. Und die Machtfrage im Leben der Welt soll es auch sein.

Gewaltige Bilder und Worte, liebe Schwestern und Brüder: ohne jedes Wenn und Aber. Glücklich, wem sie zuteil werden und wer sich davon gewiss machen lässt, dass nichts, aber auch gar nichts stärker ist als Jesus Christus, dem „alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben“ ist. Allein: So wie das Johannes geschenkt wurde, bleibt es wohl die Ausnahme. Wir leben als Christen nicht dauernd aus übersinnlichen Visionen oder aus der unmittelbaren Stimme unseres Herrn. Und gäbe es solche Augenblicke wie auf Patmos auch bei uns, so würde – sinnbildlich – das Schiff doch wieder von der Insel ablegen müssen und uns hinübersetzen in den harten Widerstreit der Meinungen, der Interessen und der Machtansprüche. Wo sind für uns Orte der Vergewisserung, die uns zuversichtlich und mutig glauben lassen und uns die „frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt“ (Barmen II) schenken, eine Freiheit, die sich wohl äußerlich, aber niemals mehr innerlich einschränken lässt?

Die Antwort muss doch lauten: Patmos ist hier, hier in Carlsdorf – oder in Anklam, in Meinerzhagen, in Schlitz, in Ansbach oder wo auch immer. Hier in dieser Kirche und in allen anderen Kirchen hören und erfahren wir, was wir uns nicht selber sagen und was wir auch nicht selber machen können. In jedem Gottesdienst wird uns das Wort von der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes zugesagt, weil auch zu uns der auferstandene Christus kommt und sich zu uns bekennt. Uns sagt er: „Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige“ – uns in unserer Verkrümmung und Verkümmerung in uns selbst, in unserem aussichtslosen Kreisen um die eigene Achse, in unserer Abgeklärtheit, was den scheinbaren Lauf der Welt angeht. Er sagt es uns auf alltägliche Weise, in Worten, die wir verstehen können, er zeigt es uns leibhaftig im Wasser der Taufe, in Brot und Wein, die wir miteinander teilen. Gott braucht nicht das Außergewöhnliche. Vielmehr ist außergewöhnlich, wie er uns immer wieder mitten in dieser Welt begegnet: angreifbar und manchmal auch verwechselbar, aber nicht minder wirkungsvoll. Wäre es anders, wir säßen heute Morgen nicht hier. Wir haben doch auch erfahren, was Johannes auf seine Weise erfuhr: dass die Machtfrage entschieden ist, und das Christus – allen Zweifeln und Bedenken zum Trotz – wirklich „im Regimente“ sitzt. Würden wir davon nicht ergriffen und überzeugt sein, wären unsere Predigten, wäre all unser öffentliches Reden und Eintreten für die Belange der Benachteiligten leeres Geschwätz. Wer das Sagen hat, liebe Schwestern und Brüder, ist entschieden!

Das müsste man uns als Christen – und in aller Vorsicht sage ich: auch uns Leitenden Geistlichen – mehr abspüren: diese Gewissheit des Glaubens, die aus dem Zuspruch des Evangeliums erwächst. Der Alltag beginnt spätestens morgen, die Kalender sind übervoll, und die Tagesordnung der Welt drängt sich in unsere Routine hinein. Darauf vertrauen zu können, dass nicht wir ständig die Machtfrage stellen und beantworten müssen, lässt uns gelassener im Umgang mit uns und anderen werden, aber es befreit zugleich zu machtvollem Handeln, wo wir erkennen, dass die Verhältnisse dem guten Willen Gottes widerstreiten. Nein, es heißt nicht mehr vollmundig: „Gott mit uns“. Das ist ein für allemal vorbei! Wir erfahren die Macht Christi in der Macht des Gekreuzigten, der „tot war, und siehe, er ist lebendig“. Aber wir erfahren sie!

Aus dieser Lebensmacht heraus können wir die Welt zum Wohl und zur Versöhnung aller mitgestalten, können für sie beten, wenn wir spüren, dass die eigenen Kräfte nicht ausreichen oder zu erlahmen drohen, und können die frohmachende Botschaft bezeugen, dass Gott diese Welt liebt. Deshalb – für mich ja eher ungewöhnlich – nochmals Karl Barth. Wo er Recht hat, hat er Recht – allemal in jenem Telefongespräch, als er wie als Vermächtnis sagte: „Bleiben wir doch zuversichtlich auch in den dunkelsten Augenblicken! Lassen wir die Hoffnung nicht sinken, die Hoffnung für alle Menschen, für die ganze Völkerwelt! Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! - Es wird regiert!". Amen.

Und der Friede Gottes, der alles menschliche Begreifen übersteigt, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus zum ewigen Leben