Gottesdienst zum Erntedankfest, Evangelisches Johannesstift Berlin
Margot Käßmann
Predigttext Psalm 139,14
Liebe Gemeinde,
denken Sie bitte einmal kurz nach: Was mögen Sie nicht an sich? Sind da ein paar Kilo zu viel auf der Waage? Ist die Nase krumm - oder der Busen zu klein? Haben Sie schiefe Zähne? Belastet es sie, dass Sie Sprachprobleme haben und nicht so gut lernen können wie andere?
Und jetzt schauen Sie mal ihren Nachbarn oder Ihre Nachbarin an – ganz diskret natürlich: Sollte er sich anders kleiden? Finden Sie, sie könnte mal ein anderes Makeup auflegen? Tut er ihnen leid, weil er im Rollstuhl sitzen muss?
Die meisten Menschen in Deutschland sind unzufrieden mit ihrem Äußeren. Jedes dritte Schulkind fühlt sich gemobbt, weil es nicht die richtigen Klamotten hat oder zu dick ist. Und so unterziehen sich inzwischen rund 100 000 Jugendliche unter 20 Jahren jedes Jahr einer Schönheitsoperation.
In Fernsehsendungen wie „Endlich schön“ oder „Extrem schön“ werden daher Frauen so lange operiert, bis sie dem aktuellen Schönheitsideal entsprechen. Der Untertitel lautet: „Endlich ein neues Leben“. Und wenn die Frauen dann zurück zu ihren Familien kommen, sehen sie alle fast gleich aus: Schlanker als vorher, geliftet an Brust und Bauch, die Falten geglättet mit Botox und Co. Aber ob das gleich ein neues Leben bedeutet, wenn doch die Menschen und ihre Familien, ihr Umfeld dieselben geblieben sind? Und: Eigentlich ist so ein Schönheitsideal doch furchtbar langweilig. Wenn alle gleich ausschauen, gibt es keine Überraschungen mehr.
Danke, dass du mich so wunderbar und einzigartig gemacht hast, heißt es im Vers 14 aus Psalm 139, den Sie zum Jahresmotto des Johannesstiftes gewählt haben. Wir glauben als Christinnen und Christen, dass wir Geschöpfe Gottes sind. Und jeder von uns, jede von uns ist ein Einzelexemplar. Das ist selbst bei eineiigen Zwillingen so. Sie haben zwar denselben genetischen Code. Aber wer Zwillinge kennt, weiß: Auch sie sind einzigartig je für sich allein.
Wer der Zusage vertraut, einzigartig zu sein, gewinnt einerseits große Freiheit: Ich muss mich nicht anpassen, muss mich nicht uniformieren. Und mit uniformieren ist zum einen natürlich die Uniform gemeint, hinter der alles Individuelle zurücktreten soll. Der Soldat, die Soldatin sollen Teil des Ganzen sein und nicht hervorstechen durch allzu Persönliches. Deshalb wird ja etwa diskutiert zurzeit, ob eine Polizistin ein sichtbares Tatoo haben darf. Die enorme Bewegung, sich zu tätowieren ist ja ein Versuch, ganz individuell zu sein, den eigenen Körper so zu gestalten, dass er unverwechselbar ist. Als ich am Sommer an der Ostsee war und mich so umblickte, hatte ich das Gefühl, es ist inzwischen schon die große Ausnahme, nicht tätowiert zu sein. Es wimmelte nur so von Vögeln, Federn, bunten Bildern allüberall auf der Haut… Uniformieren heißt aber auch, ich muss so aussehen, wie es die Norm oder die Medien vorgeben: Möglichst schlank, möglichst Klamotten von angesagten Firmen. Und wer dagegen protestiert, uniformiert sich auch schon wieder, etwa indem sie der Gothicbewegung angehört oder er mit Springerstiefeln bei den Neonazis ist. Wer sich von Gott als einzigartig geschaffen versteht, kann sich von dem Druck entlasten, sich entweder zu uniformieren oder viel zu investieren, um noch individueller auszusehen. Ja, auch das ist Freiheit der Kinder Gottes.
Diese Freiheit bringt aber auch eine große Verantwortung mit sich: Wenn Gott mich so wunderbar geschaffen hat, dann will ich auch alles tun, um mein Leben so zu leben, dass meine Gaben zur Geltung kommen. Und wir glauben ja auch, dass jeder Mensch eine Gabe, eine Begabung hat. Das kann Kreativität sein oder Kraft, Intelligenz oder Liebesfähigkeit. Vor Gott ist jeder Mensch gleich viel wert. Da zählt der erfolgreiche Unternehmer nicht mehr als der sterbende alte Mann, und das schöne Model bei Heidi Klum ist genauso viel wert wie das schwerstbehinderte kleine Mädchen. Alle sind einzigartig. Und allen sagt Gott Würde und Lebenssinn zu.
Wir haben eben Psalm 139 gehört, aus dem das Jahresmotto des Johannesstiftes stammt. Da ist ein Beter, der weiß: „HERR, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“
Am Anfang meines Studiums habe ich eine Vorlesung über Psalmen besucht. Als es um diesen Psalm 139 ging, fragte der Professor, ob der Psalmbeter sich vielleicht von Gott bedrängt fühlt durch Dauerbeobachtung. Sozusagen wie im Überwachungsstaat von Orwell 1984: Der große Bruder sieht alles. Oder heute müssten wir wohl sagen: Wie bei der NSA! Alles wird abgehört: Telefon, SMS, Handy, Facebook, Whatsapp. Wenn wir Gott so verstehen, das wäre ja doch eine sehr beängstigende Vorstellung. Gott sieht alles im Sinne von: Hab Angst vor Gott!
So aber zeigt sich Gott nicht, vor allem wenn wir Jesus als den nehmen, der uns zeigt, wie Gott ist. Wie ein liebender Vater, der den Sohn wieder aufnimmt, ohne Vorwurf, ohne Frage. Wie ein Weingartenbesitzer, der Sorge trägt, dass alle bekommen, was sie zum Leben brauchen. Wie eine Witwe, die noch den letzten verlorenen Groschen sucht. Diese Bilder und Gleichnisse zeigen: Gott sieht alles, aber Gott wird es niemals gegen mich verwenden! Gott sieht mich mit meinen Stärken und Schwächen, in meinem Glück und meinem Leid. Ich kann mich Gott anvertrauen im Gelingen wie im Scheitern, denn Gott hat mich einzigartig geschaffen.
Dafür können wir dankbar sein. Es ist ja eine Beziehungsaussage, wenn ein Mensch den Vers mitsprechen kann: Danke, dass du mich so wunderbar und einzigartig gemacht hast. Zum einen danke ich Gott. Ja, ich kann Gott per Du ansprechen. In dieser Beziehung zu Gott lebe ich in Freiheit und Verantwortung. Martin Luther hat diese Freiheit empfunden, als ihm klar wurde: Nichts, was ich tue, rechtfertigt mein Leben vor Gott. Sondern Gott schenkt meinem Leben Sinn, von vornherein, eben weil er mich wunderbar und einzigartig geschaffen hat.
Dann kann ich auch mich selbst lieben und sehen: Ich habe einzigartige Seiten. Ja, gut, ich habe sicher auch ein paar Macken, Ecken und Kanten. Nicht alles wird auf einen Schlag schön, wenn ich mich so sehe. Aber als Geschöpf Gottes bin ich wertvoll und wunderbar.
Mir ist schon klar: Wir müssen uns so auch immer erst sehen lernen. Die Sängerin Madonna ist mein Jahrgang. Und ich habe einmal, ich gestehe, gelästert und gesagt: Sie kann sich alles operieren lassen, damit sie nicht wie 56, sondern wie 36 aussieht, aber wenn ich ihre Hände sehe, weiß ich, sie ist so alt wie ich. Einige Monate später habe ich gelesen, dass Madonna nun auch die Hände hat liften lassen. Als ich dann am Sterbebett meiner Mutter saß und ihre Hand hielt, habe ich gedacht: Was für schöne alte Hände du hast, einzigartig und wunderbar. Schönheit ist doch gerade nicht Makellosigkeit, Schönheit strahlt ein Mensch aus, der glücklich ist, bewusst lebt.
Wenn wir nun Menschen mit den Augen Gottes anschauen, sehen wir anderes an ihnen und in ihnen. Die Einzigartigkeit wird sichtbar, wenn wir die anderen als wunderbare Geschöpfe Gottes ansehen. So entsteht diese Beziehung, die Jesus als Lebenshaltung mitgibt: Gott über alle Dinge lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Das ist ein Beziehungsdreieck, in dem wir stehen als Gottes Geschöpf, mit Blick auf unseren Schöpfer, auf die Mitgeschöpfe und eben auch mit Blick auf uns selbst. Und so entstehen Freiheit und Verantwortung.
Hier im Johannesstift feiern Sie heute Erntedank. Das hat ja eine doppelte Bedeutung. Zum einen danken wir an einem solchen Tag für die ganz reale Ernte. Und dazu haben wir viel Anlass in unserem reichen Land, in dem Menschen nicht hungern müssen, in dem wir eher damit kämpfen, dass wir im Überfluss leben und viele Menschen Lebensmittel gar nicht mehr wertschätzen. Da ist es gute christliche Tradition, einmal im Jahr sehr bewusst zu sagen: Ich bin dankbar für das tägliche Brot und sehe den Segen der Schöpfung Gottes.
So ist der Tag auch eine Mahnung, die Schöpfung zu achten, für ihren Erhalt einzutreten und sie als ganze zu sehen, deren Teil wir sind eben dadurch, dass Gott uns ebenso geschaffen hat wie die Mitwelt, in der wir leben. Und es ist eine Mahnung, uns in Verbindung mit Menschen auf der ganzen Welt zu verstehen. Dass Millionen hungern, während wir im Überfluss leben, kann Christinnen und Christen nicht ruhen lassen. Nicht nur ich bin ja einzigartig geschaffen, sondern jeder andere Mensch auf der Welt auch. So ist jedes Erntedankfest bei uns auch ein Tag, an dem wir uns für die Schöpfung, für nachhaltiges Wirtschaften und für Gerechtigkeit auf der Welt einsetzen.
Zum anderen meint Erntedank doch gerade hier im Johannesstift auch Dank für das Zusammenleben, das gelungen ist. Ich habe Ihren Jahresbericht gelesen und die vielen eindrücklichen Arbeitsbereiche wahrgenommen in der Altenhilfe, der Behindertenhilfe, im Bildungszentrum, in den geriatrischen Krankenhäusern und der Jugendhilfe. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind daran beteiligt, das Wirklichkeit werden zu lassen, was im Leitbild so beschrieben wird: „Wir begegnen uns und jedem Menschen mit Respekt, Einfühlung und Achtsamkeit. Wir fördern das Miteinander. Wir setzen uns für eine sozial gerechte Gesellschaft ein, die nicht ausgrenzt.“
Die Ernte für all Ihr Engagement hier ist, zu sehen, wie das Zusammenleben gelingen kann. Wo alte Menschen in Würde gepflegt werden, wo Sterbende in Frieden begleitet werden, wo Jugendliche mit Behinderungen lernen können, da wird geerntet, wofür Sie sich einsetzen. Dann wird das Leben als Kreislauf der Barmherzigkeit wahrgenommen. Das heißt nichts anderes, als, dass die Starken, die momentan nicht auf Hilfe zur Bewältigung ihres Lebens angewiesen sind, daraufhin angesprochen werden können und müssen, dass auch sie nicht immer im Vollbesitz ihrer körperlichen und geistigen Kräfte gewesen sind – und es auch nicht immer bleiben werden! Als Säuglinge, als Kinder, ja auch als Jugendliche, oft bis weit über die Volljährigkeitsgrenze hinaus, waren wir alle der Erfahrung ausgesetzt, auf Pflege, Annahme und Unterstützung angewiesen zu sein. Und schnell kann es kommen, dass wir es wieder werden, wenn wir es nicht schon längst wieder in der einen oder anderen Hinsicht sind.
Daran mögen die Starken nicht gerne denken und erinnert werden. Aber betroffen sind wir alle davon. Die mit Behinderungen in unserer Mitte lebenden oder auf Pflege angewiesenen Menschen sind nicht kategorial von uns unterschieden, sondern nur graduell. Wir alle sind einzigartige und wunderbare Geschöpfe. Und über die Unterstützungsbedürftigkeit sind wir aufeinander angewiesen und miteinander verbunden, und zwar unlöslich. Die Gewohnheit und unsere Sprache lassen uns das oft vergessen und verdrängen. Die mit Behinderungen lebenden Menschen nennen wir, wenn die Behinderung einen bestimmten Grad überschritten hat, „Behinderte“ und machen ihre Angewiesenheit auf Unterstützung zu dem herausragenden Merkmal ihrer Identität. Wer aber derzeit stark und gesund ist, klammert die eigene Angewiesenheit, die gegenwärtige, die vergangene und die kommende, lieber aus der Selbstbezeichnung aus und definiert sich ganz von den Stärken her.
Im Grunde unserer Existenz und durch den Verlauf unseres Lebens von der Wiege bis zur Bahre sind wir mit den Menschen, die wir als „Behinderte“, „Kranke“, „Pflegebedürftige“, „Jugendliche mit Förderbedarf“ bezeichnen also verbunden und ihnen im Prinzip gleich. Nur durch die Sprache und unseren Umgang mit ihnen machen wir sie zu „Anderen“. Damit möchte ich sagen: Die Andersheit von Menschen, die mit Beeinträchtigungen leben müssen, ist ein gesellschaftliches Konstrukt, und das heißt, dass das veränderbar und grundsätzlich gestaltbar ist! Mein Eindruck ist, dass das hier im Johannesstift an vielen Stellen auf beeindruckende Weise gelingt und dafür dürfen wir heute in der Tat ein Erntedankfest feiern!
Was Martin Luther als Rechtfertigung allein aus Glauben als befreiend erfuhr, können Menschen so ja auch heute erleben. Zum einen: Gott hat mich einzigartig und wunderbar erschaffen. Mit dieser Lebenszusage kann ich auch andere als wunderbare Geschöpfe Gottes ansehen. Und ich werde frei, auch mich anzunehmen mit allen Stärken und Schwächen als einzigartig.
Also, schauen Sie sich noch einmal an: Was magst du an dir? Dass du so lachen kannst? Dass deine kurzen Beine dich doch ziemlich weit tragen? Kannst du nicht auch einmal lachen über dein kleines Bäuchlein. Wie heißt es so schön: Eine Frau ohne Bauch ist wie ein Himmel ohne Sterne!
Und könnten Sie sich jetzt noch einmal umschauen: Was finden Sie spannend am Nachbarn? Was fällt ihnen positiv auf an der Nachbarin?
Lassen Sie uns feiern, dass wir einzigartig und verschieden sind! Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der alle gleich sind. Wie langweilig wäre das denn! Wir sind kurz oder lang, dick oder dünn, rothaarig oder blond, können gut laufen oder schlecht, haben einen Sprachfehler oder sprechen schwäbisch. Sind Männer und Frauen, alt und jung, haben helle oder dunkle Haut. Gott hat Lust an der Vielfalt! Und wir sollten entdecken, dass Vielfalt schön ist! Dann können wir vielleicht auch lachen über das, was abweicht von dem, was normal sein soll, und uns freuen daran, was es so alles gibt. Wir können auch über unsere Schwächen lächeln und nicht immer versuchen, stark zu sein. Dann können wir gemeinsam sagen: „Danke, dass du uns so wunderbar und einzigartig gemacht hast.“ Amen.