Predigt zum 7. Sonntag nach Trinitatis, Neustädter Hof- und Stadtkirche Hannover

Thies Gundlach

Apostelgeschichte 12, 1 – 11  

Gnade sei mit uns und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Gemeinde,

heute geht es um Gemeinschaft, um die christliche Gemeinschaft, wie tief sie geht  und wie weit sie reicht. Die Epistel erzählt von den Anfängen christlicher Gemeinschaft und ihrem Ideal, alles zu teilen; das Evangelium nach Johannes erzählt von der Speisung der 5000, was faktisch als ungeheuer große Zahl gedacht ist – also gehören sehr viele dazu. Und beide Texte spielen auf das Abendmahl an, auf die Gemeinschaft,  gegründet im Brotbrechen. Christus selbst, der sich in Brot und Wein gibt, gründet und stabilisiert die Gemeinschaft, nicht wir schaffen die Gemeinschaft, denn das würde uns zu einem Klüngel machen, das ist – wenn man das so sagen kann – der Unterschied zwischen Abendmahl und gemeinsamen Kaffeetrinken nach dem Gottesdienst: Erstere ist eine Gemeinschaft, die Jesus Christus konstituiert, gemeinsam mit all jenen, die vor uns geglaubt haben und all jenen, die nach uns glauben werden. Und auch mit denen, die wir eigentlich nicht so gern dabei haben mögen. Aber wie weit geht diese Gemeinschaft? Wie weit geht die Gemeinschaft mit Christus? Dazu lese ich als Predigttext eine ganz besondere Geschichte, die leider nur selten auftaucht.  

Apostelgeschichte 12, 1 – 11

Um diese Zeit legte der König Herodes Hand an einige von der Gemeinde, sie zu misshandeln. Er tötete aber Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert. Und als er sah, dass es den Juden gefiel, fuhr er fort und nahm auch Petrus gefangen. Es waren aber eben die Tage der Ungesäuerten Brote. Als er ihn nun ergriffen hatte, warf er ihn ins Gefängnis und überantwortete ihn vier Wachen von je vier Soldaten, ihn zu bewachen. Denn er gedachte, ihn nach dem Fest vor das Volk zu stellen. So wurde nun Petrus im Gefängnis festgehalten; aber die Gemeinde betete ohne Aufhören für ihn zu Gott. Und in jener Nacht, als ihn Herodes vorführen lassen wollte, schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit zwei Ketten gefesselt, und die Wachen vor der Tür bewachten das Gefängnis. Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete auf in dem Raum; und er stieß Petrus in die Seite und weckte ihn und sprach: Steh schnell auf! Und die Ketten fielen ihm von seinen Händen. Und der Engel sprach zu ihm: Gürte dich und zieh deine Schuhe an! Und er tat es. Und er sprach zu ihm: Wirf deinen Mantel um und folge mir!

Und er ging hinaus und folgte ihm und wusste nicht, dass ihm das wahrhaftig geschehe durch den Engel, sondern meinte, eine Erscheinung zu sehen. Sie gingen aber durch die erste und zweite Wache und kamen zu dem eisernen Tor, das zur Stadt führt; das tat sich ihnen von selber auf. Und sie traten hinaus und gingen eine Straße weit, und alsbald verließ ihn der Engel. Und als Petrus zu sich gekommen war, sprach er: Nun weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel gesandt und mich aus der Hand des Herodes errettet hat und von allem, was das jüdische Volk erwartete.

Es ist eine tolle Geschichte, liebe Gemeinde, aber wie ist sie zu verstehen?
Man kann sie wörtlich verstehen und sagen, das ist damals wirklich so passiert. Die Schwierigkeit liegt für mich dann gar nicht so sehr darin, dass das nicht passieren kann, weil unsere Welt so rational und vernünftig funktioniert. Denn Gott hat unendlich viele Wege zur Rettung, wir würden Gott ja viel zu wenig zutrauen. Aber wirklich schwierig finde ich die Vorstellung, dass Gott damals einen Engel schickte, dies aber in so vielen Gefängnissen der Welt bis heute nach Syrien, in den Irak und nach Afghanistan nicht tut. Obwohl doch auch heute so viele Menschen, Gemeinden, Familie die Gebete zum Himmel schicken, sich so viele Menschen nach diesem Befreiungsengel sehnen. Gott erscheint mir dann willkürlich, mal hilft er, mal hilft er nicht, ein schwieriges Gottesbild.

Ich glaube deswegen, dass diese Geschichte kein exaktes historisches Ereignis erzählt, sondern eine geistliche Einsicht entfaltet. Petrus wird aus tiefster Gefangenschaft befreit, es ist die urgemeindliche Exodusgeschichte: So wie Israel in Ägypten gefangen war, so ist auch der „Vater“ der Urchristenheit gefangen. Und so wie der Auszug aus der Gefangenschaft in Ägypten den vollen Einsatz Gottes erforderlich machte, so auch die Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis. Und Lukas setzt alles daran, die Gefangenschaft äußerst genau zu beschreiben: Ketten werden gezählt, Türen und Wachen gelistet, die Botschaft ist klar: Petrus hat keine Chance!

Aber die Gemeinde bleibt dran, sie betet, ruft um Hilfe - und dann kommt der Engel des Herrn und bringt Licht und Freiheit. Petrus kriegt direkte Anweisungen: Steht schnell auf. Gürte dich! Zieh Schuhe an! Wirf deinen Mantel um! Petrus soll anständig aussehen, wenn er draußen ist.

Wir sind hier ja in der Leibniz-Kirche, eine Kirche, die für Aufklärung und Bildung steht; deswegen sage ich jetzt ganz nüchtern: Die Geschichte stimmt hundertprozentig, sie ist wahr und wahrhaftig, aber auf einer spirituellen Ebene! Sie ist kein Märchen, denn ein Märchen kennt jedes Kind: „Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter … Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.“ Die Geschichten enthalten auch Wahrheiten, aber diese sind zeitlos richtig, sie gelten immer und überall: Die Naivität von Rotkäppchen ist immer gefährlich; und einen Frosch zu küssen kann immer zu erstaunlichen Entdeckungen führen.

Unsere Geschichte hat ihren geistlichen Kern gerade in der Zeit für dich und mich heute und hier. Denn sie antwortet auf die Frage, welche Gemeinschaft Gott über die Sichtbarkeit und Erreichbarkeit hinaus schafft. Wir sind heute ja weithin gehalten, die Gemeinschaft zu konstituieren, Menschen nicht auszugrenzen, weder die Flüchtlinge noch die Armen. Und unsere Gemeinden leisten ja auch tatsächlich Unerhörtes bei dieser Integrationsarbeit, sie begleiten Flüchtlinge, sie geben Unterricht, sie begleiten zu Ärzten und Ämtern, beides gleichermaßen komplex.

Aber diese Gemeinschaft entsteht durch unser Engagement? Gibt es darüber hinaus Gemeinschaft, unsichtbare, unmachbare, unverfügbare? Können wir hoffen und glauben, dass Gott uns aufsucht und uns befreit, auch wenn wir nicht mehr durch konkrete Besuche und handfeste Teilnahme aktiv werden? Hört die Gemeinschaft auf, wenn die menschliche Gemeinschaft aufhört und man umgeben ist von Mauern, Wänden, verschlossenen Türen und Ketten?

Sie ahnen, liebe Gemeinde, dass diese Fragen geistlich zentral sind. Denn wir leben ja alle in Gefangenschaften, wir haben im Laufe des Lebens Ketten der Ängste angelegt bekommen, kennen Mauern des Selbstschutzes, wir sind festgezurrt und eingesperrt in Sorgen und Zweifeln. Je ehrlicher wir mit uns selbst sind, desto genauer wissen wir: Gefangen ist nicht nur Petrus, sondern Petrus steht auch für jeden Christenmensch, der die Wächter der Angst in sich hat und der die Ketten der Sorgen nicht aufsprengen kann. Es gibt Gefangenschaften, die so tief und fest sitzen, dass wir sie nicht einmal selbst merken. dass wir uns für frei und sorglos halten und eigentlich doch mitten im Gefängnis liegen. Ich müsste hier im Grunde jetzt eine kleine Geschichte der Sünde erzählen, von Martin Luther und seiner großen Menschenkenntnis, wenn er vom Sünder als dem in sich gekrümmten Menschen spricht. Oder von dem in sich eingesperrten Menschen, der so schnell lebenslänglich bekommt und ohne Chance auf Asyl außerhalb seiner selbst leben muss. Es gibt keine sicheren Herkunftsländer bei der Frage, in welchen Gefangenschaften ich lebe! Und es gibt keine Fluchthelfer, die mich für eine Handvoll Dollar über das stürmische Meer der Ängste hinweg zum gelobten Land der Freiheit bringen.     

Liebe Gemeinde, hier leuchtet der eigentlich, der geistliche Sinn der Geschichte auf: Asyl gibt es bei Gott, Befreiung gibt es durch seine Engel, leben ohne Angst gibt es im Geist, im Inneren, im Herzen. Und erst wenn der Engel gesprochen hat, kann man aufstehen, kann man sich gürten, kann man Schuhe und Mantel anziehen. Wir dürfen nicht nur äußerlich mit den Geschichten der Bibel umgehen, sie ist ein spirituelles Buch, kein Buch für Handlungsanleitungen zur Alltagsgestaltung. Und Petrus ist als Urbild der Kirche zuerst in Gefangenschaft, und wird dann von Gott und seinem Engel erreicht, berührt, erfasst, geführt und befreit. Die Botschaft lautet: Auch wenn wir äußerlich nur Mauern und Wärter und Ketten sehen, Gemeinschaft unter Christen ist eine Gemeinschaft, die über das Sichtbare hinausgeht, weil sie in Gott gründet, nicht in unserem Tun und Lassen. Gott kann jede Gefangenschaft durchbrechen, er kann durch Türen gehen und Ketten sprengen, auch Ketten, die wir für unüberwindlich halten. Mich tröstet dieser Gedanken, liebe Gemeinde, auch weil ich so ahnen und hoffen kann, dass Gott auch dort besucht, befreit und erlöst, wo die Gefängnisse unfassbar fest gefügt sind, weil sie Gefängnisse des Schweigens, der Leere, der Ferne und der Unerreichbarkeit sind. „Und siehe, der Engel des Herrn kam herein und Licht leuchtete in dem Raum.“ (Apg 12, 7). Gelobt sei Gott, der Herr allen Lebens. Amen