Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis im Berliner Dom
Prälat Dr. Stephan Reimers
Religion kann Unheil verbreiten und zu Unheil anstiften, das wissen wir nicht erst seit den Attentaten vom 11. September 2001 in New York. Auch der 2600 Jahre alte Predigttext des Propheten Jeremia berichtet von Gefahren des Religiösen. Auch in diesen biblischen Versen geht es um den spannungsreichen Zusammenhang von Religion und Politik.
Jeremia klagt die Propheten Jerusalems an, den politisch Verantwortlichen ein Gefühl falscher Sicherheit zu geben; darum warnt er: "Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie betrügen euch, denn sie verkünden euch Gesichte aus ihren Herzen und nicht aus dem Munde des Herrn. Sie sagen denen, die des Herrn Wort verachten: ‚Es wird euch wohl gehen'." (Jer 23,16-17)
"Heil, Heil" wo doch kein Heil ist. Die Wegweiser, die diese Propheten aufstellen, führen geradewegs ins Unheil hinein.
Allerdings weiß Jeremia auch, dass diese Heilsprophezeiungen wichtigen Ratgebern des Königs von Jerusalem sehr gelegen kamen. Sie sind nämlich fleißig am Werk, einen zweiten Aufstand gegen Babylon vorzubereiten und hoffen auf die Hilfe Ägyptens. Um den schwachen und schwankenden König Zedekia zum Aufstand anzustacheln, gebrauchten diese Beamten die Heilsworte der Propheten, um Siegeszuversicht zu verbreiten.
Jeremia wirft den Kultpropheten nicht vor, dass sie bewusst lügen, sondern dass sie Träume erzählen - ihre Wunschträume und die der politisch Verantwortlichen sowie des Volkes. Wörtlich sagt er: "Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume; wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht." Dieses rechte Predigen von Gottes Wort aber würde darin bestehen, das Volk auf seinen Lebenswandel und sein böses Tun anzusprechen und so Menschen zu bekehren.
An dieser Aufgabe hat sich der Prophet wund gearbeitet. Immer wieder hat er die vielen Betrügereien in der Hauptstadt, den fortgesetzten Ehebruch und die Verehrung fremder Götter angeprangert. Er ist ein Prophet, der es wagt, Sündern den Spiegel vorzuhalten. Das macht unbeliebt und vermehrt die Zahl seiner Feinde. Schließlich werfen sie ihn in eine Zisterne. Aber Jeremia sieht für sich keine Wahl. Er ist ein Prophet, der Gottes Wort verkündet, von dem der letzte Vers unseres Predigttextes sagt: "Ist mein Wort nicht wie Feuer… und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?" (v. 29)
Um die Wahrheit zu sagen, muss man sie kennen und die Freiheit haben, sie aussprechen zu dürfen. Für die Heilspropheten gilt beides nicht. Sie haben kein Wort Gottes auszurichten und sie sind auch nicht frei. Sie sind Kultpersonal, Angestellte des Tempels. Anders als die angestellten Kultpropheten am Jerusalemer Tempel hat Jeremia die Freiheit, auch unangenehme Themen klar zu benennen. Er muss nicht immer nur vom "Lieben Gott" reden, sondern kündigt auch Gottes Zorn an. Er kann das Gotteswort aussprechen: "Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, und nicht auch ein Gott, der ferne ist?" (v. 23)
Ist Jeremia deshalb ein Unheilsprophet? Ein Miesmacher und Bedenkenträger? Ein solches Bild wird dem großen Mahner nicht gerecht. Er gibt Menschen auch Hoffnung. Denn mit dem gleichen Feuer und der gleichen Begeisterung spricht er vom Neuen und Ewigen Bund, den der Herr mit seinem Volk aufrichten will, von einem neuen König, der Recht und Gerechtigkeit schaffen wird. Den bereits ins babylonische Exil Vertriebenen, macht er Mut, sich zu integrieren und ein neues Leben aufzubauen: "Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Herrn." (29,7) Dieses Wort wir bis heute immer wieder als Grundaussage für eine gelingende Beziehung von Glaube und Politik zitiert.
Jeremia versteht es, "Ja" und "Nein" zu sagen - beides zur rechten Zeit. Darin ist er uns ein Vorbild. Die beiden großen christlichen Kirchen begleiten den demokratischen Rechtsstaat in kritischer Solidarität. Wir sagen heute ein deutliches Ja zu den Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaat als den besten Strukturen für ein friedliches und geordnetes Zusammenleben. Wir sagen Ja zu Reformen, die unsere sozialen Sicherungssysteme veränderten Rahmenbedingungen anpassen und so zukunftsfest machen. Aber wir sagen Nein, wo Werte wie Solidarität und Menschenwürde vergessen zu werden drohen. Zur Gesundheitsreform, die in diesen Tagen diskutiert wird, fordert unsere Kirche, dass ein Leben in Würde bis ins hohe Alter gesichert wird. Es kann nicht sein, dass Menschen nur wegen ihres Alters der Zugang zu lebensrettenden aber teuren Therapien wie etwas der Dialyse verwehrt wird.
Von wahrer und falscher Prophetie spricht Jeremia. Dieser historische Ort des Berliner Doms erinnert daran, dass auch die Kirche vor gerade einem Menschenalter zu den falschen Propheten gehört hat, zu den "Heil"-Rufern im Unheil. Auf den Stufen des Berliner Doms stand der "Reichsbischof" Müller und rief: "Heil Hitler". Für uns Nachgeborene erscheint es unbegreiflich, wie weit sich Vertreter der Kirche Jesu Christi an den Verbrecherstaat der Nationalsozialisten anpassen konnten.
Nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrungen sind in der Bundesrepublik Deutschland Staat und Kirche getrennt. Dennoch bleiben sie aufeinander bezogen im Dienste des Gemeinwohls. Denn, wie der ehemalige Verfassungrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde in einem gerne zitierten Ausspruch sagte: "Der Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann."
Die Kirche hat in unserem Staat die Freiheit, das zu sagen, was sie aufgrund der ihr anvertrauten christlichen Tradition für gut und richtig hält. Doch was sind die Kriterien, die Prüfungsmaßstäbe, die sie davor bewahren, "falsche Propheten" zu sein?
Ein ehemaliger Schulkamerad, der mir als nicht besonders religiös in Erinnerung war, sagt mir bei unserem Wiedersehen vor einiger Zeit: "Je älter ich werde, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, dass das Leben nur gelingen kann, wenn man es am Maßstab der Zehn Gebote ausrichtet." Es ist eine beruhigende Gewissheit, dass ethische Grundaussagen wie: "Du sollst nicht töten", "Du sollst nicht ehebrechen" oder "Du sollst nicht falsch Zeugnis reden" von den großen Religionen dieser Welt geteilt werden.
In der Bergpredigt Jesu werden wir mit Maßstäben konfrontiert, die noch weit darüber hinaus gehen. Ich erinnere nur an das Beispiel der Feindesliebe. Die Auslegung hatte und hat es nicht leicht damit. Wie immer der einzelne diese Frage in seinem Gewissen beantworten mag, eines macht die Bergpredigt deutlich: Mit Gesetzen und ihrer Einhaltung ist unsere Verantwortung als Christen nocht nicht am Ende. Auch die Einstellung, die innere Haltung ist von Bedeutung und hat Auswirkung auf unser aller Wohl.
Man könnte dies mit dem heute etwas altertümlich klingenden Wort der "Tugend" bezeichnen. Voraussichtlich zum Jahresende werden sich die beiden großen Kirchen mit einem gemeinsamen Wort zur "Verfassung unseres demokratischen Gemeinwesens" äußern. Und dabei wird es vor allem um die Tugenden gehen, die Politiker, Journalisten, Verbandsfunktionäre und Bürger benötigen, damit unser demokratischer Rechtsstaat auf Dauer ein Segen für alle Bürgerinnen und Bürger bleiben kann.
Liebe Gemeinde,
ab und zu würde jeder von uns gern in die Zukunft sehen können. Das ist dem Menschen in der Regel verwehrt. Selbst das unmittelbar vor der Tür Stehende ist mit einem dunklen Schleier verhüllt. Als ein aus Hamburg Zugewanderter frage ich Berliner immer wieder, ob die Grenzöffnung von 1989 hier nicht doch weniger überraschend gekommen sei. Doch stets höre ich als Antwort ein deutliches: "Nein, wir ahnten nichts."
Die Botschaft unseres Predigttextes rät uns, uns mit diesem Unwissen zu begnügen. Sucht nicht nach Propheten, sondern haltet euch an Gottes Wort und alle Tugenden, die euch die Bibel lehrt!
Amen.