Predigt am 3. Sonntag vor der Passionszeit, Neustädter Hof- und Stadtkirche St. Johannis - Hannover

Thies Gundlach

Gnade sei mit uns und Friede von Gott unserem Vater und unserem Herrn JC.

Liebe Gemeinde,

wissen Sie eigentlich, was ein Gestaltwandler ist? Wenn nicht, mag dies daran liegen, dass Sie niemand zur ausführlichen Lektüre der Harry-Potter-Bücher gezwungen hat. Denn wer unter strenger Beobachtung der nachrückenden Lese-Generation steht, der erinnert, dass ein Gestaltwandler - wie es Hermine Granger natürlich besser als jeder Lehrer in Hogwards zu formulieren weiß - „die Gestalt dessen annehmen (kann), wovor wir, wie er spürt, am meisten Angst haben!“ Entsprechend liebt der Gestaltwandler das Verborgene und kein Mensch in Hogwards weiß, wie er wirklich aussieht, wenn er alleine ist. Denn sobald man ihn ansehen will, nimmt er die Gestalt dessen an, was dem Neugierigen den größten Schrecken einjagt. Gestaltwandler wittern die Angst hinter der Fassade des Menschen! Gestaltwandler können in die Tiefe einer Seele schauen und erkennen, was wir Menschen in der Regel schön verpackt oder therapeutisch wegsortiert haben. Gestaltwandler kennen sich in der letzten Schublade der Seele aus. Sie sehen bestens, was unter dem Teppich liegt. Kein Wunder also, dass die gesamte Klasse von Harry Potter die Unterrichtsstunde in „Verteidigung gegen die dunklen Kräfte“ nicht so schnell vergessen kann.

Joanne K. Rowling erzählt diese wunderbare Szene im dritten Band ihrer Harry-Potter-Septologie „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“, und zwar so eindringlich, dass sich jede/r Leser/in irgendwann selbst fragt: Und wen würde der Gestaltwandler wohl mir vorgaukeln? Wessen Gestalt fände er in den Tiefen meiner Seele? Wovor habe ich denn am meisten Angst?

Joanne K. Rowling verbindet diese Idee mit einer zauberhaften leichten, gleichsam „christlichen Perspektive“: denn nicht der Schrecken über die Gründe und Abgründe der Angstfiguren steht im Vordergrund, sondern die ebenso schlichte wie wichtige Frage: Was kann man eigentlich tun gegen die Angstspiele eines Irrwichtes? Zwei Hinweise:

Der erste ist noch leicht einsichtig: Es gilt, dem Irrwicht möglichst nicht allein zu begegnen. Denn eine Mehrzahl von Seelen irritieren ihn, er weiß nicht, auf welche er sich beziehen soll. Diese Gegenkraft gegen die materialisierten Ängste kennen vermutlich viele aus dem eigenen Leben: Gemeinschaft macht mutiger, Alleinsein lässt die Schatten wachsen.

Sodann gehört zum gekonnten Widerstand gegen die Irrwichte auch ein treffendes und bannendes Wort, also ein Zauberspruch („Riddikulus“, falls jemand ihn nicht kennen sollte). Dieses Wort muss allerdings verbunden sein mit einer Art mentalen Strategie, einer inneren Vorstellung, die die vom Gestaltwandler symbolisierte Angst relativiert. Das beste Mittel ist hier das Lächerlich-Machen. Der gefürchtete Lehrer tritt dann im grünen Kleidchen und rotem Handtäschchen auf, die angstmachende Spinne hat plötzlich Rollschuhe an den Beinen und landet auf dem Bauch, und die wandelnde Mumie verheddert sich in ihren eigenen Bandagen. Das Lachen befreit von Angst, und für den Gestaltwandler brechen schwere Zeiten an. Es gibt noch eine dritte Idee, die allerdings nicht mit Harry Potter zu tun hat, sondern mit unserer Kantate.

II.
Früher hatten die Menschen zuerst und vor allem eine einzige Angst: Dass sie in die Hölle kommen! Das Leben war kurz und oft schwer, wir alle hätten – gäbe es eine Zeitmaschine ins 16. Jahrhundert zurück – vermutlich eine Überlebensdauer von ca. einer Woche: zu verweichlicht und zu ungeschickt in elementaren Fähigkeit wie Feuer anzünden, Tiere häuten, Kälte ertragen. Damals aber war diese Angst allgegenwärtig, die Hölle real gefühlt, der Teufel aktiv und die Seele eine kleine Nußschale auf dem Meer der Versuchungen und der Verirrungen. Man muss sich deswegen den Ablasshandel tatsächlich im Ursprung als eine Erbarmensgeste vorstellen. Natürlich sind wir heute schlauer und erkennen den Zynismus, der darin liegt, aber damals war der Ablass eine der wenigen Möglichkeiten, den ewigen Strafen zu entkommen. Natürlich, man konnte auch moralisch einwandfrei und ethisch unanstößig zu leben versuchen, doch daran versagten ja schon die Mönche und Nonnen, was sollte da der einfache Christenmensch sagen.  

Luther hat 1517 mit seinen 95 Thesen zur Buße, die er vielleicht oder auch nicht an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg nagelte oder nageln ließ, - er hat diesen Zynismus kritisiert und damit faktisch den Anstoß zur Beendigung der Ablaßpraxis gegeben. Darüber kann man auch 500 Jahre später noch froh sein, doch blieb die Frage: Wohin jetzt mit der Angst vor der Hölle? Luther – der 1517 vielleicht noch einer von vielen Reformkatholiken war – wurde immer radikaler: er schuf später nicht nur das Fegefeuer ab, in dem die Seele die Kirchenstrafen absitzen musste, bevor es vor Gott zu treten hatte, um das endgültige Urteil zu empfangen, sondern er rationalisierte auch die Angst vor der Hölle, in dem er immer wieder festhielt: Durch Christus ist alle Angst der Welt getröstet, getragen, geheilt, überwunden und besiegt, sein Leiden am Kreuz ist so groß und tief und abgründig und gewaltig, dass sich alle Menschen, die an ihn glauben, festhalten können an ihm auch in der größten Angst.

Es ist der Glaube an diesen einen, der das Ganze heilt; wie es beim Evangelisten Johannis heißt: „Solches habe ich mit euch geredet, dass ihr in mir Frieden habet. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ (Joh 16, 33) Wenn Sie mir diesen Vergleich erlauben: Christus ist ein einzigartiger Gestaltwandler, er nimmt das menschliche Schicksal an, das dem Menschen wohl die meisten Angst gemacht hat: Den zu unrecht Verurteilten, den bitter Verspotteten und elendig zerschlagenen Menschen, dem nicht nur Leben, sondern auch Hoffnung und Zuversicht genommen scheint – und der alles verwandelt hat mit Ostern.  
    
III.
Liebe Gemeinde, wie müsste unser heutiger Gestaltwandler aussehen? Welche Angst treibt uns heute um? Gibt es auch heute eine solche Zentralangst, die uns alle irgendwie bedrängt? Natürlich wird es nicht so einfach, eine einzige gemeinschaftliche Angst zu definieren, denn Abstiegsängste und Versagensängste, Bindungsängste und Krankheitsängste sind so verschieden wie die Menschen, die sie haben. Und doch glaube ich: Gestaltwandler sind ein Segen, denn ohne sie sähen wir nicht die Angst, die uns treibt; und wer sie nicht sieht oder nicht hinsehen will, der ist ihr ausgeliefert! Das kann man durchaus im Blick auf die vielen unklaren und auch unlauteren Ängste und Behauptungen der Pegida-Demonstranten sagen. Unsere Gesellschaft ist zweifellos zerrissen von verschiedensten Ängsten, der Soziologe Heinz Bude hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Gesellschaft der Angst“, und es ist ein Verkaufsrenner. Und die Schriftstellerin Annette Pehnt schreibt einen Roman mit dem Titel „Lexikon der Angst“, und auch der verkauft sich gut. Manche sagen, es sei typisch deutsch, so viel Angst zu haben, aber im Kern habe ich eher das Gefühl, wir leben alle in einer Übergangssituation, die beängstigend unklar und verunsichernd nebulös ist. Und doch glaube ich, dass ein Gestaltwandler uns allen eine einzige Angst in vielerlei Formen spiegeln würde: die Angst vor einem brüchigen Ich! Der Gestaltwandler unserer Tage müsste vielleicht aussehen wie ein „all-you-can-see-Superstar“, der nicht nur bestens singen kann, sondern auch bestens die Börse beherrscht, der bestens gebildet und gekleidet ist, der sich bestens gesund ernährt und optimal Sport treibt, der fröhliche Kinder und einen hübschen Partner hat, der strahlende Zähne zeigt und ein gewinnendes Lächeln, der beruflich bestens vorankommt, immer bestens motiviert ist und zweifellos zu den Gewinnern unter den Alphamännchen und –weibchen zu zählen ist. Kurzum: Der heutige Gestaltwandler müsste eine faire Mischung aus allen Reklamebildchen unserer Tage sein. Denn das scheint unsere zentrale Angst: das Leben zu verpassen, den eigentlich zu erwartenden Erfolg nicht zu bekommen, die richtige Entscheidung zur rechten Zeit zu versäumen, oder in den Worten des Soziologen Heinz Bude: „Die Angst der Unentschlossenen (ist) … womöglich die Angst unserer Zeit. Sie definiert ein Leben im Wartezimmer, das auf die Anzeigetafel für den entscheidenden Aufruf blickt“ (Gesellschaft der Angst, S. 100). Es ist der außengeleitete Mensch, der keine inneren Ideale und Gewissheiten mehr hat, sondern ständig forscht, was die anderen wohl über ihn denken und der dann denkt, was er tun und lassen muss, damit die anderen anders über sein eigenen Denken denken usw. usf.. Oder noch einmal der Soziologe Bude: „Dem außengeleitete Charakter fehlen die inneren Reserven, die ihn relativ immun gegenüber absurden Vergleichen und wahnwitzigen Verführungen machen könnten“ (Gesellschaft der Angst, S. 26). So treibt uns die Angst zum ängstlichen Harren einer Kreatur, die immer nur auf die anderen hört und dennoch individuell sein will, die in dem ständigen Schielen auf den jeweils optimalen, erfolgreichsten, gelungensten Lebensentwurf nicht mehr geradeaus schauen kann. Der ständig in der Angst lebt, zu wenig, zu langsam, zu unentschlossen, zu falsch abzubiegen.        

IV.
Und dann, liebe Gemeinde, kommt mitten hinein in diese bewusste oder unbewusste Angst so eine Choralkantate daher: „Es ist das Heil uns kommen her“, aus einem fremden Jahrhundert, in einer schönen, aber fernen Musik und mit einer fernen Geschichte, die erzählt lang und breit und ausführlich, was wir Menschen alles nicht machen müssen:
eine Narration über ein schon gemachtes Bett, eine Geschichte zum Zuhören, kein Appell, keine Verpflichtung, keine Normativität, sondern eine Geschichte zwischen Himmel und Erde, die für dich und mich schon fertig ist, die andere für dich und mich gemacht haben, Gott zuerst, auch sein eingeborener Sohn, nicht zu vergessen der Heiligen Geist, der dem Zuschauer – also uns -  auch noch die richtige Sehweise auf die Geschichte bringt, selbst das Verstehen müssen wir nicht machen. Wir Menschen müssen gar nichts, nur zuhören, hinschauen, staunen, verwundern, fragen, zweifeln, lachen, hoffen, alles dies ja, aber eben nichts optimieren, nichts verbessern, nicht drauflegen, - es ist vollbracht, ohne dich, für dich.

Liebe Gemeinde, ist es ganz falsch, dieses Zuhören und Zusehen als allerbesten Anfang eines lächelnden Umganges mit dem angstmachenden Gestaltwandler unserer Tage anzusehen? Uns Protestanten sagt man immer nach, dass wir es nicht so haben mit dem Genießen Gottes, bei uns sei alles gleich wieder ethischer Impuls und gesellschaftliche Verantwortung. Aber hier mal nichts machen, mal nichts optimieren, mal nichts verbessern und nicht votieren, sondern lassen, zulassen, drauf einlassen und jeden Aktionismus, jeden Optimierungszwang, jedes Entscheiden erst einmal lachhaft, vordergründig, zu kurz gesprungen finden! Ausatmen, ja, dankbar sein, ja, staunen, ja, weil ja schon so viel für mich gemacht wurde. Und dann die Geschichte erschließen, die Erzählung bewundern, den Sinn bestaunen, und Gott genießen, darum geht es, mehr nicht, weniger nicht, denn das reicht völlig.  Gott sei Dank und Amen