Predigt in der Auenkirche Berlin-Wilmersdorf
Galater 5, 1-6
Liebe Gemeinde,
1. Fastenzeit vorreformatorisch
die Suppe dampft schon. Köstlicher Geruch zieht durchs Haus. Es riecht nach Möhren und Pastinaken, nach Zwiebeln und Petersilie. Herrlich! Da läuft einem das Wasser im Mund zusammen! Und der Hunger ist groß. Aber ob die Suppe satt macht? „Ach hätt’ ich doch ein schönes Stückchen Wurst. Geräuchert und gut abgehangen.“ So mag sich manch einer denken. Aber halt, es ist Fastenzeit! Da ist das Essen von Fleisch und Wurst verboten. Es gilt, Abstinenz zu halten. So schreibt es die Kirchenordnung vor.
Trotzdem, es riecht nicht nur nach Suppe. Es duftet eindeutig auch nach Wurst. Und tatsächlich: Einer holt zwei schöne, geräucherte Würste hervor, schneidet sie feierlich mit seinem Messer klein und reicht sie herum. Ein kurzes Zögern, dann langen die Anderen zu. Die Wurst schmeckt – verboten, aber herrlich. Die Reformation hat begonnen.
So geschehen im Frühjahr 1522 in Zürich. Dort begann die Reformation anders als in Wittenberg nicht mit 95 Thesen, sondern mit einem Wurstessen mitten in der Fastenzeit. In der Werkstatt eines Buchdruckers saß eine Handvoll Männer beisammen und brach öffentlich das Fastengebot.
Ein Skandal! Doch Huldreich Zwingli, der Pfarrer des Zürcher Großmünsters, verteidigte die Männer, denn es ging ja um die Wurst, nämlich um die evangelische Freiheit.
Zwingli rechtfertigte den Bruch der Fastenordnung. Denn fürs Fasten gibt es keine Vorschrift von Gott. In der Bibel findet sich kein Gebotskatalog, der allen Gläubigen eine feste Fastenzeit mit einer bestimmten Fastenordnung vorschreiben würde. Deswegen, meinte Zwingli, seien die Christen frei von dieser kirchlichen Ordnung. Statt unter dem kirchlichen Gebot können sie in evangelischer Freiheit leben. Das hörten Viele gern, denn bis zu 130 Fastentage galt es im Mittelalter einzuhalten: Die strengen Regeln verboten unter anderem das Fleisch warmblütiger Tiere, zudem Milch, Butter und Eier. Da wurde das Fastenbrechen tatsächlich ein Akt der evangelischen Freiheit.
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Das hat Zwingli angetrieben. Dies lehrte auch schon ein ganz Anderer, nämlich Paulus im Brief an die Galater. Wir hören seine Worte im 5. Kapitel in den Versen eins bis sechs:
1 Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!
2 Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, so wird euch Christus nichts nützen.
3 Ich bezeuge abermals einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.
4 Ihr habt Christus verloren, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, und seid aus der Gnade gefallen.
5 Denn wir warten im Geist durch den Glauben auf die Gerechtigkeit, auf die man hoffen muss.
6 Denn in Christus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.
2. Paulus: Zur Freiheit hat uns Christus befreit
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Sie dürfen sich diesen Satz ruhig mit mindestens drei Ausrufezeichen versehen vorstellen, denn der Galaterbrief ist die wohl streitbarste Schrift des großen Apostels. Es geht um viel. Paulus selbst hat die Gemeinden in Galatien gegründet. Er hat ihnen von Gott und Jesus Christus gepredigt und er hat ihnen von sich erzählt: Wie er früher so unerbittlich darauf gepocht hatte, dass alle Gebote Gottes erfüllt werden, und er selbst in aller Strenge darauf achtete, dass er und andere Juden nicht ein Iota davon abwichen. Mit der gleichen Leidenschaft, mit der er früher das Gesetz hochgehalten und als heilig erklärt hat, ist ihm nach der Begegnung mit dem Licht Christi klar geworden, dass es niemals einem Menschen gelingen würde, ein vor Gott wirklich unantastbares und gerechtes Leben zu führen. Das Wissen um die eigene Unfähigkeit, mit guten Taten Gott zu imponieren, hat sich bei Paulus zutiefst eingegraben. Es gehört zum Wesenskern seines Glaubens.
Und wir? Wir kennen uns auch aus leidvoller Erfahrung. Selbst wenn wir es gut meinen! Selbst wenn wir uns zusammenreißen und uns anstrengen. Wir können nicht immer gerecht, liebevoll, aufrichtig, barmherzig und uneigennützig leben. Wir machen Fehler, verstricken uns in Schuld, versündigen uns an unseren Mitmenschen – in der Familie, unter Freunden, im Kreis der Arbeitskollegen. Damit versündigen wir uns auch an Gott – auch wenn wir es nicht wollen.
Meistens bekommen unsere Fehler nur die Menschen in unserem nahen Umfeld mit. Manchmal aber geschehen die Fehltritte im Licht der Öffentlichkeit. Dann nämlich, wenn Personen des öffentlichen Interesses als „Lichtgestalten“ auf einen Sockel gestellt werden. Es ist verständlich, dass Menschen sich tadellose und verehrungswürdige Vorbilder wünschen. Und es ist auch verständlich, dass jene es sich gefallen lassen und daran Gefallen finden, auf einen Sockel des guten Ansehens gestellt zu werden. Doch es ist nicht leicht, dort oben zu stehen. Die Gefahr ist groß, wieder herunterzufallen. Menschen sind nun einmal keine Statuen, die nichts falsch machen können. Wir alle sind doch irgendwie Gefallene – und Gott sei Dank von Gott wieder Aufgerichtete.
Deswegen hat Gott uns von dem aussichtslosen Unterfangen befreit, uns seine Gnade erst dann zukommen zu lassen, wenn wir uns dieser durch ein perfektes Leben würdig erweisen. Nein, wir sind keine Superstars. Wir dümpeln zwischen Erfolg und Misserfolg, zwischen Gottesnähe und Gottesferne wie eine kleine Scholle auf dem großen bewegten Meer des Lebens. Dass wir aber trotz der Gefangenheit unseres eigenen Ichs Freiheit empfinden können und diese wirklich erfahren, das ist der Sinn des Lebens, des Todes und der Auferstehung Jesu.
In Jesus Christus sagt Gott uns, dass er uns angenommen hat und liebt, ohne dass wir etwas dazu tun müssen. Gottes Liebe braucht keine Fleißbildchen. Diese Erkenntnis erfüllt Paulus. Freiheit! Freiheit vom Zwang, sich Gottes Liebe erwerben zu müssen. Das hat er seinen Galatern immer wieder gesagt.
Und nun? Nun kommen Kollegen des Paulus, andere Prediger, und behaupten, dass die Männer der Gemeinde sich beschneiden lassen müssen, wenn sie gottgefällig sein wollen. Sich beschneiden lassen, das ist das Symbol des Alten Bundes, die Selbstverpflichtung, alle Gesetze zu halten. Und da ist er doch wieder: der Zwang, das Joch der Knechtschaft. Gleichgültig, ob es konkret damals um Beschneidung ging oder heute um eine bestimmte Anzahl von Gebeten, um täglich eine gute Tat oder um andere fromme Übungen. Solchen Vorschriften schleudert Paulus sein wütendes „Nein!“ entgegen. „Nein!“, ihr könnt euch niemals vor Gott selbst rechtfertigen! Wenn ihr aber euer Vertrauen auf das Gesetz richtet, wenn ihr darauf vertraut, dass Gott euch für eure guten Taten belohnen wird, dann müsst ihr diese auch durchhalten. Vertraut ruhig auf eure eigene Leistung, aber macht dann bloß nie etwas falsch! Wenn ihr euch nicht auf Gottes Gnade verlassen wollt, dann strengt euch an, dass ihr ja keinen Fehler macht. In den Worten des Paulus: „Ich bezeuge […] einem jeden, der sich beschneiden lässt, dass er das ganze Gesetz zu tun schuldig ist.“ Wer dagegen auf Christus vertraut, ist befreit vom Zwang, sich Gottes Liebe erarbeiten zu müssen. Also kurz und bündig: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“
3. Fastenzeit evangelisch
Warum gibt es aber dann überhaupt noch die Fastenzeit? Dass wir mittendrin sind, konnte der aufmerksame Zeitungsleser selbst im säkular geprägten Berlin nicht übersehen. Ihr Beginn zu Aschermittwoch war den meisten Postillen dieser Stadt einen Bericht wert. Selbst Radiostationen fragten ihre Hörer, worauf die Moderatoren die nächsten sieben Wochen verzichten sollten. Na? Mir wäre viel eingefallen.
Auch in der evangelischen Kirche ist die Fastenzeit nicht abgeschafft. Ganz im Gegenteil: Sie erfreut sich in evangelischen Kreisen wieder zunehmender Beliebtheit. Die EKD veranstaltet seit einigen Jahren eine Fastenaktion von Aschermittwoch bis Ostersonntag. Jedes Jahr nehmen rund zwei Millionen Menschen daran teil. Das diesjährige Thema der Aktion lautet: „Ich war’s! – Sieben Wochen ohne Ausreden.“ Ich weiß nicht, wer von Ihnen sich an dieser Aktion beteiligt. Aber ob wir die Konsequenzen nun gerade selbst erleben oder nur in Gedanken durchspielen. Es ist leicht vorstellbar, dass dieses Motto es in sich hat. Sieben Wochen ohne Ausreden – das erscheint fast zuviel verlangt. Ausreden kommen uns meistens ja doch schnell über die Lippen. Wenn zum Beispiel die Kinder nach meinem Kindergottesdienst sich in die Haare kriegen und ich sie dafür zur Rede stelle, kann ich mit fast 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass immer der Andere angefangen hat.
Was den Kindern nahe liegt, liegt aber auch uns Erwachsenen nicht fern. Für den Fehler auf der Arbeit ist der Kollege verantwortlich. Dass ich zu spät komme, liegt an der Bahn – das kann in Berlin inzwischen sogar eine gewisse Glaubwürdigkeit beanspruchen. Dass ich wieder den eigentlich geplanten Familientag mit Terminen gefüllt habe, liegt an der schwierigen Situation, in der die Firma sich gerade befindet. Ausreden machen uns das Leben eben vermeintlich leichter. Schon die Geschichte der Menschen in der Bibel beginnt mit einer Ausrede: Nach dem Sündenfall zeigt der Mann auf die Frau und die Frau auf die Schlange. Seit Adam und Eva verfolgt uns dieses Verhaltensschema auf Schritt und Tritt.
Das ist die Kehrseite der Freiheit: Wir sind scheinbar keinen Regeln und Zwängen unterworfen, nach denen wir unser Handeln ausrichten müssen. Das heißt aber, dass wir auch niemand anderen als uns für unser Handeln verantwortlich machen können. Wie wir handeln, ist unsere Entscheidung. Wer sich dann aber mit Ausreden aus einer misslichen Lage befreit, stiehlt sich nicht nur aus der Verantwortung, sondern er stiehlt sich selbst die Verantwortung und macht sich zum Knecht der angeblichen Umstände. Daher ist die diesjährige Fastenaktion eine Mahnung dazu, unsere Freiheit verantwortungsvoll zu gebrauchen.
4. Das neue Joch der Knechtschaft
Und genau das ist der Kern der Fastenzeit: Sie fragt uns danach, wo wir uns erneut unter das Joch der Knechtschaft zwängen lassen. Solche Joche gibt es wahrlich genug. Und auch heute ordnen wir uns denen oft allzu freiwillig unter. Ein solches Joch der Knechtschaft kann der Alkohol sein, wenn wir ihn dazu brauchen, um am Abend in einer Gruppe in Stimmung zu kommen oder um „runterzukommen“ von den Belastungen des Tages.
Ein solches Joch der Knechtschaft ist aber auch der Druck, den unsere Gesellschaft inzwischen auf unsere Kinder legt. Englischunterricht möglichst schon in der Krippe, der Auslandsaufenthalt wird gleich zum Schulanfang gebucht, und wer es „nur“ in die Hauptschule schafft, ist sowieso ein „Opfer“. Ich frage mich, wo da die Zeit bleibt, dass die Kinder sich ungezwungen entwickeln, spielen und sich ausprobieren können. Sagt den Kindern eigentlich noch jemand, dass Leistung nicht alles im Leben ist?
Aber ist die Leistung nicht auch ein Joch der Knechtschaft für uns Erwachsene? Klar, wir wissen, dass wir gegenüber Gott nichts leisten müssen. Aber haben wir unseren Ehrgeiz nicht einfach nur verlagert? Steckt nicht unser Leistungswille nun ganz in der Arbeit? Wir strampeln uns ab, um dranzubleiben am Leben, um den gesellschaftlichen Anforderungen zu entsprechen. Um Karriere zu machen, bringen wir Höchstleistungen – und nehmen dafür in Kauf, dass unsere Familie, unsere Freundschaften und oft genug auch unsere Gesundheit darunter leiden.
Natürlich ist es gut zu arbeiten, und gerade für Menschen, die lange arbeitslos waren, ist es auch unglaublich befreiend, endlich wieder arbeiten zu dürfen. Aber diese Arbeit wird auch schnell zum Hamsterrad, das uns kaum Raum für Anderes lässt.
5. Folge der Freiheit: Der Glaube, der durch die Liebe tätig ist
Doch nicht das Joch der Knechtschaft, sondern die Freiheit soll unser Leben bestimmen. Heißt das nun, dass ich in aller Freiheit nur noch auf mich schaue? Dass ich nur noch das mache, wozu ich Lust habe und was mir gut tut?
Das wäre ein grobes Missverständnis. Freiheit ist auch eine Aufgabe. Gott erwartet von uns, dass wir sie verantwortlich gebrauchen. Jesus Christus hat uns gezeigt, wie das aussieht. Der Glaube, der die Freiheit spürt, wendet sich automatisch dem Nächsten zu. Ich brauche mich nicht auf mich zu konzentrieren. Daher kann ich mich der Not und den Sorgen der Menschen um mich herum annehmen.
In christlicher Freiheit zu leben, heißt auch, dass ich bewusst Verzicht übe, dass ich nicht alles mache, was mir Spaß machen würde oder mir nutzt, wenn ich weiß, dass mein Handeln auf Lasten Anderer gehen würde.
Kurz, in christlicher Freiheit zu leben, heißt, in Nächstenliebe zu leben. Die Freiheit zu haben, mein Leben auch für Andere zu leben. So sagt es Paulus zum Schluss des Predigttextes: „Denn in Christus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“
Mit den Schwachen solidarisch zu sein, die Stimme für die sozial Benachteiligten zu erheben, mit den Kranken mitzuleiden, mit den Traurigen zu trauern und sie zu trösten, das sind alles zentrale Lebensäußerungen des christlichen Glaubens. Das sind die Aufgaben der christlichen Gemeinde, wie sie auch in der Auenkirche gelebt und verantwortet werden. Diesen Aufgaben können wir mit Freude nachgehen, denn sie sind uns nicht als Pflicht oder Zwang auferlegt. Im Gegenteil: Wir stellen uns ihnen mit Freude in Freiheit. Dieser Grundton, der auch für andere hörbar ist, ist gleichsam der wohltuende Klang des Liedes der Freiheit, das auch andere Menschen dazu einlädt, in diesen Gesang einzustimmen. Daher erklingt heute, am Sonntag Lätare, die Passionsmusik weniger als ein Trauermarsch denn vielmehr als ein Freudengesang.
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“, das heißt, dass wir gerne diese Freiheit zum Wohl unserer Mitmenschen gestalten.
Somit sind wir alle, die wir hier sitzen und uns täglich entscheiden, die uns geschenkte Freiheit von Gott verantwortlich zu nutzen, gewissermaßen die Wurst, ja vielleicht sogar das Salz in der Suppe der Gesellschaft.
Ja, lassen Sie uns das Salz in der Suppe dieser Gesellschaft sein, denn: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit.“
Amen.