Predigt zum zehnjährigen Jubiläum der Kirchenkaten in der Auferstehungs-Kirchengemeinde in Hamburg-Lurup

Prälat Dr. Stephan Reimers

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.

Liebe Gemeinde,

über Ihre Einladung zum heutigen Gottesdienst und deren Anlass: zehn Jahre Kirchenkaten - habe ich mich sehr gefreut. Der Rückblick auf die Zeit vor zehn Jahren hat mich an viele bewegende, oft auch fröhliche Begegnungen erinnert, an erfüllte Jahre. Es war die Anfangszeit der Obdachlosenzeitung Hinz & Kunzt. 140 000 Exemplare wurden damals monatlich in Hamburg gekauft. Und in der Regel war jeder dieser Verkäufe begleitet von einem mehr oder weniger kurzen Verkaufsgespräch. Menschen, die vorher geflissentlich voreinander weggesehen hatten, wandten sich einander zu und entdeckten gegenseitig Witz, Humor und Schlagfertigkeit. Um zwei Beispiele zu nennen:

Frau Goehler, die damalige Präsidentin der Kunsthochschule, erzählte mir eines Tages: "Hinz & Kunzt hat aber schlagfertige Verkäufer. Ich sag' zu dem einen: >Tut mir leid, ich hab schone eine.< Da sieht er mich an und sagt: >So, was steht denn drin?<"

Eine andere Frau erzählte mir: "Ich merkte, als ich bezahlte, dass ich gerade mein letztes Geld, wovon ich mir noch einen Kaffee kaufen wollte, ausgegeben hatte. Der Verkäufer sagte nur: >Wieso, macht doch nichts, dann lade ich Sie eben ein.<"

Natürlich habe ich in den vergangenen Wochen auch darüber nachgedacht, welcher Predigttext zu jener Zeit und den Kirchenkaten passen würde. Am Sonntag vor 14 Tagen wurde ein Text aus dem Jakobusbrief angegeben, bei dem ich dachte, der würde passen, und den möchte ich uns - obwohl er erst kurz zurückliegt - jetzt auszugsweise lesen:

Liebe Brüder, lasst euch in eurem Glauben an unseren Herrn Jesus Christus, den Herrn der Herrlichkeit nicht durch das Ansehen der Person bestimmen. Denn wenn in eure Versammlung ein Mann mit goldenen Ringen und prächtiger Kleidung kommt und zugleich kommt auch ein Armer in unsauberer Kleidung und ihr seht auf den, der prächtig gekleidet ist, und sagt zu ihm: Setz du dich hierher auf den guten Platz! und sagt zugleich zu dem Armen: Stell du dich dorthin! oder: Setz dich hierher zu meinen Füßen!, ist's recht, daß ihr solche Unterschiede bei euch macht und mit so schlechten Gründen urteilt?

Hört zu, meine lieben Brüder! Hat nicht Gott die Armen in dieser Welt dazu erwählt, reich im Glauben und Erben des Reichs zu sein, das er denen verheißen hat, die ihn lieb haben?

"...setz du dich hierher auf den guten Platz", liebe Gemeinde, diese Einladung ist immer heikel. Denn ihr geht ja eine Unterscheidung zwischen guten und weniger guten Plätzen voran, und eine Entscheidung, wen man auf den weniger guten Plätzen unterbringen will. In meiner Arbeit spielt diese Auswahl z.B. bei unserem jährlichen Johannesempfang der Evangelischen Kirche in Berlin eine Rolle. Wie die Bundeskanzlerin oder der Präsident des Bundesverfassungsgerichts zu platzieren sind, das ist noch einfach. Aber dann die Staatssekretäre, der Bürgermeister, die Fraktionsvorsitzenden, die Generalsekretäre der Parteien, der Nuntius des Vatikans, die Botschafter von Frankreich, Polen oder Israel. Wie findet man eine plausible und einigermaßen gerechte Sitzordnung?

Auch im privaten Leben werden wir immer wieder mit dieser heiklen Frage konfrontiert, z.B. bei großen Familienfeiern, Konfirmationen oder Hochzeiten. Wo platzieren wir den von weither angereisten Onkel oder die alte Großmutter, die schlecht hören kann? Wir brauchten immer viel mehr gute Plätze in der Mitte des Geschehens, als wir haben.

Die Kirchenkaten haben etwas mit solcher Platzauswahl zu tun. Bedürftige Menschen werden in der Mitte der Gemeinde, ganz nahe neben der Kirche aufgenommen. In dieser gemeinde stehen sie unmittelbar hinter der Apsis der Kirche. Die Katen leisten eine praktische Hilfe und sie sind zugleich ein Symbol für eine andere, eine alternative Platzanweisung.

Denn in der Regel ist es so, dass Arme und Bettler an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden. ‚Denn man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.'

Die Gemeinden, die sich so wie die Auferstehungs-Kirchengemeinde entschieden haben, Katen neben ihrer Kirche aufzustellen, senden damit ein deutliches Signal, dass sie die Verdrängung - die Unsichtbarmachung - der Armen nicht mitmachen wollen und sich ihr entgegenstellen. Sie sagen obdachlosen Menschen ganz konkret: "Setz du dich hierher auf den guten Platz."

Wenige Monate nach dem Start von Hinz & Kunzt besuchte meinen Kollegen Peter Schröder-Reineke vom Diakonischen Werk und mich eine begeisterte Leserin der neuen Zeitung, Gisela Schiefler. Sie war Journalistin und ihr Mann Architekt. Temperamentvoll trug sie mir ihre neue Idee vor: Obdachlose brauchten vor allem ein Dach über den Kopf. Sie sagte in etwa: "Ihr müsst die alte Idee der Gotteswohnungen wiederbeleben. Im Mittelalter baute man doch an den Kirchen kleine Zeilen von Buden an und ließ dort die Armen der Gemeinde - ohne Miete für Gotteslohn - wohnen. Hat Jesus nicht gelehrt: ‚Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es gewinnen.' Dies gilt auch für die Kirche als ganze. Die Kirche hat in Hamburg rund um die 200 Kirchengebäude kleine Grünzonen. Warum könnt ihr nicht mit den obdachlosen Menschen teilen und solche Gottesbuden neben den Kirchen errichten?"

Liebe Gemeinde, hinter dieser Kirche ist zu besichtigen, was aus dieser Idee, aus diesem Anstoß von Frau Schiefler wurde. Nicht alle, aber doch etliche Kirchengemeinden ließen sich für diese Idee gewinnen: 29 Häuser zu je 18 m² entstanden. Auch Spenderinnen und Spender gab es viele: In den Gemeinden, die sich auf den Weg machten, aber auch in der Hamburger Öffentlichkeit wurden die Kirchenkaten rasch ein populäres Projekt. Das Hamburger Spendenparlament trug zu jeder Kirchenkate DM 10.000,-- bei. Und Max Schmeling, dem ich in einem Gespräch unseren Plan vortrug, spendete pro Kate noch einmal den gleichen Betrag.

Die Kirchenkaten sind im Zusammenhang mit Hinz & Kunzt entstanden und beiden Projekten ist gemeinsam, dass sie sich gegen die Verdrängung der Armut und der Armen wenden. Das Gefährliche der Verdrängung Bedürftiger in Randzonen ist, dass die Menschen einander aus den Augen verlieren, dass das Gefühl für das Gemeinsame schwindet und Ängste voreinander größer werden. Dabei geht die Toleranz verloren, die Fähigkeit, das Anderssein des Anderen auszuhalten. Die Kirchenkaten und Hinz & Kunzt sind Gegenkräfte gegen solche Entfremdung. Sie helfen dabei, dass sich Menschen über große soziale Distanzen hinweg im Blick behalten und ansehen können.

Daher ist es auch kein Zufall, dass sich Hinz & Kunzt in den vergangenen zehn Jahren zweimal mit Erfolg gegen ein Bettelverbot in der Innenstadt stark gemacht hat. Viele Geschäftsleute der Innenstadt empfinden sichtbare Armut als geschäftsschädigend. Menschen mit goldenen Ringen und prächtiger Kleidung - wie es im Predigttext heißt - möchten sie am liebsten vor und in ihren Geschäften sehen. Das steigert die Kauflust. Da können Bettler nur stören.

Gegen den letzten Versuch eines Bettelverbotes haben unsere Bischöfin Maria Jepsen, Hinz & Künztler u.a. öffentlich demonstriert. Sie haben den freien Zugang aller Bürger zum öffentlichen Raum als ein wesentliches Menschenrecht verteidigt. Zur Menschlichkeit des Menschen gehört eben das Recht, im öffentlichen Raum die eigenen Interessen und Anliegen - seien es auch Nöte - anderen zur Kenntnis zu bringen.

Zum Schmunzeln füge ich hinzu, dass Hinz & Kunzt an seinem Anfang selbst erst sein Verhältnis zum Betteln und zu den Bettlern definieren musste. Das Projekt verstand sich ja als Alternative zum Betteln. Beim ersten Verkaufstag, am 6. November 1993 auf dem Gerhart Hauptmann Platz, hatten wir etliche Plakate mit der Aufschrift aufgestellt "Hinz & Kunzt verkaufen ist besser als betteln. Dann kamen Bettler und beschwerten sich. Einige wurden Verkäufer bei Hinz & Kunzt, aber längst nicht alle. Am Ende stand jedenfalls die Entscheidung das Hinz & Kunzt-Teams, dass man sich gegen eine polizeiliche Verhinderung von Betteln stark machte - mit Erfolg.

Liebe Gemeinde,

"...setz du dich hierher auf den guten Platz." Nach besseren Plätzen für Arme zu suchen, das kann nicht nur die selbst gewählte Aufgabe einzelner Kirchengemeinden sein, es ist vielmehr eine Verpflichtung für die ganze Kirche. In diesem Sommer hat unsere Kirche unter der Überschrift "Gerechte Teilhabe" eine neue Denkschrift vorgestellt. Und die am nächsten Sonntag in Würzburg beginnende EKD-Synode ist demselben Thema gewidmet und will Folgerungen aus der Denkschrift ziehen.

Als Botschafter unserer Kirche in Berlin bin ich seit sieben Jahren zuständig für die regelmäßigen Treffen des EKD-Rates mit den Präsidien der Parteien und die Kontakte zur Bundesregierung. Wir haben viele Gespräche geführt und sie grundsätzlich auch dafür genutzt, ein stärkeres Engagement des Staates für Langzeitarbeitslose einzufordern. Wenn jetzt im Rahmen der Kombi-Lohn-Debatte ein neues Programm für mehrere 100.000 Arbeitslose vorbereitet wird, dann hat dazu die konsequente Haltung unserer Kirche wesentlich beigetragen.

Liebe Gemeinde, wir vertrauen jetzt darauf, dass die Große Koalition gegebene Zusagen einhält, und dass viele Menschen durch Arbeit neuen Lebenssinn und Perspektive gewinnen können, dass sie einen Platz finden - vielleicht nicht den besten, aber einen besseren. Tu deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind - so heißt unser biblischer Auftrag.

Amen.