Tagung "Soziale Marktwirtschaft - Leitbild für eine gute Zukunftspolitik?" in der Evangelischen Stadtakademie
OKR'in Katrin Hatzinger, Frankfurt am Main
erst einmal herzlichen Dank an die Veranstalter für die Einladung, heute Abend zu Ihnen nach Frankfurt zu kommen und die Brüsseler Perspektive auf dieses aktuelle Thema einzubringen. Bevor ich allerdings die Bedeutung des Konzeptes der sozialen Marktwirtschaft im europäischen Kontext darstelle, erlauben Sie mir zunächst eine kurze Erläuterung unserer Arbeit im EKD-Büro in Brüssel, damit Sie nachvollziehen können, aus welcher Warte ich heute Abend zu Ihnen spreche.
Seit 1990 ist die EKD in Brüssel mit einer Dienststelle vertreten. Stand zunächst die Funktion des Büros als "Frühwarnsystem" vor Einmischungen der EU-Gesetzgebung in das grundgesetzlich geschützte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen im Vordergrund der Tätigkeit, spielte in den letzten Jahren die Wahrnehmung des Öffentlichkeitsauftrags der Kirchen eine zunehmende Rolle. Dabei bringt sich das Büro in den politischen Prozess ein, indem es zu Fragen von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung Stellung bezieht, sei es durch öffentliche Diskussionsveranstaltungen, die Abgabe von Stellungnahmen oder Positionspapieren. Ich selbst bin von Hause aus Juristin und werde von einem Team aus acht Mitarbeitenden unterstützt. Uns interessieren dabei eine Vielzahl von Themen:Aaktuell reicht die Bandbreite von der europäischen Asyl- und Migrationspolitik, über Jugendpolitik und bioethische Fragestellungen bis hin zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik oder datenschutzrechtlichen Fragen. Darüber hinaus informiert das EKD-Büro, das Teil der Dienststelle des Bevollmächtigten des Rates der EKD ist, kirchliche Einrichtungen über das aktuelle europapolitische Geschehen, empfängt Besuchergruppen und gibt vierteljährlich die EKD-Europa-Informationen heraus. Seit letztem Herbst ist an das Büro zudem die die Servicestelle EU-Förderpolitik und -projekte angegliedert. Die Mitarbeitenden befassen sich mit Fragen der europäischen Förderpolitik und informieren und beraten diakonische Verbände und Landeskirchen über Möglichkeiten, mit EU-Geldern kirchlich-diakonische Arbeit zu finanzieren oder europäische Partner zu finden. Die Bandbreite der Einsatzgebiete der Fördergelder reicht dabei von der Sanierung von Kirchengebäuden, über die Finanzierung sozialer Projekte, Unterstützung für die evangelische Erwachsenenarbeit bis hin zur Bezuschussung europäischer Pilgerwege. In unserer Arbeit pflegen wir einen engen Austausch mit den anderen kirchlichen Vertretungen in Brüssel und kooperieren, je nach Themengebiet, auch mit Nichtregierungsorganisationen und den Gewerkschaften.
Der besondere Beitrag der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der europapolitischen Debatte ist seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon zum 1. Dezember 2009 auch im europäischen Primärrecht anerkannt. Dort heißt es in Art. 17 Absatz III des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV): "Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog."
An diesem Dialog beteiligt sich das EKD-Büro und begleitet auch intensiv die Debatte um die Zukunft Europas in Zeiten der Krise. Dabei bemühen wir uns, die Hintergründe der Schuldenkrise deutlich zu machen, politisch Handelnde und kirchenleitende Persönlichkeiten zusammenzubringen und generell zu einer Versachlichung der Debatte beizutragen.
Dem Begriff der Sozialen Marktwirtschaft kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Interessant ist zunächst festzuhalten, dass er Einzug in den Vertrag von Lissabon gefunden hat und damit Teil des geltenden EU-Rechts geworden ist. Die allgemeinen Zielbestimmungen der EU umfassen nämlich eine nachhaltige Entwicklung "einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt" (Art. 3 Absatz III des Vertrages über die Europäische Union). Auch die Idee der Sozialpartner ist auf EU-Ebene schon lange präsent. So ist die Europäische Kommission angehalten, die europäischen Sozialpartner vor der Unterbreitung von Vorschlägen im Bereich der Sozialpolitik zu konsultieren (Art. 154 AEUV). Die COMECE, die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft, hat zu diesem Vertragsziel im Januar eine Erklärung unter dem Titel "Eine europäische Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft" abgegeben und als Antwort auf die Wirtschafts- und Finanzkrise empfohlen, den gemeinsamen Markt nach dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft fortzuentwickeln.
Während die EU den ordnungspolitischen Aspekt der sozialen Marktwirtschaft durch ihr ausgeprägtes Wettbewerbs- und Beihilfenrecht bereits abdeckt, fehlt es ihr weiterhin an einer eigenen Sozialpolitik. Gerade in der Wirtschaftskrise kommt es aber darauf an, die soziale Dimension nicht zu vernachlässigen. Der starke Zuwachs nationalistischer und extremistischer Parteien ist nicht zuletzt auf die wachsenden sozialen Spannungen und zunehmende Ungleichheiten in den europäischen Gesellschaften zurückzuführen.
In unserer Arbeit setzen wir uns deshalb u.a. dafür ein, den Blick für diese soziale Dimension zu schärfen. Dies möchte ich gern an einigen Beispielen illustrieren.
- Armutsziel in der Europa 2020-Strategie
Zurzeit sind in der EU der 27 rund 23 Millionen Menschen arbeitslos, darunter viele junge Menschen, und rund 113 Millionen von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Nach Aussage der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sind 5,5 Millionen junge Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren in der Europäischen Union ohne Job, so dass sie bereits von der "lost generation" spricht. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft in erschreckendem Ausmaß EU-weit immer weiter auseinander, auch bei uns in Deutschland.
Die beiden großen deutschen Kirchen haben sich in Brüssel deshalb gemeinsam mit ihren Wohlfahrtsverbänden Caritas und Diakonie im Sinne der sozialen Gerechtigkeit und des Eintritts für die Schwachen sehr dafür eingesetzt, dass in die Europa 2020 Strategie für innovatives, nachhaltiges und integratives Wachstum, das Ziel der Armutsbekämpfung aufgenommen wird. Tatsächlich konnten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs darauf verständigen, bis 2020 die Zahl der Menschen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind um 20 Millionen zu reduzieren. Es ist begrüßenswert, dass es erstmals gelungen ist, in eine Wachstumsstrategie der EU eine soziale Komponente einzufügen und die Vorgaben auch zu konkretisieren und zu quantifizieren. Doch Zielvorgaben auf dem Papier allein reichen nicht aus, es kommt auf die Umsetzung der Ziele durch die 27 EU-Mitgliedstaaten an. In sog. Nationalen Reformprogrammen müssen sie ihre Aktivitäten zur Umsetzung der Strategieziele dokumentieren. Wirft man einen Blick auf das Engagement zur Armutsbekämpfung wird schnell klar, dass mehr Engagement gegen Armut nötig wäre und leider zu oft der Blick vor der relativen Armut in unseren Gesellschaften verschlossen wird.
Armut ist außerdem ein komplexes Phänomen, das entsprechender Antworten bedarf. Die Bundesregierung will sich jedoch in ihrem nationalen Reformprogramm lediglich auf die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit konzentrieren und die Zahl der Langzeitarbeitslosen um 320.000 Menschen reduzieren. Wenn man bedenkt, dass in Deutschland insgesamt 16 Millionen Menschen von Armut gefährdet sind, wird klar, dass mehr geschehen müsste. So wäre es nötig weitere Armutsindikatoren in Betracht zu ziehen und auch Kinder, Alleinerziehende, Einwanderer, Ältere oder Menschen mit Behinderungen in den Blick zu nehmen.
Strategien gegen Arbeitslosigkeit, Armut und soziale Ausgrenzung müssten also beherzter als bislang umgesetzt werden. Das gelingt aber nur, wenn der Mensch im Mittelpunkt der Bemühungen steht und nicht die Märkte. - Regulierung der Finanzmärkte / Finanztransaktionssteuer
Die Euro- und Schuldenkrise führt nachdrücklich vor Augen, dass eine gemeinsame Währungspolitik auf Dauer nicht ohne eine aufeinander abgestimmte Finanz- und Wirtschaftspolitik gelingen kann. Sie verdeutlicht aber auch die Notwendigkeit, die Finanzmärkte stärker zu regulieren und zu beaufsichtigen. Diese Schritte werden von der EKD nachdrücklich unterstützt, ebenso wie die Einführungen einer europäischen Finanztransaktionssteuer, auch wenn der Weg dorthin mühsam ist. Der Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider, hat in einer Stellungnahme zur gegenwärtigen Finanz-und Schuldenkrise am 28. September 2011 unter der Überschrift "Was nicht im Dienst steht, steht im Raub" noch einmal betont: "Wie die Realwirtschaft hat auch die Finanzwirtschaft für die Gesellschaften eine dienende Funktion: Ihre Kernaufgabe ist es, den Geldverkehr für den Austausch von Gütern wahrzunehmen, Rücklagenbildungen zu organisieren und Geldmittel für Investitionen bereitzustellen. Die staatlichen Ordnungen haben die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu setzen, die Risiken den Verantwortlichen zuzuordnen und geordnete Finanzmärkte zu ermöglichen."
Nach der Bankenkrise von 2008 ist die Aufgabe nicht erfolgreich angepackt worden, für die Finanzmärkte einen verstärkten Ordnungsrahmen zu schaffen. Unzureichend geordnete Märkte aber erweisen sich erneut als ein zu großes Risiko für die gesamte Gesellschaft. Die EKD erneuert in diesem Zusammenhang ihren Vorschlag, eine Transaktionssteuer einzuführen.
Tatsächlich hat die Europäische Kommission am 28. September 2011 einen Vorschlag zur Einführung einer Finanztransaktionssteuer in der EU vorgelegt. Dies sei eine Frage der Fairness, so der Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Die Mitgliedstaaten hätten die Banken in den vergangenen Jahren mit Garantien über 4,6 Billionen Euro gestützt. Nun müsse der Finanzsektor seinen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Mittlerweile ist absehbar, dass eine Einführung der Steuer im Kreis der 27 Mitgliedstaaten nicht stattfinden wird. Insbesondere Großbritannien und Schweden treten auf die Bremse. Deutschland, Frankreich und Österreich wollen die Steuer aber dennoch und streben dazu eine "Koalition der Willigen" an, um im Rahmen des Instruments der "Verstärkten Zusammenarbeit" vorangehen zu können. Um die "Verstärkte Zusammenarbeit" zu nutzen, müssen allerdings neun Mitgliedstaaten einen Antrag an die EU-Kommission stellen. Bereit wären Spanien, Belgien, Portugal, Slowenien und Griechenland, auch Italien hat Interesse signalisiert. Die Bundesregierung stehe innenpolitisch im Obligo. Sie hatte den Grünen und der SPD zugesagt, sich für die Steuer einzusetzen. Im Gegenzug signalisierten diese ihre Zustimmung zum europäischen Fiskalpakt und zum Euro-Rettungsfonds ESM.
Ich könnte die Liste der Beispiele noch weiter führen, über unsere Engagement in der europäischen Sonntagsallianz oder das Eintreten für einen neuen Wachstumsbegriff, der neben wirtschaftlichen auch soziale und ökologische Aspekte umfasst, sprechen. Doch die Zeit ist begrenzt. Ich hoffe aber, dass Ihnen deutlich geworden ist, dass der Begriff der Sozialen Marktwirtschaft weit mehr ist als ein bloßes Schlagwort und in der jetzigen Situation eine besondere Relevanz hat.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.