Andacht im Deutschen Bundestag

Liebe Schwestern und Brüder,

in seinem Brief an die Gemeinden in Galatien schreibt der Apostel Paulus: „Irret euch nicht! Gott lässt sich nicht spotten. Denn was der Mensch sät, das wird er ernten.“ (Gal 6, 7)

Was der Mensch sät, das wird er ernten. Das finden wir auf eindrückliche Weise im Militärhistorischen Museum in Dresden dargestellt. Das Museum befindet sich in einem historischen Gebäude, in dem früher das Armeemuseum der DDR untergebracht war. Der Architekt Daniel Libeskind hat es beim Umbau vor einigen Jahren mit einer Art Keil ergänzt und gespalten. Die Spitze dieses begehbaren Keils zeigt auf die Dresdner Altstadt. Besucher, die ihn betreten, finden dort unter anderem Gehwegplatten vor. Gehwegplatten aus der Dresdner Innenstadt. Sie sind beschädigt. Nicht durch Fußgänger oder Fahrzeuge, sondern durch Bomben aus der Luft. Dicht an dicht sieht man die Einschläge, kleine und große. Und es stellt sich die Erinnerung an jene fürchterliche Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 ein. Bis zu 25.000 Menschen, darunter viele Alte und Kinder, verloren damals ihr Leben…

Geht der erschütterte Besucher ein paar Schritte zurück, trifft er auf eine zweite Fläche aus Gehwegplatten. Auch sie tragen die Spuren der Zerstörung durch Bomben. Diese Platten stammen aus der polnischen Kleinstadt Wielun und wurden am 1. September 1939 morgens um halb fünf beschädigt. Die Bomben fielen aus deutschen Kampfflugzeugen und töteten etwa 1200 Menschen. „Was der Mensch sät, das wird er ernten.“

Allerdings hatten die Menschen nicht erst am 1. September 1939 begonnen, das Unheil zu säen. Damit hatten nationalsozialistische Ideologen bereits Jahre zuvor angefangen, als sie Rasse, Volk und Vaterland in den Rang von Göttern erhoben, denen alle zu dienen hatten. Jahrelang hatten sie die tödliche Ernte – nicht nur die der Dresdner Bombennacht – heraufbeschworen, als sie ungezählten Menschen erst die Freiheit und dann das Leben nahmen. Jahrelang hatten sie den Juden, die doch Gottes auserwähltes Volk sind, das Existenzrecht abgesprochen. Der Bombennacht von Dresden ging die Reichspogromnacht voraus…

Die Sämänner und Säfrauen waren indes nicht allein für die tödliche Ernte verantwortlich. Verantwortlich waren auch jene, die ihnen nicht in den Arm fielen. Die sie nicht daran hinderten, ihre schreckliche Saat auszustreuen. Die evangelische Kirche sah sich deshalb unmittelbar nach Kriegsende zu dieser Schulderklärung veranlasst: „Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Das sei uns heute – siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – Mahnung und Warnung: Bekennen wir! Bekennen wir, dass wir allein Gott die Ehre geben. Bekennen wir, dass wir in allen Menschen Gottes Geschöpfe sehen, die mit höchster und unzerstörbarer Würde ausgestattet sind. Beten wir! Beten wir zu dem Gott Israels und Vater Jesu Christi. Beten wir, dass er der Gewalt und den Kriegen wehre. Glauben wir! Glauben wir Gott, dass er keinen, wirklich keinen Menschen verloren gibt. Und lieben wir! Lieben wir unseren Nächsten wie uns selbst. Achten wir darauf, was die Menschen neben uns brauchen. Dabei werden wir in diesen Tagen besonders an jene denken, die bei uns Zuflucht vor Verfolgung und Not suchen…
„Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.“ So haben wir eingangs mit den Worten des 98. Psalms gebetet. Es hat lange gedauert, bis wir Deutschen den 8. Mai 1945 nicht mehr nur als Tag der Niederlage sondern auch als Tag der Befreiung begreifen konnten. Befreit wurden die Menschen, die in Auschwitz und Buchenwald, in Dachau und Sachsenhausen sowie in den anderen Konzentrationslagern erniedrigt und gequält worden waren und fürchterliche Verbrechen hatten mit ansehen müssen. Befreit wurden aber auch die Täter. Befreit von der tödlichen Ideologie. Befreit davon, weiter Unheil über unschuldige Menschen zu bringen. Und dann geschah das Wunder, das Wunder des Neubeginns. Das deutsche Volk, das sich in großen Teilen so entsetzlich schuldig gemacht hatte und wahrlich kein Vertrauen verdiente, durfte noch einmal von vorne anfangen. Auch mit Israel. Schon zwanzig Jahre nach dem Ende des Krieges nahmen die Bundesrepublik Deutschland und Israel diplomatische Beziehungen auf. Als 1990 die DDR zusammenbrach, wurde den Deutschen erneut Vertrauen entgegen gebracht. Das Vertrauen, dass sie ihre Macht nicht noch einmal missbrauchen würden. Heute ist das wieder vereinigte Deutschland ein stabiler demokratischer Rechtsstaat, fest eingebunden in die Gemeinschaft der Völker Europas und der Welt…
„Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder.“ Wir danken Gott für das Wunder des Neuanfangs. Wir preisen Gottes Langmut und Güte. Zugleich wissen wir uns durch das an uns geschehene Wunder verpflichtet. Verpflichtet, dem Recht und dem Frieden zu dienen – nicht allein zwischen Rhein und Oder, Alpen und Nordsee, sondern auch jenseits unserer Grenzen. „Aller Welt Enden sehen das Heil unseres Gottes“, heißt es in Psalm 98. Dazu wollen wir beitragen. Amen.