Heilsame Unterbrechung in der Passionszeit

Predigt in der Französischen Friedrichstadtkirche zu Berlin

Lukas 10, 38-42

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus…
 

Liebe Schwestern und Brüder,

„Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm Jesus auf.“ Was sich so selbstverständlich anhört, zeugt von einer mutigen Persönlichkeit. Marta wagt es, einen Mann zu beherbergen. Das ist zu ihrer Zeit alles andere als selbstverständlich, und wir können uns die neugierigen und missbilligenden Blicke der Nachbarn sowie den unverzüglich einsetzenden Dorftratsch gut vorstellen: „Hast du schon gehört? Bei Marta ist ein Mann eingekehrt. Dass die sich nicht schämt, wo doch sonst kein Mann im Haus ist – nur ihre Schwester Maria.“ Und Kundige haben auch gleich erkannt, dass der Mann ein besonderer Gast ist: „Das ist doch Jesus aus Nazareth, der Wanderprediger und Wunderheiler, an dem sich die Geister scheiden. Wenn das mal gut geht!“

„Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm Jesus auf.“ Dieser kurze Satz zeugt nicht nur von Martas Mut, sondern auch von ihrem Fleiß und von ihrer Energie. Zunächst heißt es, den Gast freundlich zu begrüßen und ihm eine Erfrischung zu reichen. Einen Becher kühles Wasser, vielleicht mit etwas Zitrone oder Minzblättern darin. Es ist heiß in Israel und die Reise war anstrengend. Doch ohne Mahlzeit kann man einen Gast nicht ziehen lassen. Nicht im Orient. Also schnell die Vorräte sichten und dann ab auf den Markt, Fladenbrot, Gemüse und Oliven kaufen, ein paar Gewürze noch und Datteln und – zur Feier des Tages – ein Huhn. Dann zurück nach Hause, dem Gast einen Teller mit Oliven und Datteln vorsetzen, das Huhn schlachten und kochen, das Gemüse putzen und zubereiten, nebenbei verstohlen ein paar herumliegende Dinge wegräumen – wer konnte denn heute mit Besuch rechnen? – schmutzige Teller abwaschen, den Tisch decken, die Speisen auftragen. Und, wer weiß: Vielleicht möchte der Gast ja übernachten. Da muss noch ein Schlafplatz hergerichtet werden…

„Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm Jesus auf.“ Mit ihrem Mut, ihrem Fleiß und ihrer Energie ist Marta nicht allein. Es gibt viele Menschen, die so leben und arbeiten wie Marta, und bestimmt erkennen sich auch manche von Ihnen in Marta wieder.

Die moderne Marta eilt von Termin zu Termin. Es muss ja immer schneller reagiert und entschieden werden. Dann zurück an den Schreibtisch: Die Chefin verlangt die Vorlagen in immer kürzeren Abständen. Dazwischen müssen Mails gesichtet und wichtige von unwichtigen Nachrichten geschieden werden. Wie immer wollen alle sofort eine Antwort. Mittendrin ein Gespräch mit einem Kollegen, der private Sorgen hat. Auf dem Heimweg noch schnell ein paar Besorgungen machen. Inzwischen arbeitet Marta auch zu Hause, hat das Smartphone auf dem Nachttisch liegen, ist immer erreichbar…

Manche Marta zieht neben ihrem Beruf Kinder groß – oft ohne Partner. Nach einem anstrengenden Arbeitstag kommt sie nach Hause, aber nicht um wie andere von der Arbeit auszuruhen, sondern um Essen auf den Tisch zu bringen, die Erlebnisse der Kinder zu hören, zu trösten oder anzuspornen, je nach dem, bei den Hausaufgaben zu helfen, die abendliche Körperpflege zu überwachen, vielleicht noch eine Geschichte vorzulesen. Und wenn die Kinder dann im Bett sind, wird gewaschen, gespült und genäht. Am Wochenende muss die Wohnung geputzt werden und die Eltern erwarten einen Besuch…

Viele Menschen lassen sich beanspruchen, wir Marta es tat. Sie sorgen – oft neben einem anstrengenden Beruf - für die eigene Familie, pflegen den an Demenz erkrankten Vater und engagieren sich außerdem noch in ihrer Kirchengemeinde oder bei der Stadtmission, in der Kleiderkammer des Flüchtlingsheims oder im Hospizdienst…

Gut, dass es alle diese Menschen gibt! Ohne sie würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Und je älter wir alle werden, umso mehr sind wir darauf angewiesen, dass viele Menschen engagiert Martadienste tun. Die Unterstützung und Förderung ehrenamtlicher Martadienste verdient hohe politische Aufmerksamkeit. Es muss deutlich werden, dass ehrenamtliche Arbeit kein Hobby von Leuten ist, die zu viel Zeit haben, sondern ein notwendiger Dienst an der Gesellschaft. Ebenso bleibt die bestmögliche Vereinbarkeit von Beruf und Familie eine zentrale politische und gesellschaftliche Aufgabe. Männer und Frauen, die ihre Kinder erziehen oder Angehörige pflegen, brauchen Flexibilität in ihrem Beruf.

 „Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm Jesus auf.“ Mit ihrem Mut, ihrem Fleiß und ihrer Energie ist Marta nicht allein. Oder doch? „Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihnen zu dienen. Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen? Sage ihr doch, dass sie mir helfen soll!“ Martas verzweifelte Frage und ihr leidenschaftlicher Appell verraten, dass sie an ihre Grenzen gekommen ist. Dass sie nicht mehr weiß, wie sie das alles schaffen soll. Dass sie, wie wir heute sagen würden, dem Burnout nahe ist. Und in ihre Erschöpfung mischt sich Wut: Jesus sieht mich nicht und Maria hilft mir nicht. Keiner sieht mich! Keiner hilft mir! Marta ist also nicht nur selbst gefährdet, weil sie mit ihren Kräften am Ende ist. Gefährdet ist auch die Beziehung zu ihrer Schwester. Marta schafft es nicht einmal mehr, Maria direkt anzusprechen. Sie bringt es nicht fertig, zu sagen: „Maria, sei doch so gut und deck schon mal den Tisch. Danach kannst du ja weiter zuhören.

„Was hilft es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und Schaden zu nehmen an seiner Seele?“ hat Jesus einmal gesagt. Marta ist im Begriff, Schaden an ihrer Seele zu nehmen. Wie so viele, andere, die sich zwischen zu versorgenden Kindern und zu pflegenden Eltern, zwischen Beruf, Familie und Ehrenamt aufreiben und nicht selten seufzen: Keiner sieht mich! Keiner hilft mir!

Keiner sieht mich? Keiner hilft mir? Wirklich nicht? „Der Herr aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe.“ Besorgt, fast zärtlich klingen diese Worte. Nein, Jesus hat nicht weggesehen, als er zu Maria redete. Er hat Marta die ganze Zeit im Blick gehabt. Ihre Sorge und ihre Mühe, ihre Überlastung  und ihre Erschöpfung. Ja, auch ihre Verzweiflung und ihre Wut auf die scheinbar untätige Schwester hat er wahrgenommen. Das ist die erste gute Nachricht für Marta und für alle Martas, seien sie weiblich oder männlich: Jede und jeder wird von Gott gesehen und kann vertrauensvoll in den Psalm einstimmen: „Herr, du erforschest mich und kennest mich; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, dass du, Herr, nicht alles wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“

Jesus hat noch eine zweite Nachricht für Marta und ihresgleichen. Allerdings erschließt sich erst auf den zweiten Blick, dass es eine gute Nachricht ist: „Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.“ Von Maria hieß es zuvor: „Sie setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu.“

Was hört Maria und was sollte auch Marta hören, um nicht Schaden an ihrer Seele zu nehmen? Bestimmt Mut machende Worte wie diese aus dem Buch des Propheten Jesaja: „So spricht der Herr: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Oder: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen, und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen, spricht der Herr, dein Erbarmer.“ Vielleicht hört Maria auch, wie Jesus sagt: „Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?“ Und die Einladung: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Diese Worte dürfen Maria unter keinen Umständen vorenthalten werden. Auch Marta muss sie unbedingt hören, damit sie unter ihren Mühen nicht verbittert und unter ihren Lasten nicht zerbricht. Marta und alle anderen mühseligen und beladenen Martas brauchen eine heilsame Unterbrechung.

Dass die Geschichte von Maria und Marta nicht weiter erzählt wird, bedeutet nicht, dass sie auch zu Ende ist.

Stellen wir uns vor, Marta hat sich unterbrechen und sich den freundlichen Blick und die tröstlichen Worte Jesu gefallen lassen. Dann hat das heilsame Folgen gehabt. Dann sind Enttäuschung und Verzweiflung aus ihrem Herzen gewichen. Dann ist auch der Groll auf die scheinbar untätige Schwester verschwunden und sie hat getröstet und gestärkt ihre Arbeit wieder aufgenommen…

Und Maria? Vielleicht hat sie, als sie zu Jesu Füßen saß, neben tröstenden Worten auch gehört, wie Jesus das jüdische Gesetz kurz zusammenfasste: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft und deinem ganzen Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Wenn Maria das zu Herzen genommen hat, ist sie nicht sitzen geblieben, nachdem Jesus das Haus verlassen und nach Jerusalem weiter gezogen war. Wenn Maria das Doppelgebot der Liebe, und besonders das „deinen Nächsten wie dich selbst“ in sich aufgenommen hat, dann ist sie aufgestanden und unverzüglich ihrer Allernächsten zur Hand gegangen: ihrer Schwester Marta. Dann hat sie mit Marta den Tisch abgeräumt, die Essensreste verstaut, das Geschirr abgewaschen und die Stube gefegt. Und bestimmt hat Maria auch ein Gefühl dafür entwickelt, wer im Dorf ihre Hilfe braucht…

Die Geschichte ist aber nicht nur bei Maria und Martha weitergegangen, sie findet ihre Fortsetzung, wo immer wir uns von Gottes Wort trösten und den Weg weisen lassen. Wir tun das gerade in diesem Augenblick, da wir uns eine heilsame Unterbrechung unseres Alltags gefallen lassen. Die Passionszeit wird uns noch weitere Gelegenheiten bieten - mit Gottesdiensten, Passionsandachten und Passionskonzerten. Und jedes Mal werden wir es wie Maria und Marta spüren: Wer auf Gottes Wort hört, der hat das gute Teil erwählt.

Und der Friede Gottes…