Freiwilligendienste in Europäischer Perspektive

1. Dezember 2010, Pfr. Patrick Roger Schnabel, Berlin

Freiwilligendienste in europäischer Perspektive - Zwischen Staat und Zivilgesellschaft

"Wie kann die Kirche evangelische Freiwilligendienste in der EU politisch befördern?"

Impulsreferat für eine Tagung* der Evangelischen Akademie zu Berlin am 30.11./01.12.2010.

Ich bin gebeten worden, in einem kurzen Impuls darzustellen, wie unser heutiges Thema „in Brüssel“ gesehen wird und wie die Kirche als „nicht-staatlicher Akteur“ auf europäischem Parkett für unser Konzept von freiwilligem Engagement und konkret Freiwilligendienst wirbt. Ich will eine kurze Einführung in Art und Selbstverständnis unserer Arbeit vorwegschicken:


1. Die Aufgaben der Dienststelle des Bevollmächtigten in Brüssel

Das EKD-Büro Brüssel ist kein Lobbybüro. Es wurde vor 20 Jahren als Verbindungsstelle des Bevollmächtigten des Rates der EKD bei den EU-Institutionen gegründet und erfüllt heute vier wesentliche Aufgaben:

1. Zunächst nimmt es auf europäischer Ebene den kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag wahr, indem es die dortigen rechtlichen und politischen Entwicklungen unter den Gesichtspunkten insbesondere von „Frieden, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung“ in den Blick nimmt und durch Stellungnahmen und Gespräche mit EU-Beamten und Parlamentariern versucht, Bewusstsein für die nicht ökonomischen und ökonomisierbaren Grundlagen menschlichen Seins und Zusammenlebens zu schaffen sowie Anregungen für deren konkrete Umsetzung in den Handlungsfeldern der EU zu geben.

2. Dabei ist das Büro auch ein Frühwarnsystem für mögliche Beeinträchtigungen des deutschen Kirchen- und Staatskirchenrechts durch Legislativakte der Europäischen Union.

3. Darüber hinaus nimmt das Büro eine repräsentative Funktion wahr. Das umfasst auch Ideen- und Kulturbotschafter des deutschen Protestantismus zu sein. Regelmäßige Veranstaltungen, wie vor kurzem zum Melanchthon-Jahr, gehören dazu; ein konkreter Bezug zu geplanten oder wünschenswerten Legislativakten ist dabei keine Voraussetzung.

4. Und da das alles keine Einbahnstraße ist, trägt die Brüsseler Dienststelle des Bevollmächtigten schließlich auch Informationen und Einschätzungen über das, was in Brüssel und Straßburg passiert, in die EKD, ihre Gliedkirchen, Werke und Verbände hinein: durch regelmäßige interne Berichterstattung, durch einen dreimonatlich erscheinenden öffentlichen Newsletter und durch Vorträge wie diesen bei Akademien, in Kirchenkreisen, auf Konferenzen in Deutschland und gelegentlich in anderen EU-Staaten.

Dabei verstehen wir unsere Rolle in beiden Richtungen als die eines Werbenden: In Brüssel für die Inhalte kirchlicher Arbeit und die Bedingungen kirchlichen Handelns, in Deutschland für den manchmal zähen, aber doch alternativlosen Prozess europäischer Integration, der „Europa zu seinem Glück vereint“, indem er Grenzen überwindet, Versöhnung ermöglicht und Völker verbindet, dadurch Frieden schafft und erhält, Wohlstand fördert, Solidarität abverlangt (und gibt!). Alternativlos nicht zuletzt aber auch, weil er dazu beiträgt, dass die Menschen in Europa in Zeiten der Globalisierung mit erstarkenden, konkurrierenden wirtschaftlichen und politischen Akteuren eine bleibend einflussreiche Vertretung ihrer Werte und Interessen behalten.


2. Evangelisches Proprium und gesellschaftliche Subsidiarität im europäischen Kontext

Wir tun das – natürlich – aus der Sicht der Evangelischen Kirche in Deutschland. Und erst auf dem europäischen Parkett merkt man wirklich, wie spezifisch diese Sicht sein kann. Und damit leite ich schon über zu der Frage, wie man denn in Europa für unser Verständnis von Freiwilligendiensten werben kann. Wenn ich von „unserem Verständnis“ im Sinne dieser Tagung spreche, dann sind zwei Elemente dafür wichtig, die wir uns vielleicht selten im Wege der Selbstvergewisserung vor Augen führen: Zum einen geht es um das spezifisch evangelische Verständnis von freiwilligem Dienst – wir werden darüber gleich noch diskutieren, wenn wir unsere Thesen formulieren. Zum anderen geht es aber immer auch um ein „deutsches“ Verständnis solchen Engagements, das ganz wesentlich von den gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik geprägt ist.

Für uns als „Vorposten“ in Brüssel ist diese Selbstvergewisserung ein zentraler Bestandteil unserer Arbeit, weil wir – anders als sie hier zu Hause – ein Verständnis beider Wesensmerkmale unserer Dienste bei unseren Gesprächspartnern nicht voraussetzen können, oft nicht einmal eine Grundkenntnis darüber. Der Protestantismus ist in Europa eine Minderheitenreligion, der in der EU der 27 Mitgliedstaaten kaum über 10 Prozent der Bevölkerung angehören. Das Subsidiaritätsprinzip von dem fast alles freiwillige Engagement und auch die konkreten Freiwilligendienste leben, ist als gesellschaftlich-rechtliches Strukturprinzip in dieser Form außerhalb Deutschlands weitestgehend unbekannt. Zwar gibt es überall aktive Bürgergesellschaften, aber doch in sehr unterschiedlicher Form, geprägt durch die jeweiligen Rahmenbedingungen ihres Handelns. Wenn wir also für das „werben“ wollen, von dessen Richtigkeit wir ja nicht nur zu Hause, sondern auch in Europa überzeugt sind, müssen wir zunächst einmal Übersetzungsarbeit leisten.

a.) Übersetzung religiöser Anliegen in die Sprache von Recht und Politik
Zunächst müssen wir das, was die religiöse Prägung unserer Anliegen ausmacht, in die Sprache von Recht und Politik übersetzen – und zwar in einem Kontext, der stark säkular-laizistisch geprägt ist. Während der kirchliche Binnendiskurs gelegentlich Gefahr läuft, den Begriff des „Dienstes“ theologisch zu überhöhen, läuft diese Übersetzungsarbeit gelegentlich Gefahr, ihn im Sinne der Dienstleistung der Selbstsäkularisierung preiszugeben. Beides schadet der Sache. Eine theologische Überhöhung nimmt die sozialen Realitäten nicht wahr, in denen junge Menschen ihren Freiwilligendienst leisten. Dabei geht es natürlich auch oft – und nicht illegitimer Weise – darum, nach der Schule einmal eine Auszeit zu nehmen, die Luft der großen, weiten Welt zu schnuppern, Sprachen und soft-skills zu erwerben sowie einen attraktiven Eintrag im Lebenslauf aufweisen zu können. Eine Selbstsäkularisierung verkennt, dass die Motivation des Großteils der jungen Freiwilligen und ganz gewiss der entsendenden und aufnehmenden Organisationen eben eine religiöse, eine christliche, ja eine evangelische ist. Erfreulicherweise gibt es Begriffe (wie der Zentralbegriff „Evangelium“) die man nicht übersetzen, sondern nur voraussetzen und erklären kann und die immer wieder an die eigene Grundlegung erinnern. Theologische Überhöhung und Selbstsäkularisierung: In diesem Spannungsfeld müssen wir also erklären, 1.) was solche Dienste der Gesellschaft bringen, 2.) was sie den jungen Menschen bringen, 3.) wo der europäische Mehrwert liegt, der eine Voraussetzung für die Förderung ist und 4.) wie die Ausgestaltung dieser Dienste aussehen sollte, um aus unserer Sicht gesellschaftsförderlich und persönlichkeitsfördernd zu sein.

b.) Das Subsidiaritätsprinzip als spezifisches Strukturelement zivilgesellschaftlicher Beteiligung
Das „wie“ der Erbringung solcher Dienste hängt in Deutschland am Subsidiaritätsprinzip, das in dieser Form europaweit wirklich seines Gleichen sucht. Denn das Prinzip ist bei uns ja nicht auf Freiwilligendienste beschränkt. Dass die „freien Träger“, christliche und weltliche Assoziationen der Zivilgesellschaft, bei uns Vorrang vor staatlichen Stellen haben, wenn es um die Erbringung von sozialen Diensten geht, ist etwa einem Franzosen nur sehr schwer verständlich zu machen. Denn in Staaten mit einem etatistischen Ansatz im Verhältnis von Staat und Gesellschaft, also einem Selbstverständnis, das ihm einen recht umfassenden und oft exklusiven Fürsorgeauftrag gegenüber dem Bürger zuspricht, erbringen die wenigen wirklich leistungsstarken zivilgesellschaftlichen Organisationen eben nicht die grundlegenden Dienste, sondern allenfalls ein Extra , indem sie sich etwa um diejenigen kümmern, die durch das Netz öffentlicher Versorgung fallen. In anderen Staaten, etwa im angelsächsischen Raum, gibt es zwar starke Zivilgesellschaften mit entsprechenden Organisationen, aber hier wäre es – über Steuervergünstigungen für Gemeinnützigkeit hinaus – ziemlich undenkbar, dass der Staat über die Sozialversicherungen und über Steuermittel einen wesentlichen Anteil an ihrer Finanzierung übernimmt. Es ist ein – auch aus historischer Erfahrung gewachsenes – Kennzeichen der Bundesrepublik, dass sie sich als Sozialstaat in der Verantwortung für die Gewährleistung solcher Dienste weiß, aber eben nicht in der Verantwortung ihrer Erbringung steht, sondern durch die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen den Freiraum schafft, dass die Gesellschaft diese Dienste im Spiegel ihrer eigenen Pluralität vielgestaltig selbst erbringen kann. Das ist ein enormer Freiheitsgewinn, denn der Staat wird nicht zum Anbieter, sondern zum Ermöglicher. Er ist ein Staat, der bürgerliche Freiheiten nicht nur gewährt, sondern durch aktive Stützung bürgerlichen Handelns gewährleistet. Dass das bei uns so gut funktioniert, zeigt, dass die Bürger durchaus bereit sind, so frei gehaltene Räume durch ihr Engagement sinnvoll zu füllen. Es ist ein gutes System, für das man guten Gewissens werben kann, und das Modellcharakter hat. Aber es ist, das muss man sich vor Augen halten, auch unter demokratischen Rechtsstaaten eben nur ein mögliches System, das in dieser Form in der EU wenig Parallelen hat.

Wir sehen unsere Aufgabe daher weniger darin, für dieses System in dem Sinne zu werben, dass wir es exportieren wollen. Natürlich hoffen wir darauf, dass es im Sinne des peer-learning und des Austausches von best-practise auch neue Freunde findet. Aber unser primäres Ziel ist das der Bestandserhaltung. Denn vor dem Hintergrund, dass die EU – was wir sehr begrüßen – das Thema für sich entdeckt hat, wird sie auch selbst zu einem wichtigen Ansprechpartner. Ich denke dabei an den Europäischen Freiwilligendienst selbst, aber auch etwa an das Europäische Jahr 2011 als Jahr der Freiwilligentätigkeit im weiteren Sinn. Wenn wir von den EU-Institutionen sprechen, sprechen wir konkret von Beamten aus 27 Mitgliedstaaten, von denen die überragende Mehrheit nicht evangelisch und nicht deutsch ist. Denen gilt es zu erklären, warum unsere Werke und Verbände Träger – als Entsende- wie Aufnahmeorganisationen – sein wollen, warum sie gute Träger sind, und warum es für uns entscheidend ist, dass wir nicht nur die Logistik stellen, sondern auch die Inhalte wesentlich mitbestimmen. Da muss man erklären, dass es auch einer säkularen hoheitlichen Gewalt wie der EU möglich ist, religiös geprägten Einrichtungen für diese Zwecke Mittel zur Verfügung zu stellen. Da muss man erklären, dass jede dieser Organisationen nicht nur einen Platz anbietet, sondern ausgehend von ihrem Menschenbild und ihrem Selbstverständnis mit den jungen Menschen arbeiten und die Erfahrungen und Erlebnisse reflektieren und für ihre Entwicklung – selbstbestimmt, aber begleitet – fruchtbar machen will.

3. Die Chancen kirchlicher Anwaltschaft für (evangelische) Freiwilligendienste

Als EKD-Büro ist unsere Aufgabe dabei, die Grundlagen für das Verständnis der kirchlichen und verbandlichen Arbeit zu schaffen. Die Dienste haben ihren eigenen europäischen Vertretungen, um konkrete Projekte, Fördermaßnahmen etc. zu behandeln. Wir flankieren ihr Engagement mit unserer Arbeit und sind auch immer gern bereit, gemeinsam an der Bewusstseinsbildung für das spezifische unserer Freiwilligendienste zu werben, etwa durch gemeinsame Diskussionsveranstaltungen. Vielleicht ergibt sich dafür im Europäischen Jahr 2011 die eine oder andere Gelegenheit. Jedenfalls sind wir überzeugt, dass manchen Tendenzen, die sich ja im Übrigen nicht nur auf die EU-Institutionen beschränken, sondern auch in Deutschland zunehmen, gewehrt werden muss: Nimmt man Subsidiarität ernst, gilt eben nicht, dass wer zahlt, auch bestimmt. Wir brauchen, auch auf der EU-Ebene, einen ermöglichenden Staat, der Freiheitsräume für Bürger offen hält, die diese füllen können. Staatliche Gelder sind eben öffentliche Gelder, Mittel der Bürger, die der Staat diesen aufgrund gesellschaftlichen Konsenses zweckgebunden zurück gibt. Und nimmt man Pluralität ernst, kann und soll dieser Freiheitsraum sehr unterschiedlich gefüllt werden. Als evangelische Kirchen haben wir den Willen und die Kraft, einen wahrnehmbaren Beitrag dazu zu leisten.

Ich will mit einem positiven Ausblick schließen. Ich bin überzeugt, dass die Europäischen Union auch bereit ist, diesen Beitrag in seiner Spezifizität anzunehmen und zu fördern. Heute genau vor einem Jahr trat der Vertrag von Lissabon in Kraft, der erstmals einen „offen, transparenten und regelmäßigen Dialog“ mit den Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften rechtsverbindlich vorsieht (Art. 17 III AEUV). Dieser Dialog wurde schon zwanzig Jahre lang informell geführt – das EKD-Büro war und ist daran intensiv beteiligt. Wir werden den Dialog auch weiterhin nutzen, für die Bedingungen zu werben, die wir für richtig und notwendig halten, damit Europa das Engagement bekommt, dass es verdient und die Bürger das Europa bekommen, das sie verdienen.

Vielen Dank!


 

* Alle Beiträge und Ergebnisse der Tagung sind als epd-Dokumentation 4/2011 veröffentlicht.