Zukunft braucht Erfahrung - Chancen der demografischen Entwicklung

Prälat Dr. Bernhard Felmberg

Grußwort

„Und wenn sie auch alt werden, werden sie dennoch blühen, fruchtbar und frisch sein...“
Psalm 92, Vers15


Sehr geehrte Damen und Herren,

ich freue mich, Ihnen heute ein kurzes Grußwort mitgeben zu dürfen - und ich freue mich, bei Ihnen heute auf dieser Bundestagung sein zu können.

Das Thema, das Sie sich für Ihre Tagung vorgenommen haben, ist an Brisanz nicht zu überschätzen. Wir bewegen uns auf eine Gesellschaft zu, in der mehr alte als junge Menschen leben, in der sich die Generationen in noch nie erlebten Proportionen gegenüberstehen werden. Im Jahr 2050 wird jeder dritte Mitbürger in Deutschland über 65 sein und die Anzahl der 80 jährigen wird sich verdreifachen.

Wie kann der Zusammenhalt in einer so ungewohnt strukturierten Gesellschaft gewährleistet bleiben?

Wenn es heute um die Chancen der demografischen Entwicklung geht, dann geht es maßgeblich darum, die Potenziale zu entdecken, zu nutzen und zu fördern, die Ältere in unsere Gesellschaft einbringen.

Wie gehen wir um mit den Seniorinnen und Senioren, die immer zahlreicher werden? Und zu denen wir – alle, die hier anwesend sind – früher oder später hoffentlich auch gehören werden? Was wollen die Älteren und Alten von unserer Gesellschaft, was braucht die Gesellschaft von ihnen?

Ich möchte an dieser Stelle nicht eingehen auf die unzweifelhaft großen Herausforderungen im Bereich des Renten-, Gesundheits- und Pflegesystems, die im Zuge des demografischen Wandels eine enorme Rolle spielen. Ich möchte unseren Blick richten auf ein großes und bislang zu wenig beachtetes Potenzial älterer Menschen: Immer mehr von ihnen wollen sich für andere einsetzen. „Jeder braucht seine Tagesdosis an Bedeutung für andere“ hat der Arzt und Psychiater Professor Klaus Dörner einmal gesagt. Zum Menschsein gehört nicht nur für sich da zu sein, sondern auch für andere. Jesus hat das in die Worte gekleidet: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Das gilt für Ältere ganz besonders: Die Freiwilligensurveys1 der Bundesregierung haben ergeben, dass die Bereitschaft zum bürgerschaftlichen Engagement besonders in der Gruppe der 60 bis 69-Jährigen zunimmt.

Das gute, alte ehrenamtliche Engagement, meine Damen und Herren, hat in den letzten Jahren zwar wieder mehr Aufmerksamkeit gefunden, aber es ist mit Blick auf die demografischen Entwicklungen, die uns bevorstehen, von besonderer zukunftsweisender Aktualität: Hier treffen die Bedürfnisse der einzelnen Älteren und die gesellschaftlichen Bedürfnisse zusammen. Viele Ältere wollen zunehmend auch über ihr Berufsleben hinaus gebraucht werden. Die Gesellschaft braucht sie und ihre im Laufe des Lebens erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten immer dringender. Hier liegt ein Schatz verborgen, den zu heben wir uns stärker anstrengen müssen als bisher.

Die Kirche ist hier tatsächlich eine Vorreiterin. In beiden großen Kirchen ist im Blick auf die Altersstruktur nämlich schon Realität, was der Gesamtgesellschaft noch bevorsteht. Unsere Mitglieder sind durchschnittlich älter als die Bundesbürger insgesamt.

Selbst wer auf dem Kirchentag in Bremen war, hat dies zweifelsohne erkennen können. Dort, wo sich früher nur die Jugend tummelte, diskutieren, beten, singen und tanzen immer mehr Grau melierte.

Das spiegelt sich auch in der Struktur der verfassten Kirche, aber mehr noch in den Gemeinden vor Ort: Wichtige Aktivitäten werden vielerorts schon heute stärker von Älteren als von Jüngeren getragen. Die Kirchen haben ihre Angebote entsprechend ausgerichtet. Altennachmittage und Seniorenkreise, Ausflüge und Freizeiten, Bildungsreisen, Beratungsangebote, Altenheimseelsorge, Mehrgenerationenhäuser, Nostalgie-Cafés – die Möglichkeiten, die Gemeinden für ältere und alte Menschen bereit halten, sind vielfältig.

Aber das ist nur eine Dimension dessen, wie ältere Menschen ihr Leben gestalten können, denn nicht alle diese Angebote entdecken, nutzen und fördern ihre Bereitschaft, andere – meist Jüngere – an ihrer Erfahrung teilhaben zu lassen. Was die Kirchen Älteren bieten, kann nur ein Anfang sein. Denn nach wie vor gilt: Viele Menschen, die sich vorstellen können, ehrenamtlich tätig zu werden, sind dies aber nicht.

Hier liegt eine große Aufgabe aller gesellschaftlicher Gruppen, und auch der Kirchen: Wir müssen Ältere zum bürgerschaftlichen Engagement motivieren, wir müssen ihre Ängste und Vorbehalte abbauen, wir müssen ihnen attraktive Perspektiven für Tätigkeiten nach dem Eintritt in den Ruhestand eröffnen. Es ist keine neue Erkenntnis, dass sich viele Menschen heute nicht mehr überwiegend langfristig ehrenamtlich engagieren wollen, sondern dass dies meist spontan und an Projekten orientiert geschieht. Das gilt auch für die „Generation 50 plus“. Es muss darum gehen, dem Bedürfnis Älterer nach Weitergabe ihrer Lebenserfahrung und ihrer Kompetenzen so weit wie nur möglich entgegen zu kommen, um ihnen so zu einem möglichst erfüllten Leben zu verhelfen.

In diesem Zusammenhang sind genauere Blicke auf die „neuen Alten“ nötig: Viele von ihnen sind zwar bereit, in der Gemeinde mitzuarbeiten, aber sie sind aufgrund ihrer beruflichen Biografien auch daran gewöhnt, Freiräume zu haben, eigenverantwortlich zu gestalten und Verantwortung zu übernehmen. „Passgenaue“ projektorientierte Angebote zum gesellschaftlichen Engagement sollten diesen Tatsachen Rechnung tragen.

Dass die Förderung des ehrenamtlichen Engagements Älterer gelingt, daran hat die Kirche ein doppeltes Interesse: Mit der Weitergabe von Lebenserfahrung, mit einem intensiveren Austausch zwischen Jung und Alt wird in vielen Fällen auch der Austausch über Dinge einhergehen, die über Alltägliches und Pragmatisches hinausgehen. Lebens- und Glaubensfragen, mit denen sich ältere Menschen nachweislich mehr beschäftigen als jüngere, werden im Miteinander der Generationen gewiss eine Rolle spielen. Die Kirchen können also hoffen, dass auf diesem Weg langfristig sogar wieder mehr junge Menschen Interesse an Glaubensfragen und an der Gemeinschaft in der Kirche entwickeln. Wir brauchen die Glaubenszeugnisse der Älteren und wir brauchen die Beharrlichkeit der Älteren, die dafür sorgen, dass die Tradierung des Glaubenswissens nicht abreißt. Wie oft wurden Kinder und junge Leute getauft oder konfirmiert, weil die Großmutter es so wollte. Und glauben Sie mir: Später schauen Viele dankbar auf dieses Dringen der Großeltern, weil sie merkten, dass der Glaubensschatz ihnen in ihrem gesamten Leben geholfen hat.

Nicht nur aus diesem Grund denke ich, dass wir alle gut beraten wären, zur Förderung des ehrenamtlichen Engagements älterer Menschen auf der Kirchengemeinden zurückzugreifen: Sie beziehen sich in allen Aktivitäten auf einen überschaubaren Nahraum, sie stellen ein ausbaufähiges Gemeinschaftsnetz dar. Die Verantwortlichen in den Gemeinden kennen die Bedürfnisse der Menschen vor Ort und im Idealfall das Potenzial, das Seniorinnen und Senioren nach Ausscheiden aus dem Beruf mitbringen. Die Gemeinden sind somit geeignete „Plattformen“, um zwischen Generationen, Institutionen und Professionen zu vermitteln. Sie können vorhandene Ressourcen und Kompetenzen professionellen und ehrenamtlichen Engagements bündeln und nutzen und Räume neuer Formen des familienübergreifenden Miteinanderlebens schaffen. Sie sind ideale Rahmen für „Freiwilligenbörsen“, die eine am Individuum orientierte Vermittlung von bürgerschaftlichem Engagement ermöglichen.

In den Gemeinden kann auf diese Weise nicht nur der Zusammenhalt zwischen den Generationen der Kinder, Eltern und Großeltern verstärkt werden, auch die in sich sehr heterogene Gruppe der „Großeltern“/Senioren kann dabei neu aufeinander bezogen werden. Die 60-Jährige, die sich um eine 90-Jährige kümmert, für sie Einkäufe erledigt oder mit ihr spazieren geht, wird bald keine Ausnahme mehr sein.

Konzepte entwickeln, Anreize zum bürgerschaftlichen Engagement geben, entsprechende Infrastrukturen für Beteiligung aufbauen, neue Wohn- und Lebensentwürfe ermöglichen, die Vernetzung und Kooperation von Akteuren fördern – die Liste der Aufgaben ist lang, und nicht umsonst wird die Synode der EKD im Herbst das Thema Ehrenamt in den Mittelpunkt ihrer Tagung stellen.

Aber natürlich können Kirchen und Gemeinden alle diese Aufgaben nicht allein aus eigener Kraft erreichen. Gefordert sind die Unterstützung und die Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte. Und die Politik kann hier durch die richtigen Rahmenbedingungen vieles bewirken.

Je besser diese Zusammenarbeit gelingt, desto eher kann sich eine kreative „Alterskultur“ entwickeln, und in diesem Sinne kann unsere Gesellschaft die Chancen der demografischen Entwicklung für sich nutzen.

Ich bin sicher, die heutige Tagung wird einen wichtigen Beitrag dazu leisten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.