Zwischen Fastnacht und Fastenzeit: Träumen erlaubt! Ein Beitrag zur politischen Kultur

Rede zum Politischen Aschermittwoch 2011 in der Konrad-Adenauer-Stiftung Berlin

Sehr verehrte Damen und Herren,

Nunc tempus acceptabile / fulget datum divinitus / ut sanet orbem languidum / medela parsimoniae.

Jetzt strahlt die Zeit der Gnade / von Gott gegeben hervor, / damit die Medizin der Sparsamkeit / den schlaffen Weltkreis heile.

Meine Damen und Herren,

das ist typisch protestantisch: am Aschermittwoch, an dem die bitterernsten sieben Wochen der Passionszeit beginnen, fange ich an von der Zeit der Gnade – tempus acceptabile – zu sprechen.

Dabei ist die akzeptable, ja angenehme Zeit, gerade zu Ende gegangen. Für einen Rheinländer wahrscheinlich die einzig akzeptable Zeit im Jahr – ich als Berliner kann da nicht mitreden, zu tief bin ich im protestantischen Milieu verwurzelt. Hier mögen noch so viele Karnevalsumzüge über den Kurfürstendamm führen und meinetwegen eine Million Menschen zuschauen. Es bleibt irgendwie fremd. In Modifikation bekannter politischer Redewendungen könnte man sagen: Der Karneval gehört nicht zu Berlin, jedenfalls ist er von der Geschichte her kaum zu belegen. Aber natürlich sind die Karnevalisten, die unter uns leben, auch in Berlin willkommen.

Dass es trotzdem katholische Propaganda ist, dass Protestanten zum Lachen in den Keller gehen, möchte ich noch einmal hervor streichen. Ich bestreite dies vehement. Auch wenn manchmal der Eindruck entstehen mag, dass wir Protestanten, wenn wir ein Licht am Ende des Tunnels sehen, sofort den Tunnel verlängern.

Jedenfalls sind die tollen Tage, das bunte Treiben auf den Straßen und der Frohsinn der Jecken, Narrengilden und Funkenmariechen seit jeher wesentlich beliebter als die vermeintlich öden Tage des Fastens danach. Gerade der Aschermittwoch ist wohl der traurigste Tag im Jahr eines Narren. Jetzt von der Zeit der Gnade zu reden, das traut sich wohl nur ein Protestant. Aber weit gefehlt. Das konnten schon andere, bevor die Kirche der Reformation sich entwickelte.

Der Hymnus, den ich Ihnen am Anfang lateinisch vorgelesen und dann aus Barmherzigkeit ins Deutsche übersetzt habe, ist nämlich viel älter. Aus dem stammen die Zeilen: „Jetzt strahlt die Zeit der Gnade“. Entspannte eintausend Jahre ist er alt, 10. Jahrhundert und damit: vorreformatorisch. Nunc tempus acceptabile kann also gar nicht in den Geruch protestantischer Lustfeindlichkeit kommen. Zu alt. Vielmehr wussten schon die Menschen des Mittelalters um die heilsame Zeit des Fastens nach dem tollen Treiben.

Zum Topf gehört der Deckel. So ist das eben auch mit dem Karneval und der Fastenzeit. Die beiden gehören untrennbar zusammen, auch wenn sie zugegebenermaßen zwei ungleiche Brüder sind. Zwar wird immer wieder gesagt, dass der Karneval seine Wurzeln in vorchristlichen, altgermanischen Fruchtbarkeitsriten oder Frühlingsbräuchen habe. Und zugegeben, gerade wenn der Termin wie in diesem Jahr so spät liegt und der Frühling tatsächlich endlich sein „blaues Band wieder durch die Lüfte flattern“ lässt, kann diese Erklärung auch eine gewisse Plausibilität beanspruchen.

Außerdem erscheint der Fasching mit seinem närrischen Treiben auf den ersten Blick nicht besonders christlich. Das nutzten übrigens besonders die Nationalsozialisten aus, um dem beliebten Fest seinen aus ihrer Warte ärgerlichen Zusammenhang mit dem christlichen Kulturkreis zu nehmen. So schrieb z.B. der Völkische Beobachter im März 1935: „Beim Fasching handelt es sich um ein allerfrühestes Fest der Völker, Jahrtausende älter als die fastende Christenheit.“ 

Aber Fastnacht und Fastenzeit gehören eben doch zusammen. Deswegen wechselt die Fastnacht wie alle Feiertage im Osterfestkreis auch munter ihren Termin. Dieses Jahr hat sie es besonders toll getrieben und uns lange auf sie warten lassen. Den Jecken konnte das nur recht sein, so dauerte die Zeit vom 11.11. an besonders lang.

Kirche und Karneval gehören also zusammen. Wenn Sie mir das nicht glauben wol-len, habe ich Verständnis dafür, ich beanspruche ja gar nicht, eine Referenzgröße in Sachen Fastnacht zu sein. Aber dann gestatten Sie mir den Verweis auf Personen, die echte Experten der „tollen Tage“ sind, ja die geradezu als die Verkörperung des Karnevals gelten können, nämlich das Kölner Dreigestirn – in diesem Jahr Prinz Frank I., Bauer Günter und Jungfrau Reni. Diese Drei reisten mit ihrer Apanage Anfang Februar nach Rom, wohlgemerkt per Flugzeug, nicht zu Pferde und zu Fuß, wie es standesgemäß gewesen wäre. In der ewigen Stadt wurden sie von Papst Benedikt XVI. zu einer feierlichen Audienz empfangen. Das Dreigestirn in vollem Ornat vor dem Papst, das war ein beeindruckendes Bild.

In einem Interview zur Motivation der Reise befragt, hob der Präsident des Festkomitees des Kölner Karnevals, Markus Ritterbach hervor, dass es das Ziel des Komitees sei, den Menschen das Fest wieder zu erklären. Es sei nämlich mehr als nur „Abfeiern“. Wörtlich sagte er: „Karneval hat natürlich kirchliche Wurzeln, und die wollen wir einfach noch mal demonstrativ zeigen.“  Na gut, das war nur fast wörtlich zitiert, den Kölschen Dialekt müssen Sie sich dazu denken.

„Der Karneval hat natürlich kirchliche Wurzeln.“ Worin aber liegen diese über Zeitpunkt und Namen hinaus? Ganz einfach: Karneval und Fastenzeit symbolisieren zwei Weisen, auf der Welt zu leben. Der Fastnacht fällt dabei die Rolle zu, das Leben fern von Gott darzustellen. Da gehen die Geister um, es regiert die Unvernunft, die Menschen lassen ihren Trieben freien Lauf, verstellen sich, triezen und necken sich und kennen in all dem kein Maß.

Sie alle haben dieses Treiben schon erlebt und es wahrscheinlich mal gut und mal weniger geglückt gefunden – einmal gut, einmal weniger gut überstanden. Die Fastenzeit dagegen lebt genau vom Gegenteil. Da mäßigen sich die Menschen, verkneifen sich das ein oder andere, worauf sie Lust haben, tun Buße für ihre Ausschweifungen und wenden sich im Gebet an Gott. Mit den Worten des Apostels Paulus ließen sich die beiden Zeiten beschreiben als „Leben nach dem Fleisch“ und „Leben nach dem Geist“. Beide Male geht es letztlich um ein Spiel, um den Ausbruch aus der Realität des Alltags, der die restlichen zehn Monate des Jahres bestimmt. In Karneval und Fastenzeit weicht der Mensch von seinem normalen Verhalten ab. Nur unter genau entgegengesetzten Vorzeichen. In beiden Festzeiten geht es darum, dass Menschen sich ein Leben erträumen, das anders ist als das, das sie tatsächlich leben.

Im Karneval erträumen sie sich ein Mehr als das, was sie haben. Da wird das Mädchen zum hochwohlgeborenen Burgfräulein und der Junge wird zum wilden Cowboy, dem keiner was anhaben kann. Da traut sich ein sonst biederer Angestellter in der Verkleidung als Clown allerlei Schabernack, da übernehmen einfache Bürger die Schlüssel des Rathauses. Unter der Maske eines Perchten werden Männern die Schnürsenkel geklaut und Frauen in Christbaumnetze eingepackt. Die gesellschaftlichen Grenzen, die eigentlich das Jahr über gelten, sind beim Karneval zumindest teilweise aufgehoben. Jeder kann einmal der sein, der er gerne wäre. Das ist der Reiz des Karnevals.

Die Fastenzeit lebt von Visionen. Christen nehmen die Welt nicht einfach als gegeben hin. Sie überdenken das Leben immer wieder, suchen nach dem, das Halt gibt, fragen nach Gottes Willen, den eigenen Wünschen und Hoffnungen, Sehnsüchten, Sorgen und Ängsten. Die Fastenzeit bietet den Rahmen dafür. Sie lädt zum kreativen Umwerfen der Ordnung im Alltag ein. Dabei hat sie scheinbar etwas Spielerisches, weil Menschen ausprobieren, wie es wäre, einmal anders als gewohnt zu leben. Sie erträumen sich, einmal der zu sein, der sie wirklich sind. Sich nicht verstellen zu müssen. Die Fastenzeit bietet die Gelegenheit, sieben Wochen lang Verhaltensweisen abzulegen, die sich aus Bequemlichkeit eingeschlichen haben, die die Umwelt erwartet oder die in unserer Gesellschaft vordergründig notwendig erscheinen. Die Fastenzeit erlaubt jedem, ein Verhalten wegzulassen, das ihm falsch oder überflüssig erscheint, ohne dass er befürchten muss, dafür schief angeschaut zu werden. Wir alle sind eingeladen, ausgetretene Alltagspfade zu verlassen, und es bleibt uns ganz persönlich überlassen, ob wir einen Bogen um den Fernseher machen, um den Kühlschrank oder um den Zigarettenautomaten oder ob wir überhaupt mal wieder zu Fuß gehen. Jeder kann entscheiden, ob er sich Kalorien entziehen möchte, Konsum oder Komfort. Im Idealfall wird durch diesen Entzug Raum geschaffen: Raum für verschüttete eigene Bedürfnisse, für die Begegnung mit anderen - und natürlich nicht zuletzt für die Begegnung mit Gott.

Zielpunkt der Selbstdarstellung im Karneval und der Selbstsuche in der Fastenzeit ist dabei – nicht nur kalendarisch – Ostern. Beide Zeiten laufen auf die Hoffnung zu, dass wir in einem anderen Leben durch keine Schranken mehr begrenzt werden und uns keinen Konventionen mehr anpassen müssen.

Ostern verspricht uns das ewige Leben, das nicht mehr durch die Regeln der Welt bestimmt ist, sondern durch die ungehinderte Nähe Gottes. Der Kalender von Karneval bis Ostern beinhaltet also einen Spannungsbogen, der das Leben der Menschen dramatisiert, von der Ausschweifung über die Selbstbeschränkung hin zum Leben, in dem Maßlosigkeit und Mäßigung keine relevanten Kategorien mehr sein werden. Dabei ist die zeitliche Abfolge nicht unwichtig. Das christliche Leben bewegt sich auf Gott hin. Deswegen treten zuerst die Dämonen und die Narren mit ihrer Unvernunft, ihrer Tollheit und Hoffart auf, bevor sich der Mensch auf Abstinenz, Selbstbeherrschung und Charakterstärke besinnt und sich Gott zuwendet.

Die christliche Kunst hat dabei den Kampf des Fastens gegen die Fastnacht immer wieder zum Thema gemacht. Eine Kampfesszene aus dem Buch „Libro de buon Amor“  des spanischen Dichters Juan Ruiz Arcipreste de Hita aus dem 14. Jahrhundert möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Sie ist besonders anschaulich. De Hita beschreibt die Schlacht zwischen Don Carnal, also der Fastnacht, und Don Quaresma, der Fastenzeit. Carnal tritt an mit einem großen Heer von Kapaunen, Gänsen, Enten, Hennen, die als Waffen Bratspieße und als Schilde Schüsseln tragen. Schweinsfüße, Räuchergänse und Hammelflanken betätigen sich als Armbrustschützen. Doch Carnal hat keine Chance gegen das übermächtige Heer Quaresmas, das aus Meerestieren besteht. Gleich zu Beginn erstickt eine gesalzene Sardine eine Henne, ein Thunfisch ringt den Speck nieder, und Hundshaie meucheln die Rebhühner. Zu guter Letzt hat Quaresma gewonnen und die Fastenzeit bewiesen, dass sie alles andere als humorlos ist. Stellen Sie sich den Kampf nur einmal bildlich vor.

Heute, am Aschermittwoch, stecken wir mitten drin in dem dramatischen Wechsel von Fastnacht zu Fastenzeit. Der Karneval ist vorbei, da brauchen wir nicht mehr träumen, wie wir die gesellschaftlichen Grenzen überschreiten wollen. Die Fastenzeit aber liegt vor uns, und es lohnt sich, spätestens heute Abend unsere Visionen auszumalen.

Das Wunderbare an den vor uns liegenden sieben Wochen ist, dass es sich um einen bestimmten, nicht zu kurzen, aber eben doch überschaubaren Zeitraum handelt. Anders als zu Beginn des Jahres, der bei Manchem mit großen Vorsätzen beginnt, die häufig genug - wie der berühmte Tiger - starten und schnell - wie der noch berühmtere Bettvorleger - enden, werden wir nicht niedergerungen von der zeitlichen Umfänglichkeit unserer Vorhaben und von der täglich grüßenden scheinbaren Unabänderlichkeit unseres Lebens und unserer Lebensgewohnheiten, nein! Sieben schöne Wochen. Das ist eine Pausenzeit, die sich gut einrichten lässt. In der sich Dinge anstoßen und entwickeln lassen, in der auf lieb gewonnene oder auch nur bequeme Gewohnheiten verzichtet werden kann. Eine Probezeit, in der ein anderes, vielleicht ein „besseres“ Leben versucht werden kann - und zur Not auch wieder verworfen.

Sieben Wochen für unsere Visionen. Was könnten wir mit dieser Zeit alles anfangen! Wie würde unser Miteinander aussehen, wenn wir beispielsweise zeitweise auf die kleinen Helferlein aus der Familie BlackBerry, iPad und Co. verzichten würden? Keine Sorge, ich will Ihnen nicht den kompletten Verzicht auf diese Kommunikationsmittel ans Herz legen. Das wäre utopisch und wohl kaum sinnvoll. Aber wie wäre es, wenn wir uns bei Sitzungen, Tagungen, Meetings statt auf einen kleinen Bildschirm plötzlich auf unser Gegenüber konzentrierten, ihm zuhörten und ihm die Ehre unserer ungeteilten Aufmerksamkeit zukommen ließen? Was würde uns fehlen? Was würden wir gewinnen, und was vielleicht auch die anderen um uns herum? Und was würde dies – angenommen, immer mehr Menschen ließen sich auf solche Versuche ein – für unsere gesellschaftliche, ja politische Kultur bedeuten?

So hilfreich all die elektronischen Geräte vom Schlage der Familie mit dem kleinen „i“ vorweg sein können – und ich muss gestehen, dass ich ziemlich gut weiß, wovon ich spreche – einem guten und fruchtbaren Miteinander stehen sie oft im Weg. Wenn wir ehrlich sind, spüren wir das sehr genau. Merken wir eigentlich noch, wie unhöflich und unkultiviert das alles ist?

Auf dem Cover einer bekannten Frauenzeitschrift entdeckte ich neulich die Ansage: „Mein BlackBerry oder er? Wie trotz ständiger Emails, SMS und Co. genug Zeit für die Liebe bleibt“. Und auch der Vatikan stemmt sich der Elektronisierung aller menschlichen Bezüge entschlossen entgegen: Die Beichte per iPhone, so war kürzlich zu lesen, wird es absehbar nicht geben.

Aber das nur am Rande. Eigentlich waren wir dabei, zu träumen, wie unser Leben und unser Miteinander in sieben schönen Fastenwochen aussehen könnten.

Nicht ganz uneigennützig kommt mir der Gedanke, wie es wohl wäre, wenn sich der Trend, Zusagen zu tätigen für eine Vielzahl von Veranstaltungen am selben Tage zur selben Zeit, die am Ende gar nicht allesamt eingehalten werden können, plötzlich rückläufig wäre. Sie alle kennen die leidvolle Erfahrung: Sie laden ein zu einer Veranstaltung, bestellen möglicherweise köstlichste Speisen, das Interesse ist groß, es hagelt Anmeldungen. Und dann kommt der Tag X – und wer nicht kommt, sind rund ein Drittel der Menschen, die sich angekündigt haben, es aber sogar verabsäumt haben, die Bitte um Entschuldigung auszusprechen. Merken wir eigentlich noch, wie unkultiviert das alles ist?

Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es ungeheuer schwer fällt, die eigenen, vielgestaltigen Interessen in realistischer Weise überein zu bringen mit den tatsächlichen Möglichkeiten eines sterblichen Körpers. Aber nicht wirklich beantworten kann ich die Frage, wieso die Erkenntnis, dass wir am Ende doch nicht über die Fähigkeit zur Ubiquität verfügen, nicht auch irgendwann sichtbare Konsequenzen mit sich bringt. Dies wäre aus meiner Sicht ein schönes Vorhaben für die Fastenzeit: Verbindlichkeit zu üben. Demjenigen, der mich in sein Haus einlädt oder sogar an seinen Tisch, so früh wie möglich eine realistische Prognose über mein Erscheinen zukommen zu lassen. Respekt zu zeigen demjenigen gegenüber, der mir seine Tür öffnet – auch das wäre für mich ein Ausdruck überzeugenden Miteinanders in unserer Gesellschaft.

Und eine letzte Idee: Im Blick auf die politische Kultur frage ich mich manchmal: Was würde wohl passieren, wenn man sich im Deutschen Bundestag auf die siebenwöchige Abstinenz von Zwischenrufen einigen könnte?

Vielleicht wären die Sitzungen unerträglich langweilig, vielleicht würden alle Abgeordneten und auch alle anderen Zuhörer auf der Tribüne oder zuhause vor dem Fernseher sukzessive einschlafen. Oder wäre das Gegenteil der Fall? Würden die Parlamentarier möglicherweise anders zuhören können, weil klar ist, dass schneidige Kommentare nicht erwünscht sind und sie also nicht reflexhaft kommentiert werden müssen?

Wie würde es sich anfühlen auf der anderen Seite, am Rednerpult, wenn Sätze ununterbrochen zu Ende gesprochen werden könnten? Zumindest könnte man hoffen, dass die Reden im Bundestag nicht nur kämpferisch, sondern auch – eben um das Einschlafen der Anderen zu verhindern – virtuoser würden.

Viele Experimente in dieser Art lassen sich denken.

Lassen Sie mich an dieser Stelle eine kleine Einladung aussprechen. Keine Sorge, ich will jetzt nicht die große Kirchenpforte öffnen und sagen: Kommen Sie doch in der Fastenzeit noch häufiger in unsere Kirchen und schauen Sie sich an, wie es sein kann, wenn ein Redner die zumindest überwiegend ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Zuhörer genießt, die in ihren Kirchenbänken zum Glück noch eher selten mit dem BlackBerry hantieren oder gar Zwischenrufe tätigen. Es geht mir um etwas Anderes: Gerade heute möchte ich nicht versäumen, Ihnen eine Aktion der Evangelischen Kirche in Deutschland ans Herz zu legen. Viele von Ihnen kennen sie sicher: die bundesweite Fastenaktion der EKD „Sieben Wochen Ohne“.

Seit 1983 gibt es diese Initiative, die von Aschermittwoch bis Ostersonntag dauert und an der sich inzwischen jedes Jahr rund zwei Millionen Menschen beteiligen. Viele Jahre lang schon haben die jährlichen Fastenaktionen der EKD ein Thema. Ich gebe zu, dass mir das Motto des Jahres 2008 ganz besonders gut gefallen hat, das da hieß: „Verschwendung: Sieben Wochen ohne Geiz“. Anderslautenden Behauptungen zum Trotz war dies übrigens nicht der evangelische Versuch, einen Ausweg aus der Finanzkrise zu weisen, schon eher ließen sich Vergleiche anstellen, ob hier nicht die unsägliche Werbung eines Medienkaufhauses ad absurdum geführt werden sollte. 

Aber auch das diesjährige Thema hat es in sich: „Ich war’s! – Sieben Wochen ohne Ausreden.“ Sieben Wochen ohne Ausreden?

Das ist zuviel verlangt. Das ist zuviel verlangt, im Alltag kaum vorstellbar, im politischen Tagesgeschäft noch viel weniger. Der Ehrliche, das wissen wir doch seit jeher, ist immer der Dumme. Oder?

Nein, behauptet die evangelische Kirche. Sehr schön haben die Macher von „Sieben Wochen Ohne“ dies im Aktionsflyer anmoderiert. Sie schreiben: „Wer sich mit Ausre-den aus einer misslichen Lage befreit, vertuscht damit nicht nur seine Fehler, sondern auch immer ein bisschen sich selbst. Er stiehlt sich nicht nur aus der Verantwortung, er stiehlt sich auch selbst die Verantwortung – und damit eigene Handlungsoptionen. Wer nicht aufrichtig zu seinen Taten stehen kann, dem kommt mitunter der aufrechte Gang ganz abhanden. Gönnen Sie sich die Ehrlichkeit, genauso gut oder schlecht dazustehen, wie Sie den Alltag eben so meistern. Und Ihre Mitmenschen mit genau der Großzügigkeit und Nachsicht zu behandeln, die ihnen Gleiches erlaubt.“

Ist der Ehrliche wirklich der Dumme? Im 1. Korintherbrief lesen wir: „Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache.“ Damit hat der ehrliche Dumme – wenn er denn überhaupt noch so genannt werden kann – einen starken Partner. Und er zeigt auch selbst Stärke. Die Stärke, Kritik auszuhalten. Die Stärke, zu sich zu stehen und Schuld für kritikwürdiges Verhalten zu benennen, zu bekennen – und nicht auf andere abzuwälzen. „Sieben Wochen ohne Ausreden“ – was wäre das für ein Gewinn an Glaubwürdigkeit! „Sieben Wochen ohne Ausreden“ könnten im politischen Raum möglicherweise sogar ein erster Schritt sein auf dem Weg, den immer deutlicher werdenden Verlust von Vertrauen in „die Politik“ zu stoppen.

Aber ich möchte keinesfalls den Quenglern und den notorisch Unzufriedenen das Wort reden. Einige Kritik im Blick auf unsere politische Kultur ist berechtigt, das wissen wir alle. Aber es ist nicht allein die Bringschuld unserer Politikerinnen und Politiker, zu informieren und sich zu engagieren – auch wir Wähler müssen uns für gesellschaftlich relevante Belange interessieren, wir müssen Informationen einfordern und uns nach Kräften um die Angelegenheiten kümmern, die uns selbst betreffen, und um diejenigen, für die wir Verantwortung tragen.

An der vielbeklagten Politikverdrossenheit, davon bin ich überzeugt, sind immer auch die Verdrossenen selbst mit Schuld, weil sie oft schlicht nicht all ihre Wünsche erfüllt sehen und nicht bereit sind, nachzuvollziehen, wie umfassend und kompliziert die Probleme sein können, die das politische Geschäft bestimmen.

Fast immer ist das Misstrauen gegenüber den von uns gewählten Politikerinnen und Politikern, die Unterstellung von Scheinheiligkeit und Taktiererei falsch und ungerecht.

Ich nenne nur exemplarisch die lange und engagierte Debatte um das Verbot bzw. die begrenzte Zulassung der Präimplantationsdiagnostik, die in drei fraktionsübergreifende Anträge zu Gesetzentwürfen gemündet ist. Dies ist ein hervorragender Ausweis für eine vom Ringen um die beste Lösung einer gesellschaftlichen Problematik gekennzeichneten politischen Kultur.

Auch die durch Frank-Walter Steinmeier ausgelöste und von Volker Kauder und vielen Vertretern anderer Fraktionen aufgenommene Initiative zur Erhöhung der Zahl der Organspenden in Deutschland ist ein hoch lobenswertes Unterfangen, das das Verantwortungsbewusstsein unserer politischen Vertreter jenseits von Parteigrenzen zeigt und das die evangelische Kirche nach Kräften unterstützen will.

Und lassen Sie mich ein Letztes nennen: Wer hätte es noch vor einem Jahr für möglich gehalten, dass ein politisch scheinbar unlösbarer Konflikt wie der um das Bahnprojekt Stuttgart 21 nicht in unüberwindbaren ideologischen Grabenkämpfen endet, sondern damit, dass Minister, Vorstände, Oberbürgermeister, Stadträte, Naturschützer und Mitglieder des Aktionsbündnisses an einen Tisch finden, dass Auseinandersetzungen über Stadtklima, Feinstaubwerte und Mineralquellen in Stuttgart via Internet und Fernsehen stundenlang übertragen – und auch rezipiert – werden, und dass bedachtes politisches Vorgehen die Befriedung einer ganzen Region zufolge haben könnte?

Alle diese Beispiele zeigen: Es lohnt sich, Energie und Engagement nicht darauf zu verwenden, den politischen Gegner zu desavouieren, Verantwortung anderen zuzuweisen und Ausreden für Misslungenes zu suchen. Es lohnt sich, nach Lösungswegen Ausschau zu halten, die möglichst Viele mitgehen können. Ein solches politisches Handeln wirkt nachhaltiger als jede kurz greifende Imagekampagne.

Die heute beginnende Fastenzeit ist eine Einladung, über solche Wege nachzudenken und erste Schritte daraufhin zu wagen. Das gilt in der Politik, das gilt im gesellschaftlichen Miteinander und natürlich für jeden von uns ganz persönlich.

Für die folgenden sieben Wochen – egal ob „mit“ Fasten oder „ohne“ – wünsche ich Ihnen viel Erfolg und Gottes Segen, damit Sie an Ostern sagen können:

Die vergangenen Wochen der Fastenzeit waren tatsächlich eine strahlende Zeit der Gnade, eben tempus acceptabile.

Herzlichen Dank für ihre Aufmerksamkeit.