Braucht die Gesellschaft weiterhin die Religion als moralischen Kompass?
Ein Kommentar
Ist moralisches Handeln ohne Religion denkbar? Ich meine: ja. Natürlich können Menschen moralisch handeln, die ihr Ethos nicht von einer Religion herleiten. So wie religiöse Menschen unmoralisch handeln können. Wobei es in einer sozial, ethnisch und religiös heterogenen Gesellschaft wie der unsrigen nicht leicht fällt, überhaupt einen allgemein anerkannten Kanon der Verhaltensnormen zu definieren. Doch genau das meint ja Moral: die innerhalb einer Gruppe – hier der Gesellschaft – akzeptierten Verhaltensnormen. Will man also die Begründung moralischen Handelns diskutieren, muss man sich erst einmal darauf verständigen, was man unter moralischem Handeln versteht. Der Bezug auf das vom Recht legitimierte bzw. sanktionierte Verhalten reicht dabei sicher nicht aus, um Moral zu beschreiben.
Ein zweites: Religion ist mehr als Moral. Das gilt zumindest wesentlich für das Christentum.
Seit zweitausend Jahren suchen Menschen in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus den Weg, sich selbst, ihre Mitmenschen und die Welt zu verstehen. In ihr finden sie Antwort auf die bedrängenden Fragen des Lebens. Ostern, das Fest der Auferstehung Jesu Christi, das wir in diesen Tagen feiern, ist die großartige Antwort auf die Frage nach dem Leid, das Menschen erleben, und auf den Tod. Wesenskern des Christentums ist die Lehre vom Heil. Die Begrenzung von Religion auf Moral wäre eine Verengung, die wesentliche Dimensionen der Religion ausblendet. Das Christentum will mehr als der Gesellschaft „nur“ einen moralischen Kompass an die Hand geben.
Moral und Ethik sind allerdings die Folge der Heilszusage Gottes.
Der Glaube an den Auferstandenen lehrt, den Anderen mit den Augen Gottes zu sehen. Dieser Blick wendet sich auch den Menschen zu, die aus der Sicht der Gesellschaft aufgrund verschiedenster Voraussetzungen Außenseiter sind und am Rand stehen.
Den Anderen mit den Augen Gottes anzublicken, heißt, ihn mit den Augen der Nächstenliebe wahrzunehmen. Gottes Liebe für mich konnte nicht durch Menschen aufgehalten werden, die diese Liebe ans Kreuz nagelten. Genauso wenig konnte Gottes Liebe für jeden einzelnen Menschen auf der Welt zum Verlöschen gebracht werden. Wer aus diesem Glauben lebt, sieht in jedem Mitmenschen ein Kind Gottes. Deswegen sind das Streben nach Gerechtigkeit, Demut im Blick auf die eigene Person und die Maßgabe, sich nicht gegenseitig zu verurteilen, Merkmale des christlichen Ethos.
Die Bereitschaft, für das Zusammenleben der Menschen Verantwortung zu übernehmen, ist dem christlichen Glauben zutiefst eigen. In unserer Gesellschaft ist das an vielen Orten sichtbar. Das durch die christlichen Kirchen getragene Ethos lässt sich sogar in Heller und Pfennig darstellen. Die Evangelische Kirche in Deutschland verwendet jährlich über eine Milliarde Euro für ihre gemeinnützigen Einrichtungen – Geld, das ihre Mitglieder über die Kirchensteuer und über Spenden zur Verfügung stellen, damit die Kirche für das Gemeinwohl handeln kann.
Adressaten der Hilfe sind dabei keineswegs nur die Kirchenmitglieder, sondern alle Menschen, gleich welchen Bekenntnisses. Das Spektrum, in dem die Kirche sich engagiert, ist breit gefächert.
Das Christentum hat Menschlichkeit in die Welt getragen und in seiner reformatorischen Ausprägung das Gewissen des Einzelnen zum Kampfplatz der Moral erhoben – vor Gott und den Menschen. Die Moralität des Einzelnen ist gebunden an den Maßstab Gottes und damit höher als alle menschliche Vernunft.
Natürlich gibt es in der fast zweitausendjährigen Geschichte der christlichen Kirchen auch dunkle Flecken, in denen das christliche Ethos nur von Wenigen gelebt wurde, doch der rote Faden des Heils in Jesus Christus war stets erkennbar. Stellt man sich die Frage, ob eine Gesellschaft Religion braucht, um moralisch zu handeln, sollte man auch überlegen, ob die Staaten oder Gesellschaftsordnungen, die sich bewusst dem Atheismus verschrieben hatten oder haben, Horte der Menschlichkeit waren oder sind. Ich meine: nein.