Nimm das Kind mit

Huub Oosterhuis (Matth. 2, 1-15, Predigt im Schlussgottesdienst des Kirchentages 2005 in Hannover)

1.
In dem Text aus dem Matthäus-Evangelium, der uns heute zum Nachdenken aufgegeben ist, wird uns Jesus von Nazareth, dieser einzigartige jüdische prophetische Lehrer, vorgestellt als Verkörperung des Volkes Israel, das aus dem Sklavenhaus Ägypten hinausgeführt wurde: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen“ – diese Worte bedeuten: Aus grausamer Unterdrückung habe ich mein Volk Israel, meinen Erstgeborenen fortgerufen – zum Zeichen, dass ich meine ganze Menschheit zu Freiheit berufen habe; um in dem Land, das überfließt an Lebensquellen, in einer neuen Welt, zu leben, in Gerechtigkeit und Frieden, alle Menschen gleich wertvoll, alle nach meinem Bild erschaffen. „Ich“ sagt dieser Gott. „Ich werde da sein, voll Erbarmen und gnädig“, so lautet der Name dieses Gottes. Verstehen wir, die wir von Hause aus Christen sind, verstehen wir diese visionären biblischen Bilder, jene große Erzählung, in der uns der einzigartige Wert eines jeden Menschen verkündet wird; die uns aufruft mitzumachen „eine neue Welt“ für alle, die jetzt leben sowie für die Nachkommen unserer Kinder?

2.
Es ist die Berufung einer Kirche, die sich „evangelisch“ nennt, an der biblischen Vision einer neuen Welt festzuhalten: Befreiung aus der Sklaverei der Armut, einer Gesellschaft in Gerechtigkeit. Damit ist eine Solidarität gemeint über alle Grenzen und Trennwände hinweg. Es ist ihr heikler Auftrag, diese Vision des „Königreichs Gottes“ zu verkünden als Norm für jegliche Politik. Wir wissen, dass wir zu einem Teil der Welt gehören mit einer Geschichte von Kreuzzügen, Scheiterhaufen, Kolonialismus und Massenmorden; wir sind uns bewusst, dass alles Böse letztlich sich selbst bestraft, wenn auch manchmal erst nach Jahrhunderten. Und langsam aber sicher kommen viele von uns zu der Einsicht, dass die schamlose Ideologie des freien Marktes unsere öffentliche Moral immer weiter zerrüttet, unser Gewissen immer tiefer aushöhlt und unseren Protest gegen Unrecht entmutigt und schwächt. So ist das mit uns. Gibt es da noch Hoffnung?

3.
Die Religion der Bibel ist erfüllt mit der Kraft einer „unversöhnlichen“ Hoffnung, Hoffnung, die sich nicht abfindet mit den Tatsachen, die gegen die Tatsachen an denkt und fühlt – gegen das Rechthaben und das letzte Wort der Mächtigen, die die Erde untereinander aufteilen, gegen die Regime, gegen die herrschende ökonomische Ordnung. Soll es so bleiben, wie es ist? Der bestehenden Ordnung zuzustimmen, das wäre Zynismus. Die biblische Religion ist ein fortwährendes Sich-Auflehnen gegen einen solchen Zynismus. Der Ankläger dieses zynischen Systems und der Anwalt der Opfer ist in der Bibel Gott selbst. Er ruft: wie lange noch wird das Recht  geleugnet? Schafft den Unterdrückten Recht, dem Waisenkind, dem Armen, Beraubten, Erniedrigten – rettet die, die sich nicht wehren können. Die Stimme, die das ruft, wird in der Bibel, wird von Moses und den Propheten, von Jesus und Paulus, Gott genannt. Kein anderer. Die Vision von einer Welt, in der die Erniedrigten aufgerichtet, die Wehrlosen gerettet werden, ist in dem Jahrhundert, das hinter uns liegt, durchs Feuer gegangen. Sie ist zwar aus der Hölle zurückgekehrt, aber mit einem verbrannten Gesicht, wie es der niederländische Dichter Lucebert ausgedrückt hat. Und doch ist sie jung wie der morgige Tag und alle Tage neu.

4.
Es gibt, innerhalb und außerhalb der Kirchen, alte und junge Menschen, die sich einsetzen für viel mehr als ihre eigenen Interessen. Sie haben einen alten Glauben fallengelassen, den alten weit verbreiteten Glauben an „blindes Schicksal“ und „dummen Zufall“, sie glauben nicht mehr, dass diese Welt mit ihren ausgefeilten Techniken der Ausbeutung und Erniedrigung und Schmerz die einzige mögliche Welt ist. Sie glauben nicht mehr daran, dass auch nur irgendetwas in dieser Welt unumstößlich und naturnotwendig so ist: Kindersterblichkeit, Kindermord, Aids, das bittere Unrecht der Armut und, als eine Folge davon, die furchtbare Gewalt. Sie haben vor, eine andere Welt zu schaffen, Schritt für Schritt, Tag um Tag. Sie ziehen eine Spur der anderen, der neuen Welt durch diese alte hindurch. Ich sehe ihren großen Einsatz, den ich Liebe nenne, und ich traue meinen  Augen.

5.
Vom jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas, einem Überlebenden der Shoa, gibt es einen berühmten Text, in dem er seine biblisch-jüdische Tradition zusammenfasst – dieser Text ist theologisch herausfordernd und politisch höchst aktuell. „In der Tatsache, dass die Beziehung zum Göttlichen über die Beziehung zu den Menschen verläuft und mit sozialer Gerechtigkeit zusammenfällt, manifestiert sich der Geist der ganzen Bibel. Mose und die Propheten kümmern sich nicht um die Unsterblichkeit der Seele, sondern um den Armen, die Witwe, das Waisenkind und den Fremden. Die Beziehung zu dem Menschen, in der sich der Kontakt zu dem Göttlichen vollzieht, ist nicht eine Art ,geistige Freundschaft‘, sondern eine gerechte Ökonomie, für die ein jeder Mensch verantwortlich ist.“

Gerecht bedeutet: gerichtet auf die Verbesserung der Lebensumstände der Ärmsten der Welt. In diese Richtung weist der „Stern von Bethlehem“ alle Könige und Weisen dieser Welt; es ist der „Leitstern“ der biblischen Vision, der „Stern der Erlösung“.

Wenn die Kirchen, und das gilt für alle, sich von der Tradition des lebendigen jüdischen Glaubens inspirieren lassen und von Lehrmeistern wie Levinas informieren und bilden, werden sie vielleicht weniger schnell den religiösen Marktmechanismen erliegen, weniger Bedürfnisse nach Engel-Erfahrungen, Esoterik und Jenseits-Szenarien entwickeln und sich mit mehr Geisteskraft verbinden mit allen, die sich für die Zukunft dieser Erde verantwortlich wissen.

6.
Wir feiern Abendmahl, Eucharistie. Das ist: die Vision zusammengefasst, geläutert zum Ritual von Brot und Becher: Möge das Teilen dieses Brotes und dieses Bechers uns stärken in der Hoffnung, dass eine neue Welt kommen wird, wo Brot und Recht und Liebe ist, genug für alle.

Amen