"Der Faktor Mensch - Wertorientierung und Ökonomisierung im Gesundheitswesen" - Vortrag im Hanns-Lilje-Forum, Hannover

Wolfgang Huber

I. Das Problem: Hilfe und Geld

An den Beginn dieser Überlegungen stelle ich eine biblische Erzählung, die für unser Thema einschlägig ist, nämlich das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Es steht in der kirchlichen Tradition für die Hilfe gegenüber dem Bedürftigen, der nach christlichem Verständnis mein Nächster ist, ganz ohne Wenn und Aber.

Wir erinnern uns: Der Samariter, ein Außenseiter in der damaligen Gesellschaft in Israel, kümmert sich um einen unter die Räuber gefallenen Menschen, nachdem ein Priester und ein Levit achtlos an ihm vorüber gegangen waren. Er versorgt die Wunden und übergibt den Verletzten, bevor er seines Weges zieht, einem Wirt zur weiteren Pflege. Dabei vergisst er nicht, ihm zwei Silbergroschen zu hinterlassen und verspricht, falls dieser Betrag nicht ausreichen sollte, auf dem Rückweg auch die zusätzlichen Kosten zu begleichen.

Hier greift mithin keine Fallpauschale – im Gegenteil. Nüchtern marktwirtschaftlich betrachtet legt der Samariter ein äußerst risikohaftes Verhalten an den Tag, denn seine Garantie einer vollen Kostenübernahme kann den Preis leicht in die Höhe treiben. Sie ist eben an der Bedürftigkeit des Kranken ausgerichtet – und nicht an den Kosten. Ist das gut oder ist es höchst unvernünftig?

In der christlichen Tradition steht dieses Gleichnis dafür, dass die Hinwendung zum Nächsten und die Hilfe für ihn im menschlichen Handeln den höchsten Rang haben. Diesem Gleichnis geht nämlich die Frage voraus: „Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben erwerbe?“ Die Hinwendung zum bedürftigen Nächsten wird hier also  Weg zum ewigen Leben, als Ausdruck eines von Gott bestimmten Lebens gesehen. Frömmigkeit allein, wie sie Priester und Levit in dem Gleichnis verkörpern, führt nicht zum Heil. Die helfende Zuwendung gegenüber jedem Menschen als Gottes Ebenbild ist integraler Bestandteil des gelebten Glaubens und nicht etwa eine zusätzliche „Leistung“, die unter Knappheitsbedingungen verhandelbar wäre oder sogar entfallen könnte. Deswegen reicht auch umgekehrt das auf die Wiederherstellung der körperlichen Integrität ausgerichtete Helfen allein nicht zum Heil aus, das ohnehin nicht durch menschliches Handeln erreicht, sondern auf das nur durch menschliches Handeln geantwortet werden kann. Und deutlich ist ebenso, dass die Zuwendung zum Nächsten nicht nur dessen körperliches Wohlbefinden, sondern die Einheit von Leib und Seele im Blick hat. Auch für helfendes Handeln muss das gelten – nicht nur, aber ganz besonders, wenn es sich im Horizont des christlichen Glaubens vollzieht.

Nun können wir aber noch etwas Weiteres aus diesem Gleichnis lernen. Der grundsätzlich positiven und hilfsbereiten Einstellung zum Nächsten widerspricht nicht, dass Geld ins Spiel kommt und dass die Sorge und das Kümmern um den Nächsten auch in einem bestimmten Ausmaß delegiert werden können, ja delegiert werden müssen. Man muss zugeben: Verglichen mit dem Priester und dem Leviten war der Samariter eher zur Hilfeleistung im Stande. Die beiden anderen waren zu Fuß unterwegs; er hatte ein Reittier, auf dem er den Verwundeten transportieren konnte. Auch Wein und Öl hatte er dabei, um die Wunden zu versorgen. Doch auf Dauer übernimmt der Samariter nicht selbst die Pflege; er übergibt den Kranken vielmehr an jemanden, der sich besser um ihn kümmern kann und zahlt dafür. Das Geld wird zum Medium der Nächstenliebe.

So erinnert uns das Gleichnis deutlich daran, dass Gesundheit noch nie umsonst zu haben war – nicht nur zu biblischen Zeiten und nicht einmal in den so genannten primitiven Gesellschaften, in denen man dem Medizinmann Geschenke als Gegengabe für seine Heilkünste brachte. Wenn wir also heute über Wirtschaftlichkeit bzw. Ökonomisierung im Gesundheitswesen sprechen, kann es nicht darum gehen, die heutigen Umstände mit einer Zeit zu kontrastieren, in der Gesundheit angeblich nichts gekostet hat. Die Wiederherstellung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens und der Funktionstüchtigkeit unseres Leibes wie des ganzen Menschen kostet immer etwas. Und es sollte dabei auch nicht zu knauserig zugehen; der Samariter war das ja auch nicht. Denn Gesundheit ist ein Grundgut eines jeden Menschen und der ganzen Gesellschaft. Dennoch können die Kosten für Gesundheit nicht einseitig zu Lasten anderer wichtiger Bereiche – zum Beispiel durch die Erhöhung der Lohnzusatzkosten auf Kosten von Arbeitsplätzen – gehen. Es muss immer wieder neu verhandelt werden, wie hoch diese Kosten sein können, wer sie trägt und wie sie unter den Mitgliedern einer Gesellschaft verteilt werden.

Daneben muss betont werden, dass Gesundheit kein Gut oder Produkt wie viele andere ist, die auf den Märkten angeboten werden. Dies ist deshalb nicht der Fall, weil ohne dieses Gut Leben nicht möglich ist, genauso wenig wie ohne Frieden, Freiheit oder Sicherheit. Gesundheit hat Ermöglichungscharakter. Gesundheit ist mithin ein Gut, zu dem alle Menschen Zugang haben müssen, um überhaupt an den Lebensmöglichkeiten in einer Gesellschaft auf faire Weise beteiligt zu sein. Von daher ist es einleuchtend, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft Zugang zu den medizinischen Leistungen haben müssen, die in der jeweiligen Epoche zur Verfügung stehen. Streiten kann man – und muss man – höchstens darüber, ob sich zwischen für alle notwendigen und darüber hinaus gehenden lediglich wünschenswerten Leistungen unterscheiden lässt. Klar ist jedoch, dass im Zweifel alles zur Verfügung Stehende – unabhängig von Kostenüberlegungen – getan werden muss, um ein menschliches Lebens vor einem vorzeitigen Tod zu retten.

Durch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter hat der Grundsatz, dass möglich Hilfe auch tatsächlich gewährt wird, in unsere moralischen wie rechtlichen Überzeugungen Einzug gehalten. Wird sie verweigert, sprechen wir von „unterlassener Hilfeleistung“. Der ökonomische Umgang mit medizinischen Leistungen hat es also mit der Aufgabe zu tun, mögliche Hilfe auch tatsächlich zu gewähren.

II. Die neue Fragestellung

Nun war die Frage, wer für die Betreuung des Kranken zu Zeiten des Samariters zuständig war, noch relativ leicht zu beantworten. Heute ist die Lage komplexer. Zuständig für die Sicherung und Wiederherstellung von Gesundheit ist in unserem Land ein großer Wirtschaftszweig mit Millionen von Arbeitsplätzen, umfassenden Regelungen und erheblichem Reformbedarf.

Über lange Zeit war der Zugang zu Gesundheitsvorsorge und Krankenpflege sehr ungleich verteilt. Reiche hatten auch einen privilegierten Zugang zu medizinischen Leistungen, die andere sich nicht leisten konnten. Die Kirchen versuchten, dem barmherzigen Samariter, folgend, dem entgegenzuwirken, indem sie Gastfreundschaft gerade für den armen Kranken übten. Deshalb hießen die Unterkünfte für diese Kranken Hospize oder Hospitäler, Orte der Gastfreundschaft. Mit der Entwicklung zum modernen Sozialstaat wurde auch die Verpflichtung anerkannt, dass niemand aus dem Grund von der Gesundheitsfürsorge und der Hilfe in Krankheit ausgeschlossen sein sollte, weil es ihm an den dafür notwendigen Mitteln fehlte. Die Krankenversicherung wurde zu dem Mittel, das einen gleichen Zugang gewährleisten sollte – auch wenn Unterschiede zwischen Kassenpatienten und Privatpatienten unübersehbar blieben. Durch diese Regelung wurde das Gesundheitswesen einer strikt marktorientierten Ausrichtung entzogen. Die Sicherung der Gesundheit aller wurde korporatistisch organisiert. Das Subsidiaritätsprinzip begünstigte gemeinnützige Anbieter wie die Diakonie. Besser Gestellte können sich dem durch Eigenvorsorge oder private Versicherungen entziehen. Wettbewerb war – und ist weitgehend immer noch – für diesen Bereich eher ein Fremdwort. Erst mit der Einführung der Pflegeversicherung 1995 kam es durch die breite Zulassung privater Anbieter zu einer neuen marktwirtschaftlichen Dynamik.

Wodurch dieses System ins Wanken geriet, ist allgemein bekannt. Zwei Entwicklungen verstärkten sich, die beide mit den gewaltigen Fortschritten der modernen Medizin zu tun haben. Zum einen bewirkten diese eine kontinuierliche Verlängerung der menschlichen Lebenszeit; je weiter die dem Menschen zugängliche Lebensspanne ausgeschöpft wird, desto stärker treten freilich auch Krankheiten des hohen Alters auf, die häufig mit besonders hohen Kosten verbunden sind. Gerade die letzte Lebensphase von Hochbetagten erzeugt besonders hohe Gesundheitskosten. Zugleich hat die Entwicklung von Apparatemedizin und Pharmaprodukten immer aufwendigere Therapien hervorgebracht, die auch von dieser Seite zu einer Kostenexplosion beitragen. Diese Kostendynamik wirkt umso bedrängender, wenn sie sich in einer Gesellschaft wie der unseren vollzieht, die durch eine dramatische Unterjüngung bestimmt ist. Genauso wie immer weniger Beitragszahler für eine immer größere Zahl von Versorgungsempfängern aufkommen müssen, so muss auch eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung für ein wachsendes gesamtgesellschaftliches Gesundheitsbudget aufkommen. Da dieses Budget aber einen zentralen Wirtschaftsbereich speist, sind die ökonomischen Interessen stark, die sich auf ein Wachstum und nicht etwa auf eine Begrenzung dieses Budgets richten. Es gibt kein zweites Feld, in dem wissenschaftlich-technischer Fortschritt, demographischer Wandel und wirtschaftliche Interessen so eng miteinander verflochten sind wie im Gesundheitswesen. Entsprechend dornig ist der Weg zu einvernehmlichen Lösungen, wie die täglichen Neuigkeiten aus den Verhandlungen über die Gesundheitsreform beweisen. Entsprechend kompliziert sind auch die Details, so dass außer den gesundheitspolitischen und gesundheitsökonomischen Experten kaum noch jemand durchblickt; erst recht soll sich der Theologe nicht einbilden, er könne in dieser Debatte mit dem „Stein der Weisen“ aufwarten.

Viele Vorschläge wurden und werden für das Gesundheitswesen der Zukunft gemacht. Viele Vorschläge laufen darauf hinaus, das korporatistische System aufzubrechen und stärker auf Wettbewerb, Marktorientierung und Gewinnerzielung umzustellen. Diese Umstellung ist üblicherweise im Blick, wenn von einer Ökonomisierung des Gesundheitswesen, vor allem des Krankenhauswesens und des Klinikalltags die Rede ist. Wenn man eine solche Veränderung ins Auge fasst, muss man sich freilich deutlich machen: Die stärkere Orientierung an ökonomischen Erfordernissen bedeutet keine Verabschiedung leitender Wertentscheidungen. Denn die Ökonomie ist kein eigenes Wertsystem; sie trägt vielmehr Mittelcharakter. Von ihrer genuinen Aufgabenstellung her kommt ihr keine Bestimmungsmacht über leitende kulturelle und ethische Werte zu.

Das muss in besonderem Maß im Sinn haben, wer sich mit dem Gesundheitswesen beschäftigt, also einem Wirtschaftssektor, der es in einer besonderen Intensität mit dem  Menschen zu tun hat. Menschen müssen mit den Gütern dieser Welt wirtschaftlich umgehen; sie selbst unterliegen aber nicht den ökonomischen Rationalitätskalkülen. Wo es um die Gesundheit von Menschen oder um die Begleitung Leidender und Sterbender geht, steht mehr auf dem Spiel als beim Handeln mit Waren oder bei der Bereitstellung von Dienstleistungen. Denn der Mensch ist nicht eine Sache, sondern er ist Person. Menschen erschöpfen sich nicht darin, einen Wert für andere zu haben, der gegen Geld aufgewogen werden kann; sondern sie haben eine eigene Würde, die nach einem wichtigen Wort Immanuel Kants „kein Äquivalent verstattet“. Deshalb muss die Wirtschaft im Dienst des Menschen stehen und nicht umgekehrt – oder in Abwandlung eines Wortes Jesu über den Sabbat: Die Wirtschaft ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um der Wirtschaft willen.

Deshalb ist unseren Überlegungen über das Verhältnis von Wertorientierung und Ökonomisierung im Gesundheitswesen der Hinweis auf den „Faktor Mensch“ vorangestellt.

Dieser Hinweis enthält eine bewusste Zweideutigkeit. Wenn man vom „Faktor Mensch“ redet, dann assoziiert man damit zuallererst den „Kostenfaktor“ Mensch. Doch der Mensch ist eben mehr als ein Kostenfaktor. Er ist das zum Ebenbild Gottes erwählte und mit Würde begabte Geschöpf. Er ist zur Freiheit berufen und muss zugleich damit umgehen, dass die ihm anvertraute Freiheit eine endliche Freiheit ist. In keinem Zusammenhang spürt er das deutlicher als in der Verletzlichkeit seines Lebens und der Anfälligkeit seiner irdischen Existenz.

Dass es in den Fragen um Leben und Tod wie um Gesundheit und Krankheit, mit denen Medizin und Pflege es zu tun haben, im Kern um diesen Umgang des Menschen mit seiner endlichen Freiheit geht, macht die Größe aller ärztlichen und pflegerischen Berufe aus. Sie bilden eine professionalisierte und institutionalisierte Gestalt der Nächstenliebe. Menschen in diesen Berufen machen sich die Fürsorge für das Leben und die Gesundheit anderer Menschen zur Lebensaufgabe; sie verpflichten sich dazu, Schaden von ihnen abzuwenden und ihnen im Leiden wie im Sterben beizustehen. Sie verpflichten sich zugleich dazu, die Freiheit und damit die Selbstbestimmung der Patienten zu achten und ihnen nicht gegen ihren Willen Therapien aufzunötigen. In allem ärztlichen und pflegerischen Handeln geht es deshalb im Kern um ein Gleichgewicht, das in der Stellungnahme der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Frage der Patientenverfügungen als Balance zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge beschrieben worden ist. Kein Zweifel: Diese Balance braucht Einfühlungsvermögen und sie braucht vor allem Zeit.

Der „Faktor Zeit“ tritt also neben den „Faktor Mensch“. Nicht nur die Verfügbarkeit medizinischer Apparaturen und der für ihren Gebrauch nötigen fachlichen Kenntnisse, nicht nur der Zugang zu den modernsten pharmazeutischen Mitteln und deren richtiger Einsatz, nicht nur richtige Diagnose und fachkundige Pflege, sondern ebenso menschliche Zuwendung, einfühlsame Beratung und Hilfe für eine ebenso selbstbestimmte wie verantwortliche Entscheidung gehören in den Kern alles ärztlichen und pflegerischen Handelns. Dafür aber braucht man Zeit. Zeit aber ist ein knappes und ökonomisch zu Recht hoch bewertetes Gut. Die Frage nach der Vereinbarkeit von Wertorientierung und Ökonomisierung erweist sich im Kern als eine Zeitfrage. In dieser wie in anderen Fragen wird die Zeitpolitik zu einem Schlüsselthema anstehender politischer Auseinandersetzungen.

Eine zweite Assoziation drängt sich bei der Rede vom „Faktor Mensch“ auf. Wirtschaftlich betrachtet ist der Mensch nicht nur ein Kostenfaktor. Er ist zugleich ein Produktivitätsfaktor. Das kann dazu verleiten, den Einsatz medizinischer Mittel an der Nützlichkeit eines Menschen, an seiner möglichen Produktivität auszurichten. Ob sich eine bestimmte Maßnahme noch lohne, wird dann gefragt. Die Achtung vor der Würde des Menschen dagegen gebietet, dass ein solcher Behandlungsverzicht nur von dem Kranken selbst und von niemandem sonst ausgesprochen werden darf. Jedes von einem andern vorgenommene Kalkül solcher Art trüge den Charakter der Fremdbestimmung und wäre mit der Selbstbestimmung des Menschen unvereinbar. Ob einem über neunzigjährigen Kardinal noch eine Hüfte eingesetzt wird – um einen berühmt gewordenen Streitfall aufzugreifen – , entscheidet sich eben nicht an der vermeintlichen gesellschaftlichen Nützlichkeit des alten Herrn, sondern an seiner eigenen Patientenautonomie. Hier kommt eine Wertorientierung ins Spiel, die dem Gedanken einer Ökonomisierung, also einer rationierten Zuteilung medizinischer Leistungen klare Grenzen setzt. Nicht Rationierung, sondern prinzipiell gleicher Zugang zu medizinischen Leistungen ist das grundlegende Prinzip.

Das Gerechtigkeitspostulat gilt damit für den Bereich des Gesundheitswesens in besonders klarer Form. Es muss so gestaltet sein, dass es alle Menschen in gleicher Weise zur Teilhabe an der Gesellschaft befähigt – nicht zuletzt darin, sich am Arbeitsmarkt beteiligen zu können, um sich selbst zu erhalten. In dieser Aufgabe soll sich in ihm die gesellschaftliche Ungleichheit gerade nicht abbilden; vielmehr sollen jede und jeder das erhalten, was sie brauchen. Ebenso wie das Bildungswesen ist auch das Gesundheitswesen ein besonderes Bewährungsfeld gesellschaftlicher Solidarität. Der Staat steht hier als Wahrer des gesellschaftlichen Friedens und als Beschützer der Schwachen besonders in der Pflicht. Selbst wenn das Gesundheitswesen vollständig privatwirtschaftlich gestaltet wäre, müsste der Staat besondere Regelungen im Interesse der Schwächeren treffen.

Wertorientierung und Ökonomisierung: diese beiden Perspektiven scheinen am ehesten miteinander in Konflikt zu treten, wenn man daran denkt, dass wirtschaftliches Handeln sich stets mit Gewinnorientierung verbindet. Dagegen, so vermutet man, muss sich jedenfalls eine christliche Moral wenden, die sich doch an dem Wort Jesu ausrichtet, man könne nicht zwei Herren dienen, sondern müsse sich zwischen Gott und dem Mammon entscheiden. Doch genau betrachtet, richtet sich auch dieses warnende Wort nicht gegen Gewinn als solchen, sondern gegen die Unterwerfung unter den Gewinn. Nicht ob man Gewinn erzielt, sondern wozu man ihn verwendet, ist in der Perspektive des christlichen Glaubens die entscheidende Frage. Ob man sein Herz an ihn hängt und ihn damit zu seinem Gott macht, ist der entscheidende Prüfstein.

Insofern braucht man auch gegen eine Gewinnorientierung im Gesundheitswesen keinen grundsätzlichen Einwand zu erheben – insbesondere solange diese Gewinnorientierung zur Steigerung der Leistungskraft der Einrichtungen genutzt wird, wie dies bei den gemeinnützigen Einrichtungen schon immer der Fall ist. Wenn freilich auch im Krankenhausbereich 8% Rendite und mehr erwirtschaftet werden sollen, kann das leicht zu Lasten wichtiger Beteiligter gehen, und zwar wahrscheinlich zu Lasten der sozial schwächeren Mitarbeiter wie der sozial schwächeren Patienten. Wenn dies als Maßstab des Handelns Anerkennung fände, würde es eine gesundheitsförderliche Krankenhauskultur untergraben.

Wenn sich im Gesundheitswesen die kurzfristige Gewinnerzielungsabsicht verselbständigt, leidet die nachhaltige Versorgung der Bevölkerung. Gewinn und Rendite sind auch im Gesundheitswesen ein Indikator für Effizienz. Aber mit einem Gut, auf das alle Menschen angewiesen sind, spekulativ umzugehen und mit der Differenz von guten und schlechten Risiken Gewinn zu machen, weckt Widerspruch.

Der Faktor Zeit, das Postulat der Gerechtigkeit, das Gleichgewicht zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge habe ich besonders als Gesichtspunkte hervorgehoben, die man im Sinn haben muss, wenn man Gesundheitsvorsorge und Krankenbetreuung als wirtschaftlichen Vorgang begreift. Die Sorge für die Bewahrung des menschlichen Lebens, die Begleitung Sterbenskranker eingeschlossen, kostet zwar viel; aber eigentlich ist sie mit Geld nicht zu bezahlen. Im Vordergrund muss deshalb immer der Bezug auf die Nöte und Bedürfnisse des Kranken stehen. Seine Würde ist stets zu achten, gerade in Leiden und Not. Zwischen ihm und dem Arzt vermittelt das Geld – aber es darf sich nicht dazwischendrängen und eigene Geltung erlangen.

III. Effizienz im Gesundheitswesen als ethischer Wert

Von diesen grundsätzlichen Überlegungen aus will ich mich einigen aktuellen Punkten in der Diskussion über die Ökonomisierung des Gesundheitswesens zuwenden. Mit „Ökonomie“ bezeichnen wir die Lehre vom sorgfältigen Umgang mit knappen Ressourcen. Sie zielt also auf die Vermeidung von Verschwendung und Ineffizienz. In diesem Sinne ist unter Ökonomisierung die fortlaufende Revision eingefahrener Abläufe, etwa im Krankenhaus, mit dem Ziel des besseren Einsatzes verfügbarer Mittel zu verstehen. Dieser Prozess ist gewissermaßen wertneutral und muss auch dort erfolgen, wo keine Gewinninteressen ihn antreiben.

Übrigens muss sich in diesem Sinn auch die Kirche ökonomischen Überlegungen stellen. Denn auch sie muss sich fragen, wie kirchliche Arbeit mit den vorhandenen Mitteln möglichst effizient zu gestalten ist. Das gehört deshalb zu den Themen, zu denen der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland unlängst mit einem Impulspapier einen Diskussionsanstoß gegeben hat.

Ökonomie im Sinne der möglichst klugen Verwendung verfügbarer Mittel hat es vom Beginn des modernen Gesundheitswesens an immer gegeben. Der Sozialstaat mit seinem hohen Anspruch, dass alle Menschen in (annähernd) gleicher Weise Zugang zum Gesundheitssystem haben sollen, nötigt geradezu zu einer solchen Betrachtungsweise. In einer Gesellschaft dagegen, die diesen Anspruch nicht hat und die ein Gesundheitswesen nur für eine Schicht sehr zahlungsfähiger Klienten betreibt, spielt Ökonomisierung nur aus einem anderen Grund eine Rolle. Diese bezieht sich dann vor allem anderen auf die Konkurrenz der hochleistungsmedizinisch ausgerichteten Anbieter um die zahlungskräftigsten Kunden.

Das Interesse, unter dem ich die Ökonomisierung des Gesundheitswesens betrachte, ist ein anderes. Es ist an der Zugänglichkeit einer möglichst guten medizinischen Versorgung für alle orientiert.  Die seit weit über einem Jahrhundert bestehenden evangelischen Diakonissenhäuser – Hannover ist dafür ein gutes Beispiel – haben einem solchen Verständnis von medizinischer Versorgung immer wieder vorgearbeitet, ganz im Sinne des eingangs zitierten Gleichnisses vom barmherzigen Samariter: Jeder ist bedürftig, der die Hilfe eines anderen Menschen benötigt. Auch sie haben ihre Krankenanstalten, die sie aus Spenden finanzieren mussten, durchaus sehr ökonomisch betrieben. Sie taten das nicht, um sich privatwirtschaftlich Profite anzueignen; sondern sie taten es aus einer  christlichen Haltung heraus, sie orientierten sich an einem christlichen Ethos des Helfens. Das Helfen, das selbstlose Engagement für den hilfsbedürftigen Nächsten war ihr Motiv. Das schloss Gewinne, die reinvestiert wurden, natürlich nicht aus. Doch die Sorge für hilfsbedürftige Menschen hatte den Vorrang vor der Gewinnerzielung. Auch heute stehen unsere diakonischen Einrichtungen und Werke in dieser Tradition.

Ein Grund für die heute besonders forcierte Ökonomisierung ist sicher ein zunehmender Kostendruck. Stichworte sind der Aufwand hoch technisierter Apparate für Diagnostik und Therapie, die Preise für Medikamente, schlechte Koordination und Doppeluntersuchungen, Ineffizienz und Bürokratie, ständische Organisation, die wachsenden Kosten mit höherem Lebensalter – die Reihe ließe sich fortsetzen.

In der Stellungnahme des Rates der EKD Solidarität und Wettbewerb. Für mehr Verantwortung, Selbstbestimmung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen aus dem Jahre 2002 wird in Übernahme von Schätzungen des Sachverständigenrates für das Gesundheitswesen von möglichen Einsparungen ohne Einbußen an Leistungsqualität in einer Höhe von zwanzig Prozent gesprochen. Vor allem institutionelle Mängel sind dafür verantwortlich, dass diese Einsparmöglichkeiten bisher nicht in ausreichendem Maß verwirklicht werden (Ziffer 16). Mehr Effizienz in dieser Hinsicht würde nicht nur Kosten sparen, sondern zugleich die Qualität der individuellen Behandlung erhöhen. Denn – um ein Beispiel herauszugreifen – unnötige Doppeluntersuchungen treiben nicht nur die Kosten in die Höhe; sie verschlingen zugleich auch kostbare Lebenszeit des Patienten.

Wie lässt sich nun für mehr Effizienz sorgen? Die schon erwähnte Stellungnahme der EKD geht – in Einklang mit den Feststellungen des Sachverständigenrats für das Gesundheitswesen – davon aus, dass das Problem grundsätzlich nicht mit Budgetierungen und ähnlichen mengenmäßigen Begrenzungen zu lösen ist. Rationierung im Sinne der Bewirtschaftung von Leistungen, auf die Patienten eigentlich angewiesen sind, darf es in einem sozialen Rechtsstaat nicht geben. (Ziffer 20). Der Weg, auf dem bessere Qualität, Kostenbegrenzung und Aufrechterhaltung einer bedürfnisgerechten Versorgung für alle erreicht werden sollen, muss deshalb die Stärkung des Wettbewerbs und die Erhöhung der Transparenz insbesondere auch für die Patienten selbst einschließen.

Anbieter wie Patienten müssen ein eigenes Interesse an kostengünstiger Gestaltung der Gesundheitsleistungen haben. Unter Beibehaltung des Solidargedankens muss mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen möglich gemacht werden. Dabei sollten vor allem die Krankenkassen diesen Wettbewerb ausgestalten – der zugleich ihre Macht begrenzen würde. Im Einzelnen haben wir dazu 2002 eine Reihe von Vorschlägen gemacht – von der Neugestaltung des Risikostrukturausgleichs bis zur Vermeidung von Doppeluntersuchungen, von der Zulassung von Differenzen in der Beitragsgestaltung und im Leistungsangebot bis zur Einführung einer eigenständigen Unfallversicherung (Ziffer 30).

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist aber bei allem die Herstellung von Transparenz. Sie bildet eine unumgängliche Voraussetzung für persönliche Entscheidungsfreiheit wie für politische Steuerung. So sollten beispielsweise die Verträge von privaten Krankenhausträgern bei der Übernahme bisher staatlicher Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen offen gelegt werden. Dies sicherzustellen ist Aufgabe des Gesetzgebers; niemand anders kann das für alle erzwingen. Transparenz ist aber noch fundamentaler für die Patienten selbst. Ihre Rechte können nur dann gewahrt werden, und sie können auch nur dann wirklich mündige Kunden sein – wovon ja private Anbieter besonders gerne reden – , wenn ihnen ein schneller und zuverlässiger Zugang zu Daten möglich ist, anhand deren sie Qualitätsdifferenzen zwischen den Anbietern erkennen können. Die Qualitätsstandards dürfen folglich nicht nur einem internen Ranking unterliegen, sondern müssen öffentlich nachvollziehbar sein. Dabei können auch spezifische Leistungen und „weiche“ Aspekte wie beispielsweise eine gute seelsorgerliche Betreuung positiv zu Buche schlagen.

IV. Die DRGs als Beispiel

Den genannten Problemen der rein preismäßigen und mengenmäßigen Begrenzung von Gesundheitsleistungen unterliegen auch neue Regelungssysteme. Das sei an einem Schlüselbeispiel exemplarisch verdeutlicht. Seit einigen Jahren bestimmt das System der Fallpauschalen für die Krankenhausbehandlung die Diskussion. Das Ziel dieser Regelung ist zu begrüßen. Es geht – an dieser Stelle im Unterschied zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter – darum, der Falle einer pauschalen Kostenübernahme-Garantie zu entkommen.

Dem dient das Verfahren, dass für gleichartige Diagnosen gleiche Kostensätze zur Verfügung gestellt werden. Damit aber wirkt sich jede Verlängerung der Verweildauer und jede zusätzlich erbrachte, weil nicht voraussehbare Leistung zumindest gewinnmindernd aus, wenn sie nicht sogar eine Kostenüberschreitung bewirkt, da die zusätzliche Verweildauer in der Standard-Kalkulation des DRG-Systems nicht enthalten ist. Das hat zur Folge, dass Krankenhäuser für entsprechende Einnahmeverluste selbst einstehen müssen. Damit wächst ihr Risiko bei der Aufnahme von Patienten. Noch fehlen uns ausreichende Erfahrungen darüber, wie sich dieses System in der Praxis auswirkt. Dass es dazu führt, besonders schwierige und komplexe Krankheitsfälle eher abzuweisen um das eigene Risiko zu vermindern, liegt jedoch auf der Hand. Solche Patienten verbleiben in Zukunft eher bei den staatlichen oder auch bei diakonischen Krankenhäusern, die sich ihrem Versorgungsauftrag nicht entziehen können. Am Horizont zeigt sich die Gefahr einer Spaltung des Krankenhausmarktes in Häuser für Niedrig- und Hochrisikopatienten.

Das System der diagnoseorientierten Fallkostenpauschalen steht hier stellvertretend für mögliche Auswirkungen von Rationalisierungsmaßnahmen im Gesundheitswesen. Wenn die Schraube der Ökonomisierung im Krankenhaus weiter angezogen wird, kann das mit Auswirkungen verbunden sein, die Grund zur Sorge geben. Bleibt dann noch genug Raum für vorbehaltloses Helfen, für eine Praxis der „institutionalisierten Barmherzigkeit“?

Man muss auch danach fragen, wie sich das System der diagnoseorientierten Fallkostenpauschalen auf die Arbeitsbedingungen und das berufliche Selbstverständnis der Beschäftigten im Gesundheitswesen auswirkt. Von den Beteiligten, vor allem von den Ärzten und vom Pflegepersonal, werden die damit verbundenen Rationalisierungseffekte überwiegend als Verlust erlebt, wie entsprechende Untersuchungen zeigen. Beklagt wird auf vor allem ein Verlust an Menschlichkeit. Er entsteht, weil die Möglichkeiten zu Zuwendung und Kommunikation im Arztgespräch oder am Krankenbett schwinden. Wer im direkten Kontakt mit den Patienten steht, hat mit einer wachsenden Diskrepanz der veränderten Rahmenbedingungen zum eigenen Ethos, zu den Selbstverpflichtungen der Institution (etwa eines evangelischen Krankenhauses) und zu verpflichtenden Qualitätsstandards in der Pflege zu kämpfen.

Wenn Ärztinnen und Ärzte unter Zeitdruck geraten, weil die vorgegebenen Behandlungszeiten nicht ausreichen, muss das Rückfragen an das zu Grunde liegende System auslösen. Wenn die Zuwendung zu Kindern auf der Kinderstation oder wenn Gespräche mit Krebspatienten oder Sterbenden nicht mehr mit in die Fallkalkulation aufgenommen werden, muss man sogar von schwerwiegenden Qualitätsmängeln sprechen. Analoges lässt sich zur stationären wie ambulanten Pflege sagen.

V. Ausblick

Man mag einwenden, dass Fragen, die ich aus dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter ableite, nur für Einrichtungen in christlicher Trägerschaft gelten. Insofern betreffen meine Fragen zur Ökonomisierung im Gesundheitswesen zuallererst evangelische Krankenhäuser und Diakoniestationen oder die entsprechenden Einrichtungen anderer Kirchen. Denn sie binden sich an ein Leitbild, das im Gleichnis vom barmherzigen Samariter paradigmatisch zum Ausdruck kommt. Für sie alle ist die Frage unausweichlich, wie sie die hohen Maßstäbe, die sie aus dem christlichen Glauben herleiten, umsetzen können.

Aber auch christliche Einrichtungen können nicht aus dem allgemeinen Gesundheitssystem aussteigen. Und umgekehrt können – und wollen – auch andere Institutionen der Gesundheitsfürsorge und Krankenpflege sich nicht von den Grundsätzen lösen, die in unserer Gesellschaft direkt oder indirekt mit dem christlichen Menschenbild verbunden sind und denen mit der Menschenwürdegarantie wie mit dem Sozialstaatsgebot Verfassungsrang zuerkannt wurde.

Der Umbau im Gesundheitssektor und die Suche nach Möglichkeiten der Kostenminimierung sind ja noch längst nicht an ein Ende gekommen; vielmehr sind wichtige Schlüsselprobleme nach wie vor ungelöst, wie die tägliche Debatte über die Gesamtanlage wie über umstrittene Details der Gesundheitsreform belegt. So scheint sich allmählich herauszustellen, dass die Rationalisierung im Krankenhaus nach dem Muster der diagnoseorientierten Fallpauschalen (DRG), die ich hier beispielhaft behandelt habe, wohl nicht das letzte Wort  sein wird. Dieses System war ja von Anfang an als ein lernendes System gemeint, das von einer kontinuierlichen Evaluation begleitet sein sollte. Seine Einführung stellte also gewissermaßen den Beginn eines  Großversuchs dar, den man wissenschaftlich begleiten und ethisch bewerten muss.

Wir brauchen ein sozial gesteuertes, solidarisches Gesundheitswesen, das zu Gunsten der Patienten wie im Interesse der Finanzierbarkeit deutlich mehr Wettbewerb als bisher enthält. Die Verdoppelung von Diagnosen muss in Zukunft ebenso unterbunden werden wie der Einsatz von Therapien, die vorsorglich eingesetzt werden, obwohl ihre Wirkung ungewiss ist. Um diesen Umbau zu leisten, braucht es vor allem Transparenz. Dazu gehört beispielsweise die Pflicht, Qualitätsberichte zu veröffentlichen. Nur so kann die Souveränität der Patienten gestärkt werden; nur so können sie wirklich Kunden sein. Klar ist aber auch: Wettbewerb und Markt sind nicht alles. Auch die Aufgabenfelder, die als nicht marktfähig gelten, müssen wahrgenommen werden. Zu einer Situation, in der jedes Krankenhaus der Aufnahme besonders risikoreicher und deswegen teurer Patienten auszuweichen versucht, darf es nicht kommen.  Denn die Aufgabe einer Gesundheitsreform ist es nicht, solche Situationen herbeizuführen, sondern sie zu vermeiden. Das ist einer der Probiersteine dafür, ob es auch in Zukunft gelingt, zusammenzuhalten, was zusammengehört: die Orientierung am Menschen und die Orientierung an ökonomischer Vernunft.