„Allein aus Glauben“ – Kanzelrede in Wittenberg

Margot Käßmann, Beauftragte des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum

Es gilt das gesprochene Wort

Liebe Gemeinde,

„Allein aus Glauben“ – ein Kernsatz reformatorischer Liturgie. Er kommt irgendwie so majestätisch, unhinterfragbar, klar daher. Aber ist er das? Fühlen wir das? Unser Leben ist allein aus Glauben schon ins Recht gesetzt? Müssten wir nicht doch irgendetwas tun, damit unser Leben Sinn macht? Und wie ist das überhaupt mit unserem Glauben? So heroisch ist er doch nicht, dass er unser ganzes Leben tragen würde, oder? Lassen Sie uns dieser so wacker erscheinenden Formel heute Morgen in Wittenberg, dem Ursprungsort des „sola fide“ sozusagen, ein wenig nachgehen.

Zuallererst ist der Reformator Martin Luther ja gar nicht immer dieser Heroe, der Held auf dem hohen Sockel des Glaubens, zu dem er allzu oft gemacht wurde. Er kannte tiefste, ja abgründige Lebensängste. Intensiv hat er um Glauben gerungen, immer wieder am eigenen Glauben auch gezweifelt. Das macht ihn sympathisch, finde ich – bei allen Schwächen, die er sehr wohl hatte. Simul iustus et peccator war er, Gerechter und Sünder zugleich – das entspricht seinem eigenen Menschenbild.

Und so empfinden wir das in der Regel ja auch. Wir wollen glauben, aber der Zweifel ist doch groß. Gerade in einer Gesellschaft, die Aufklärung und Wissenschaft kennt, gibt es diese Fragen: Jesus, der Sohn Gottes? Auferstehung von den Toten? Können wir das glauben? Da ist die nagende Anfrage der Wissenschaftsgesellschaft. Und gleichzeitig die oft irritierende Anfrage anderen Glaubens, den Menschen intensiv praktizieren.

Glaube aber ist nach Luther eben keine Leistung, sondern ein Geschenk. Ist das nicht ein Widerspruch? Was denn, wenn mir Gott nun keinen Glauben schenkt? Und wo soll das Geschenk eigentlich herkommen?

Mir gefällt, dass Luther Menschen ermutigt, sich ganz schlicht auf den Glauben einzulassen. Das muss nicht spektakulär sein. Luther sagt, es genüge, einmal am Tag das Vaterunser beten und am Ende ein kräftiges Amen gegen allen Zweifel. Das nenne ich spirituellen Pragmatismus. Wie wäre es, das mal zu versuchen? In unserer Zeit lassen Menschen sich auf so vieles ein, auf Yogapraktiken, auf zehn Wochen Almased-Diät, auf Einführung in eine neue Life-Balance in 40 Tagen. Warum nicht einmal zehn Wochen jeden Tag ein Vaterunser mit einem kräftigen Amen gegen allen Zweifel? Vielleicht kann das ja der Anfang eines Gesprächs mit Gott sein.

Luther war ein „Gottsucher“ im wahrsten Sinne des Wortes. Und er war ein Mann, der Angst hatte vor Gott. Zu seiner Zeit war die Überzeugung, dass der Mensch, der nicht im Kloster, im Zölibat lebt, absolut sündig ist. Nur, wenn er alle Sünden beichtet, dem Fegefeuer und der Hölle entgehen kann. Und so beichtete Luther manchmal mehrmals am Tag und wurde für seinen Beichtvater geradezu zur Geduldsprobe.

Eine Form, von zeitlichen Sündenstrafen frei zu werden, war, sich von ihnen freizukaufen. Sinnbild dafür ist der Ablasseintreiber Tetzel mit seinem Satz: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.“ Wohlgemerkt: Es geht nicht um Sündenvergebung, sondern um eine Reduzierung der Strafe für die Sünde. Die Sünde kann im Bußsakrament vergeben werden. Aber der Büßer ist aufgefordert, die Last, die auf seinem Leben liegt, zu verringern durch Gebete, Almosen, Pilgerfahrten, um die Reinigung nach dem Tode zu verkürzen. Der Sünder konnte sich also durch Ablass von der Sünde nicht freikaufen, sondern lediglich die Strafe für die Sünden mit Hilfe der Kirche verringern. Ein komplexes System, in der Tat!

All das trieb Luther um in seiner Suche nach Gott. Beim Lesen der Bibel erkannte er: Die Kirche kann doch keine Sünden vergeben! Freikaufen kannst du dich von Sünden auch nicht. Davon steht nichts, aber auch gar nichts in der Bibel. Das begreift Luther vor allem am Römerbrief. In seiner Vorlesung dazu in Wittenberg geht er diesen Brief Satz für Satz durch. In Kapitel 3, 28 liest er: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“

Nun, das ist Luthers Übersetzung und für die wird er heftig kritisiert. Denn das „allein“ steht so nicht im griechischen Urtext und auch nicht in der lateinischen Übersetzung, die Luther benutzt. Aber wie wir Lutheraner unseren Luther kennen, setzt er sich auch damit auseinander. Hören wir zu diesem Vorwurf Luther selbst aus seinem Sendbrief vom Dolmetschen: „Ebenso habe ich hier, Römer 3, sehr wohl gewußt, daß im lateinischen und griechischen Text das Wort ‚solum‘ nicht stehet, und hätte mich solches die Papisten nicht brauchen lehren. Wahr ist´s: Diese vier Buchstaben ‘s-o-l-a‘ stehen nicht drinnen, welche Buchstaben die Eselsköpf ansehen wie die Kühe ein neu Tor. Sehen aber nicht, daß es gleichwohl dem Sinn des Textes entspricht, und wenn man‘s will klar und gewaltiglich verdeutschen, so gehöret es hinein, denn ich  habe deutsch, nicht  lateinisch, noch griechisch reden wollen….“[1].

Liebe Gemeinde,

wenn in Deutschland der Bundestag erklärt hat, dass das Reformationsjubiläum nicht nur von kirchlicher, sondern auch von staatlicher Bedeutung ist, dann liegt das auch an Luthers Sprachkraft. Seine Übersetzung der Bibel in die deutsche Sprache war nicht die erste, das betonen Kritiker des Reformationsjubiläums gern. Aber es war eine, die die Menschen mitgerissen hat, seine Bibelübersetzung wurde sofort zum Bestseller.

Ja, das können wir feiern 2017: Es gab eine Befreiung vom Zwang, an die Kirche zu zahlen für die eigenen Sünden. Und es gab einen enormen Bildungsschub, denn Luther forderte, dass jeder Junge – und jedes Mädchen! – lesen und schreiben lernen könnten, damit sie selbst ihr Gewissen an der Bibel schärfen könnten. Eigenständig sollte der Glaube sein, nicht durch Dogma, Vorgaben von Oben geprägt. Das ist gerade heute wichtig, wenn wieder Fundamentalismus um sich greift. Denn Freiheit von Fragen und Denken mag Fundamentalismus nicht. Frei soll der Glaube sein. Das bleibt sehr evangelisch. Du darfst selbst denken. Und angstfrei soll er sein, der Glaube.

Vor Jahren habe ich in meiner Gemeinde ein Rollenspiel zur Vertreibung aus dem Paradies durchgeführt. Die junge Frau, die Gott spielte, stieg auf einen Stuhl und kanzelte Adam und Eva mit erhobenem Zeigefinger ab. Hinterher war sie ganz erschrocken, dass sie Gott so zornig, so strafend dargestellt hat. 

Im anschließenden Gespräch zeigte sich, dass Gottesbilder oft mit Angst besetzt sind. Dabei ist das HERR in der Lutherübersetzung ja längst nicht das einzige Bild der Bibel. Da ist bei Jesaja Gott eine tröstende Mutter. Gott kann ein Vogel sein, unter dessen Flügeln ich mich geborgen fühle. Gott ist die Freundin, die Schwester, die Geistkraft. Wenn wir diese Vielfalt entdecken, wird unser Glaube auch vielfältiger und freier, davon bin ich überzeugt. 

Und das wird auch unsere Gottesdienste verändern. Wir brauchen Gottesdienste, in denen wir das Leben feiern und die ermutigen fürs Leben. Ich wünsche mir, dass Menschen Gottesdienste so erleben, dass sie sagen: Diese Kraftquelle benötige ich für die Mühen des Alltags. Da gehe ich nicht erst Weihnachten wieder hin, sondern so bald wie möglich. Wie es Hanns Dieter Hüsch formulierte: Ich bin vergnügt, erlöst befreit – das sollte christlicher Glaube mitgeben und nicht diesen moralinsauren erhobenen Zeigefinger, den gerade Protestanten immer wieder so gern erhoben haben und leider noch erheben!

Ich kann mich Gott anvertrauen in meinem Glauben. Gott will mich nicht strafen, sucht nicht meine Sünden, sondern will ja, dass mein Leben gelingt, ich diese begrenzte Zeit, die ich habe, in Fülle leben kann. „Allein aus Glauben“ – das ist auch heute befreiend, weil mir klar werden kann: Nichts, was ich leiste, schaffe, wird mein Leben am Ende rechtfertigen. Es ist schon gerechtfertigt, weil Gott mich ins Leben rief. Wenn ich das im Glauben sehe, erfahre, dann macht mein Leben Sinn – allein aus Glauben.

Wir haben das hier in Wittenberg in den letzten Wochen immer wieder diskutiert. Ich will ihnen zwei Beispiele geben:

Eines war ein Gespräch mit dem Rabbiner Walter Homolka in der Themenwoche Interreligiöser Dialog. In diesem Gespräch habe ich etwas neu verstanden. Die Darstellungen, wie hier etwa auf dem Cranach-Altar, werden dem Judentum nicht gerecht. Links das Gesetz, das verdammt durch die Zehn Gebote. Rechts das Evangelium, das befreit durch den Kreuzestod Jesu Christi. Für den jüdischen Glauben sind die Gebote gerade nicht einengend oder verurteilend. Die Tora befreit die Menschen und gibt ihnen eine Richtschnur an die Hand, Gottes Willen zum Durchbruch zu verhelfen. Gottes Gebote fordern die Menschen dazu auf, nicht passiv zu sein, sondern durch Taten, durch aktives Handeln die Welt um uns herum aktiv zu verbessern. 

Wenn wir heute Israelsonntag feiern, dann ist das ein Thema. Ja, Luthers Antijudaismus haben wir intensiv diskutiert. Die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland hat sich im November 2015 von Luthers Judenschriften distanziert und 2016 ein Nein zur Judenmission als Konsequenz formuliert.

Aber ist das genug? Walter Homolka hat auf dem 36. Deutschen Evangelischen Kirchentag gefragt, ob die Erkenntnisse des jüdisch-christlichen Dialogs wirklich angekommen sind in der Universitätstheologie und in den Gemeinden. Benutzen wir nicht immer noch diese Typologien wie „Gesetz“ versus „Gnade“, um zu zeigen, warum das Judentum sich überlebt und Jesus eine neue, bessere Botschaft in die Welt gebracht hat? Hier müssen wir zu glaubwürdigen Aussagen über Jesus und die Kirche kommen, die ohne eine Herabwürdigung des Judentums auskommen!

Zweites Beispiel die Themenwoche Familie: Bei einer Diskussion zum Thema Scheidung wurde klar, wie wenig wir in den Gemeinden darüber sprechen. Die kirchliche Trauung wird zum großen Fest gemacht. Aber wo ist meine Kirche, fragte eine Frau, wenn meine Ehe in die Krise gerät, wo kann ich an einem geschützten Ort darüber sprechen? Und ein Mann fragte, warum die reformatorische Theologie zwar von Anbeginn an Scheidung ermöglicht hat, aber die Kirche damit offenbar in der Praxis nicht umgehen könne.

Eine Ehe, die über viele Jahrzehnte im gegenseitigen Austausch besteht, in der zwei Menschen stetig aneinander wachsen, ist wunderbar. Aber es gibt auch keine Rechtfertigung allein durch Weiterführung der Ehe. Der Anspruch unseres Glaubens, dass auch das Scheitern aufgehoben ist in der Gottesbeziehung, der muss sich auch in der gelebten Praxis der Gemeinden zeigen. Menschen scheitern an allen Geboten. Aber der Glaube ermutigt uns, es trotz Scheitern immer wieder zu versuchen, die Gebote zu leben, weil sie gute Gebote für das Leben in Vertrauen und Gemeinschaft sind.

Lassen Sie mich das fünf Wochen vor der Bundestagswahl am achten Gebot erläutern. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten – wäre das nicht gerade in Wahlkampfzeiten und Koalitionsgerangel gut anzuwenden? Wie heißt es in Luthers Erläuterung im Kleinen Katechismus: „Wir sollen unseren Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren.“ Ach doch, sich daran erinnern lassen tut auch vielen Menschen in der Politik gut. Muss nicht dieses Gebot der Wahrheit wieder eingeklagt werden? Wer will in einer Welt leben, in der Menschen niemandem und nichts mehr trauen können? Alles unter dem Verdacht der Lüge, der fake news – das ist keine Grundlage für Zusammenleben. Ja, wir wollen Wahrheit leben in unseren Beziehungen, in der Politik, in der Öffentlichkeit und doch scheitern wir immer wieder daran. Allein aus Glauben ermutigt uns, trotz Scheitern um die Wahrheit immer wieder zu ringen, Donald Trump hin oder her.

Und ja, der Glaube wird immer wieder angefochten sein. Wir werden Fragen stellen: Wie kann Gott das zulassen? Die Freiheit unserer Religion ist: Wir dürfen Fragen stellen, selbst an Gott! Auf diese tiefe Frage nach dem Leid in unserer Welt haben wir nur die Antwort: Gott kennt dieses Leid. Wir können nur immer wieder versuchen, Gottes Allmacht und Gottes Ohnmacht zusammen zu denken.

Ja, wir wollen glauben, wir ringen um den Glauben! Und dann geschieht ein Unglück im Familienkreis und wir fragen uns: Können wir da noch glauben? Wir sehen das Elend der Welt, einen Flugzeugabsturz, den Krieg in Syrien, die Menschen auf der Flucht und rufen: Gott, wo bist du denn? Wie können wir glauben angesichts von Leid und Trauer, von Krieg und Verzweiflung?

Die Wahrheit im Leben ist, dass nicht immer alles gut wird, dass wir alle sterben werden. Es ist hilfreich, das einzugestehen und das auszusprechen. Es kann eine Befreiung sein, das Unausweichliche nicht zu verdrängen, zu verschweigen, sondern nach Worten dafür zu suchen.

Viele Menschen verzweifeln dann an ihrem Leben. Wozu soll ich leben? Wie kann ich an Gott glauben, wenn es mir so schlecht ergeht? Oder ist alles nur Zufall: Du wirst geboren, Du lebst, Du stirbst – was ändert das angesichts von acht Milliarden Menschen auf der Welt?  Im Grunde sind wir alle mit unserem kleinen Leben doch sehr unbedeutend. Manche finden mit einem solchen Blick eine große Distanz zu Leid, Unrecht und Sterben. Sie fragen sich nicht, warum ich?, sondern: warum ich eigentlich nicht? Und finden so den Mut, mit Leid, Erschütterung und Verunsicherung im Leben umzugehen. Andere verzweifeln daran, werden depressiv, ziehen sich völlig zurück oder nehmen sich gar das Leben.

Andere, die das Leid anrührt, wissen nicht, was sie sagen sollen. Sie sind erschüttert und finden keine Worte, die angemessen Betroffenheit und Mitgefühl ausdrücken könnten. Und wenn sie trösten wollen, erscheint es manchen wie billiger Trost. Wie können wir Leid erklären? Wie können wir mit dem Schmerz anderer, mit ihrer Verzweiflung am Leben umgehen? Es gibt viel Versagen bei uns mit Blick darauf, über Leid zu sprechen. Es wird gern weggebügelt mit diesem „wird schon wieder“. Sich zusammenzusetzen, darüber zu sprechen, was es bedeutet, wenn ich meinen Arbeitsplatz verliere, wenn meine große Liebe sich abgewendet hat, kann eine Antwort sein. Vielleicht  können zwei zusammen weinen über verlorenes Glück. Das braucht Zeit und Zärtlichkeit, Mut zur Nähe, das Wagnis, Gefühlen und Emotionen Raum zu geben.

Heute brauchen wir dieses Wagnis mit Blick auf die Flüchtlinge, die zu uns, in unsere oft so gesättigte Wohlstandsgesellschaft in Westeuropa kommen. Zeit zum Zuhören, für das Willkommenheißen, für die mühsamen Wege mit den Behörden und die langen Wege zu Integration…

In ihrer Lebensangst haben früher die meisten Menschen Halt im Glauben gefunden. Heute fragen viele Menschen in unseren Breitengraden nicht mehr nach Gott. Was Menschen aber auch heute suchen, ist Sinn für ihr Leben, sie suchen nach Anerkennung und Würdigung. Psychische Erkrankungen nehmen ständig zu in unserer Gesellschaft, vor allem Depression. Sie trauen sich kaum, darüber zu sprechen. Sie selbst empfinden sich in einer dunklen Höhle, aus der sie nicht herausfinden, fast wie Luther damals in seinem Ringen um Gott. Die Gesellschaft begegnet ihnen mit einem verständnislosen „Reiß dich zusammen“ oder einem hilflosen „Wird schon wieder“. Die Angst aber, die Menschen in einer Depression erleben, können andere kaum nachvollziehen.

Aber viele kennen eine Grundangst Wir leben in einer enormen Leistungs- und Erfolgsgesellschaft. Als ich mit Studierenden im Seminar darüber gesprochen habe, wurde das Gespräch sehr schnell tiefgründig. Sie sprachen von der Angst, „es nicht zu schaffen“. Fast alle jobbten neben dem Studium, um ihren Unterhalt zu verdienen. Da war die Angst, im Studium zu langsam zu sein durch die Doppelbelastung, oder nicht die geforderten Notendurchschnitte zu schaffen. Und dann die Angst, ob nach dem Studium ein Beruf zu finden ist, mit dem sie ihren Lebensunterhalt verdienen können.

Die Freude in unseren Landen ist nicht so weit verbreitet, wie uns die Werbung weismachen will. Nicht nur in den großen Dramen des Lebens, sondern mitten im Alltag gibt es Leid, Verzweiflung und Fragen an das Leben. Aber das ist doch auch aktuell eine befreiende Nachricht: Dein Leben ist schon gerechtfertigt, hab keine Angst! Ich muss mich gar nicht als überlegen, großartig, durchsetzungsfähig beweisen – mein Leben macht schon längst Sinn. Und auch wenn ich nicht mithalten kann, weil ich zu dick bin für die Anerkennungswelten des Schönheitswahns, weil ich zu wenig verdiene, um mir angesagte Kleidung oder Clubs leisten zu können – mein Leben hat schon längst Anerkennung, weil Gott Ja sagt zu diesem Leben. Ich habe eine eigene Würde aus meinem Glauben heraus. Wer das erleben darf, spürt, glauben kann, wird auch die Tiefschläge des Lebens anders werten.

Luther schreibt: „Glaube ist eine lebendige, mutige Zuversicht auf Gottes Gnade. Diese Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fest und fröhlich gegenüber Gott und allen Kreaturen – und das bewirkt der Heilige Geist im Glauben. Es ist dann unmöglich, Glauben und Tun voneinander zu trennen – das ist so unmöglich, als wolle man Brennen und Leuchten vom Feuer trennen.“[2]

Für mich ist das hilfreich: Eine lebendige, mutige Zuversicht. Das ist doch fast schon trotzig. Nein, ich werde mich nicht unterkriegen lassen von den Ängsten und Widrigkeiten des Lebens, sondern vertraue mich Gott an. Wie bei der Angst vor dem Sprung vom Dreimeterbrett springe ich und vertraue darauf, dass Gott mich trägt, dass der Glaube stärker ist als mein Zweifel.

Und: Glaube und Tun sind nicht voneinander zu trennen. „Allein aus Glauben“, das bedeutet eben nicht, dass ich mich zurückziehe aus der Welt. Diese Rechtfertigung meines Lebens durch Gott, die ich glaube, sie ermutigt mich, ja sie verpflichtet mich geradezu, Gottes Gebote umzusetzen in dieser Welt: Den Nächsten lieben, die Schwachen schützen. Das kann eine sehr radikale Botschaft sein in unserer Zeit. Dann kann ich nämlich nicht wegschauen, wenn Menschen ertrinken im Mittelmeer, wenn Neonazis Geflüchtete angreifen, wo Islamophobie um sich greift und deutsche Rüstungsgüter in alle Welt exportiert werden.

Allein aus Glauben ist keine Rückzugsformel. Es ist eine Ermutigung zur radikalen Einmischung in die Welt. Mein Standbein steht ja fest. Jetzt habe ich die Freiheit, das Spielbein einzusetzen. Dazu gebe Gott uns Kraft, Mut und Überzeugung.  Amen.

 

[1] Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen, in: Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation. Vo der Freiheit eines Christenmenschen. Sendbrief vom Dolmetschen, hg. v. Ernst Kähler, Stuttgart 2012, S. 142ff.; S. 149.

[2][2] Zitiert nach: Schlag nach bei Luther, hg.v. Margot Käßmann, Frankfurt 2012, S. 126.