Gottesdienst am Sonntag Reminiszere

Predigt des Bevollmächtigten im Berliner Dom

 

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus…

 

Liebe Gemeinde,

 

wenn wir heute am Sonntag Reminiszere den Blick nach Indien richten, dann sehen wir dort vieles, was Menschen voneinander trennt. Diese Trennungen – oft sind es schier unüberwindlich scheinende Gräben – schränken die Lebensmöglichkeiten vieler Menschen ein. Unsere indischen Glaubensgeschwister sehen sich besonders durch religiöse Trennungen belastet. Auch wenn die indische Verfassung die Vorrangstellung bestimmter Religionen aufhebt und Religionsfreiheit garantiert, sieht doch der Alltag oft ganz anders aus: Menschen, die Christen werden, verlieren mit ihrer Taufe elementare Bürgerrechte. Und Menschen, die Christen sind, müssen damit rechnen, unerlaubter Missionstätigkeit beschuldigt und dafür vor Gericht gestellt zu werden. Sodann sind da die sozialen Grenzen, von denen wir gerade hörten, bevor das Evangelium vorgelesen wurde: Hier die Kastenangehörigen auf der Sonnenseite des Dorfes und des Lebens – mit ordentlich gepflasterter Straße, mit Schule und Tempel, ein paar Läden und sauberen Häusern mit Dachpfannen oder Zementdächern. Dort die anderen, die „Unberührbaren“, die Dalits – in Hütten aus Lehm, gedeckt mit Palmblättern oder Wellblech. Bei ihnen trocknen die Brunnen im Sommer zuerst aus, da sie nicht tief genug sind. Unter den Dalits gibt es viele Christen.

 

Aber nicht nur in Indien, auch in Deutschland gibt es vieles, was Menschen voneinander trennt und auch hier schränken die Trennungen Lebensmöglichkeiten ein. Schon vor der Pandemie wurde ein Graben zusehends tiefer; inzwischen ist gar von einer Spaltung unserer Gesellschaft die Rede. Auf der einen Seite des Grabens finden sich jene Menschen, die für eine offene und plurale Gesellschaft einstehen. Sie begrüßen die Vielfalt von Lebens- und Familienformen und heißen fremde Menschen in unserem Land willkommen. Ihnen stehen Menschen gegenüber, die solche Liberalität kritisch sehen und eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte fordern. An die Stelle von Weltoffenheit setzen sie die Nation: Deutschland zuerst!

Daneben gibt es jene Differenzen in unserer Gesellschaft, die schon lange existieren, aber durch die Covid-19–Pandemie wie unter ein Brennglas gerückt sind: Deutlicher als zuvor kam in den ersten Wochen der Pandemie eine Rivalität zwischen Jungen und Alten in den Blick. Alte Menschen sind besonders gefährdet, wenn sie an Covid-19 erkranken. Schneller als bei den meisten jungen Menschen wird es lebensgefährlich. Gewiss, es gab viel Solidarität zwischen den Generationen: Junge Menschen haben für die Alten eingekauft und überhaupt den Kontakt nicht abreißen lassen. Dennoch  kam es im ersten Lockdown angesichts der Einschränkungen für die gesamte Gesellschaft auch zu Auseinandersetzungen und Verdächtigungen: „Warum isoliert man nicht die alten Menschen, damit die jungen ihr Leben weiterleben können?“ tönte es durchs Land und in die umgekehrte Richtung: „Die junge Generation ist rücksichtslos und hat nur das eigene Vergnügen im Sinn!“

 

Mindestens ebenso tief ist ein anderer Graben, der ebenfalls jetzt sichtbarer ist als zu Beginn der Pandemie: Es war immer schon ein Skandal, dass der Bildungserfolg junger Menschen in Deutschland entscheidend vom sozialen Status des Elternhauses abhängt. Nach wie vor hat es ein Arbeiterkind und erst recht ein Migrantenkind schwer, auf eine höhere Schule oder gar eine Universität zu kommen. Corona hat eine zusätzliche Hürde aufgebaut: Eltern, die ihrem Kind keinen ungestörten häuslichen Arbeitsplatz bieten können oder die deutsche Sprache nicht gut beherrschen oder selbst weniger gebildet sind, können ihren Sohn oder ihre Tochter beim so genannten Homeschooling kaum oder gar nicht unterstützen. Die Folge: Kinder, die ohnehin Mühe hatten, in der Schule mitzukommen, sind nun abgehängt und es ist nicht erkennbar, ob und wie dieser Rückstand jemals aufgeholt werden kann. Gleichzeitig konnten Kinder aus gebildeteren und finanzkräftigeren Familien mehr oder weniger mühelos Schritt halten. Die Gräben sind tiefer geworden. Was mag das langfristig für unsere Gesellschaft bedeuten?

 

Alle diese Trennungen behindern das Leben von Menschen. Jeder dieser Gräben schränkt Lebensmöglichkeiten ein. Wie können die Trennungen überwunden und die Gräben zugeschüttet oder wenigstens überbrückt werden?

 

Auch die Geschichte von Jesus und der Samaritanerin, die Lieblingsgeschichte vieler Christen in Indien, erzählt von dem, was Menschen trennt. Vor allem aber erzählt sie davon, wie Jesus während seiner Rast am Jakobsbrunnen nahe der Stadt Sychar in Samarien vorhandene Trennungen überwindet. Damit gibt sie uns Hinweise, wie wir mit den Gräben umgehen können, die sich quer durch unsere Gesellschaft ziehen.

 

Jesus wandert durch Samarien und rastet an einem Brunnen. Hier kommt es zu einer folgenreichen Begegnung: In der größten Mittagshitze nähert sich eine Samaritanerin und Jesus spricht sie an: „Gib mir zu trinken!“

 

Was so alltäglich und fast banal wirkt, ist nicht weniger als ein Tabubruch. Zwischen den beiden Menschen verläuft nämlich ein tiefer Graben. Genau genommen sind es sogar zwei Gräben. Da ist zum einen die Rivalität zwischen dem jüdischen Mann und der samaritanischen Frau. Sie hat mit Glaubensunterschieden zwischen Samaritanern und Juden zu tun und dazu geführt, dass Angehörige der beiden Gruppen keine Gemeinschaft miteinander haben. Äußerlich sichtbar ist das daran, dass sie nicht dieselben Gefäße zum Schöpfen und Trinken benutzen dürfen - ähnlich wie das in Indien zwischen bestimmten sozialen Gruppen bis heute der Fall ist. Und dann gibt es da einen weiteren Graben, der – das zeigt der weitere Verlauf der Geschichte – mit dem Lebenswandel der Frau zu tun hat. In ihrem Dorf scheint sie isoliert zu sein. Eigentlich geht man ja gemeinsam zum Brunnen, wenn es noch nicht oder nicht mehr so heiß ist. Dann wird Wasser geschöpft und es werden Neuigkeiten ausgetauscht. Diese Frau aber kommt allein in der größten Mittagshitze und erschrickt vermutlich, als sie den fremden Mann am Brunnen sitzen sieht.

 

Gräben werden nicht mal eben so im Vorübergehen zugeschüttet oder überbrückt. Gräben zu beseitigen, ist anstrengend, besonders wenn - wie hier und wie so oft - das Mittel dazu das Gespräch ist. Jesus begibt sich in einen anstrengenden Dialog mit der Samaritanerin. Immer wieder versteht sie ihn falsch, ist irritiert, muss nachfragen. Immer wieder muss Jesus einen neuen Anlauf nehmen, bis sie sich endlich auf ihn einlässt und bittet: „Herr, gib mir dieses Wasser, damit mich nicht dürstet…“ Das Gespräch ist anstrengend und verlangt beiden Seiten viel ab. Aber es zeigt sich, dass im Gespräch Trennungen überwunden werden können. Der Dialog ist ein besonders wirksames Mittel, um Gräben zuzuschütten oder zu überbrücken.

 

Allerdings ist es nicht allein die Anstrengung, die Trennungen überwindet. Damit das geschieht, muss ein bestimmter Geist die Verständigungsbemühungen erfüllen. Jesus beschreibt diesen Geist im Bild des Wassers: „Wer … von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten, sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, das wird in ihm eine Quelle des Wassers werden, das in das ewige Leben quillt.“ Die neue BasisBibel übersetzt – wie ich finde auf gelungene Weise - so: „Das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden: Ihr Wasser fließt und fließt – bis ins ewige Leben.“ So also wirkt der Geist Jesu: Wie das lebensnotwendige Wasser belebt er die Menschen. Und wie Wasser noch in die kleinsten Fugen und schmalsten Ritzen dringt, so macht der Heilige Geist alle, die um ihn bitten, durch und durch lebendig. In diesem Geist können lebensfeindliche Gräben überwunden werden.

 

„Herr, gib mir dieses Wasser, damit mich nicht dürstet…“ bittet die Samaritanerin. Vielleicht hat auch Bartholomäus Ziegenbalg so oder so ähnlich um Gottes Geist gebetet, als er im Jahr 1706 nach Indien geschickt wurde. Jedenfalls war er als Missionar erkennbar darauf aus, die Trennungen, die die in Indien schon ansässigen Europäer zwischen sich und der einheimischen Bevölkerung etabliert hatten, zu überwinden. Für die Europäer war es irritierend und ärgerlich, dass Ziegenbalg sich seine Unterkunft nicht bei ihnen, sondern bei den Menschen suchte, die schon lange vor ihnen im Land lebten. Für sie dürfte die Quartierwahl ein wichtiges Zeichen des Verständigungswillens gewesen sein.

 

Im Geist Gottes Trennungen zu überwinden und Gräben zuzuschütten – das ist bis zum heutigen Tag das besondere Kennzeichen unserer indischen Glaubensgeschwister. Gerade jetzt in der Covid-19-Pandemie zeigen sie das auf eindrucksvolle Weise durch ihre Diakonie: Die Kirchen in Indien stellen über 1000 Krankenhäuser mit 60.000 Betten zur Verfügung und beteiligen sich an der Identifizierung von Erkrankten und bei der Überwachung der Ansteckung. Außerdem unterstützen sie Hungernde und Bedürftige, verteilen Pakete mit Grundnahrungsmitteln und errichten Gemeinschaftsküchen. Für den Geist Gottes, in dem unsere Geschwister leben und arbeiten, spielt dabei nur eine Rolle, dass, wer  in den Krankenhausbetten liegt oder sich in einer Supenküche satt isst, Hilfe braucht. Ob es sich dabei um Hindus oder Muslime handelt, ist unerheblich. So werden Trennungen überwunden und Gräben überbrückt.

 

Die Geschichte von Jesus und der Samaritanerin endet mit dem Versprechen Jesu: „Das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden: Ihr Wasser fließt und fließt – bis ins ewige Leben.“ Der Geist Gottes fließt und fließt – vom Brunnen nahe der Stadt Sychar in Samarien über Indien, wo einst Bartholomäus Ziegenbalg wirkte und unsere Glaubensgeschwister seitdem in seinem Sinn unterwegs sind, bis hin zu uns. Welche lebensfeindlichen Grenzen werden wir in diesem Geist überwinden?

 

Wird es gelingen, im Geist Jesu den Graben zuzuschütten zwischen jenen, die eine plurale, weltoffene Gesellschaft wollen und jenen, die auf Abschottung und traditionelle Werte setzen? Werden sie es schaffen, einander zu verstehen und einander zu akzeptieren? Die Gespräche über den Graben hinweg sind schwierig und anstrengend. Auf keinen Fall akzeptabel sind Fremdenhass und Rassismus. Die dürfen nicht hingenommen, sondern müssen bekämpft werden. Und trotzdem wird im Geist Jesu die Suche nach Verständigung nicht aufhören dürfen.

 

Sodann: Wird es gelingen, dass die alte und die junge Generation im Geist Jesu Verständnis füreinander entwickeln? Werden die Jungen begreifen, dass den Alten die Lebenszeit knapp wird und werden die Alten verstehen, dass die Jungen sich entwickeln müssen und dazu Freiraum brauchen? Auch dazu müssen wir im Gespräch bleiben.

 

Und schließlich: Wird es gelingen, im Geist Jesu Bildungsgerechtigkeit herzustellen? Wann werden Achmed und Aische endlich die gleichen Chancen haben, Lehrer oder Ärztin zu werden wie Lukas und Lena? Hier ist politisch noch viel zu tun.

 

„Ihr Wasser fließt und fließt – bis ins ewige Leben.“ Möge Gottes Geist uns nicht ruhen lassen, sondern erfinderisch machen angesichts aller Trennungen und Gräben, die das Leben so vieler Menschen behindern. Wir hoffen darauf, dass wir, erfüllt von Gottes Geist, schon jetzt Gräben zwischen Menschen überwinden können und dass der Tag kommt, da solche Trennungen für immer überwunden sein werden.

 

Und der Friede Gottes…

 

 

 

Predigt zu Johannes 4, 5-15