Predigt Rundfunkgottesdienst, Bremen

Margot Käßmann

Liebe Gemeinde,

als ich den Predigttext über den einen Leib und die vielen Glieder gelesen habe, dachte ich: Lässt sich das eigentlich heute noch vermitteln? Kann das ein Bild sein, mit dem wir heute unsere Kirche, eine Gemeinde oder vielleicht unser Gemeinwesen beschreiben oder klingt das nicht arg altertümlich?

Und dann sprang meine Assoziationskette direkt vom Apostel Paulus zu meinen Zehen. Letztes Jahr bin ich nämlich von einer Reise nach Hause gekommen, wollte mit einer Hand den Briefkasten öffnen, in der anderen hatte ich den Koffer. Ich bin auf der Treppenstufe ab- gerutscht, habe mir den Koffer auf den Fuß gerammt und zwei Zehen gebrochen. Schmerz- haft und vor allem unnötig und dadurch besonders ärgerlich!

Aber wir wissen ja: Die meisten Unfälle passieren zu Hause. Diese ärgerliche Kleinigkeit hat mich fast drei Monate begleitet! Ich musste einen Vortrag in London absagen, weil ich mich die ersten Tage kaum bewegen konnte. Meine Wohnung liegt im fünften Stock, und ich habe bei mir jeden Termin dreimal überlegt, ob er notwendig ist.

Das kennt jeder Mensch: Nur eine Kleinigkeit und schon ist alles in Mitleidenschaft gezogen. Besonders Menschen, die gewohnt sind, gesund und agil zu sein, merken auf einmal, wie schnell es ganz anders aussehen kann im Leben, wie eine kleine Störung alles beeinträch- tigt. Und deshalb ist das Bild, das der Apostel Paulus in seinem Brief an die Gemeinde ent- wirft, auch 2000 Jahr später noch verständlich.

Paulus entwirft dieses Bild zuallererst um die christliche Gemeinde. Einer ist auf den anderen angewiesen, jede soll ihre Gaben für das Gemeinwohl einbringen. Da geht es nicht um Egomanie, um Raffen und Habgier, sondern um das, was wir schlicht als Solidarität bezeich- nen.

Das Gemeinwohl ist immer der Maßstab für christliches Leben. Ja, von der ersten Gemeinde wird sogar von einer Art Urkommunismus gesprochen, ein Idealbild versuchen sie zu leben, bei dem alle Güter geteilt werden. Wie so viele solcher Projekte, die es auch in späteren Jahrhunderten gab, scheitert auch diese erste Gemeinde, von der die Apostelgeschichte erzählt, als ein Paar, Hanaias und Saphira, eben doch versucht, etwas für sich individuell an die Seite zu legen.

Nun rümpfen die ersten die Nase und sagen: Klar, die Sache mit dem Kommunismus hat immer nur in der Theorie funktioniert. Und gerade in Deutschland wissen wir, dass real exis- tierender Sozialismus nicht wirklich ein Erfolgsmodell ist, das den Menschen gerecht wird.

Aber der christliche Anspruch bleibt, in Solidarität und Achtsamkeit füreinander zu leben! Das bedeutet nicht Gleichmacherei, allen dasselbe.

Sondern der christliche Gedanke geht davon aus, dass jeder Mensch eine Gabe hat, die ihm oder ihr geschenkt ist, und diese Gabe in die Gemeinschaft einbringt. Paulus beschreibt das ja sehr sensibel:

Hat jemand ein Amt, so versehe er dies Amt. Ist jemand Lehrer, so lehre er. Hat jemand die Gabe, zu ermahnen und zu trösten, so ermahne und tröste er. Wer gibt, gebe mit lauterem Sinn. Wer leitet, tue es mit Eifer. Wer Barmherzigkeit übt, tue es mit Freude. (12,7.8)

Ja, Engagement soll dabei sein und sogar Freude bei dem, was wir tun! Das allerdings muss manchen Protestanten in Sachen Arbeit immer mal wieder gesagt werden..

Jedes Mitglied der Gemeinde versucht, die eigenen Gaben für das Gemeinwohl einzubrin- gen, darum geht es dem Apostel Paulus. Und genau das hat auch die Reformation wieder deutlich gemacht.

Im Mittelalter wurde das Leben in der Welt als sündig angesehen, Familienleben mit Sexuali- tät und Kindererziehung, das Arbeiten im Handwerk und auf dem Feld, alles war Leben, das ständig Sünde mit sich brachte in Worten, Werken und Gedanken. Nur ein Leben im Kloster, im Zölibat, also ohne Sexualität, konnte gutes Leben vor Gott sein.

Sünde aber zog, so wurde gelehrt, furchtbare Qualen im Fegefeuer und später in der Hölle nach sich. Das wurde den Menschen beispielsweise vom Ablasshändler Tetzel in gruseligen Details geschildert: Fingernägel ausreißen, Brennen bei lebendigem Leibe und andere Fol- terszenen.

So zahlten die Menschen Ablass für sich selbst, ihre Liebsten, gar für Verstorbene, um dem zu entgehen.

Martin Luther fand dafür keinerlei Begründung in der Bibel. „Der Gerechte wird aus Glauben leben“, liest er dort und empfindet das als Befreiung. Er ist davon überzeugt, dass gottgefäl- liges Leben nicht im Abseits, im Kloster, im Zölibat stattfindet, sondern mitten im Alltag der Welt. Er sieht keinen Sinn im klösterlichen Leben und plädiert deshalb für die Auflösung der Klöster. Deshalb rät er auch zur Heirat und heiratet schließlich selbst.

Ein theologisches Signal soll das sein: Das Leben im Alltag der Welt mit Sexualität, Familie, Kindererziehen und Arbeit ist das gute Leben vor Gott, das wir verantworten sollen. Nicht der Rückzug aus der „bösen Welt“ ist angesagt, sondern ein Gestalten der Welt mit den Gaben, die wir haben.

Dabei ist Arbeit für Luther niemals einfach ein „Job, den ich mache“, sondern mein Beruf, meine Berufung. Und gewertet wird diese Arbeit nicht nach Ansehen. Die Magd, die den Be- sen schwingt, sie ist für Luther genauso viel wert wie der Fürst, der das Land regiert, weil ein Gemeinwesen ja beides braucht.

Und in einer christlichen Gemeinde werden selbstverständlich die Starken auch für die Schwachen einstehen. So ändert sich mit der Reformation die Haltung gegenüber den Ar- men. Gaben die Reichen bisher Almosen, um durch ein gutes Werk sich selbst ein bisschen

Sündenvergebung zu erwirtschaften, so entsteht jetzt das so genannte Kastenwesen, schon 1523 die erste Kastenordnung in Leisnig. Darin wird Subsidiarität, also der Grundsatz in un- serem Land heute, dass wer sich selbst versorgen kann, das tun sollte, geregelt und ebenso die Notwendigkeit von Solidarität. Wer sich selbst nicht versorgen kann, hat in der Gemeinde einen Anspruch auf Unterstützung. Vermögen der Gemeinde, Spenden von reicheren Ge- meindemitgliedern und andere Zuwendungen, beispielsweise aus der Auflösung von Klös- tern, kommen in den „Kasten“, also buchstäblich in eine Kiste. Verwaltet wird er von zehn Vorstehern, die demokratisch gewählt werden und jeden Sonntag über Ausgaben und Ein- nahmen Buch führen müssen. Armenfürsorge, Fürsorge für Fremde sowie Unterhalt der Pfarrer und Lehrer werden so gewährleistet. Sollte das Geld nicht reichen, sind alle Gemein- demitglieder gehalten, nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten zu spenden. In der Konsequenz bedeutet das, und ich zitiere aus der Leisniger Kastenordnung: In der Ordnung heißt es: „Im Kirchspiel wird das Betteln verboten. Die aber aus Zufällen bei uns verarmen oder aus Krankheit und Alter nicht arbeiten können, sollen aus dem gemeinen Kasten versorgt wer- den.“

Das entspricht, denke ich, sehr gut der Vorstellung des Apostels Paulus von dem einen Leib, in dem alle Glieder aufeinander angewiesen sind und füreinander Sorge tragen.

Was hat das alles nun mit uns heute zu tun, zumal am „Tag der Arbeit“? Ich denke, der Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom vor 2000 Jahren passt in der Tat ganz gut zum Motto des Deutschen Gewerkschaftsbundes für diesen Tag der Arbeit 2017: „Wir sind viele – wir sind eins“. Da lassen sich ja fast schon biblische Anleihen vermuten.

Jeder Mensch in diesem Leib hat eine Gabe, eine Aufgabe, und dabei ist der kleine Zeh ge- nauso wichtig wie die breite Schulter.

In unserer Leistungs- und Erfolgsgesellschaft aber wird Arbeit massiv unterschiedlich gewer- tet. Wenn der EX VW Chef Winterkorn in einem Jahr ein Gehalt von 17,5 Millionen Euro er- hielt, bedeutet das auf 365 Tage mit 24 Stunden Arbeit, also ohne Schlaf, Essen, Urlaub ge- rechnet, einen Lohn von 2000 Euro – pro Stunde wohlgemerkt. Eine Erzieherin in einer Kita aber erhält 2500 Euro Gehalt – im Monat wohlgemerkt.

Wer sich das vor Augen hält, begreift doch sofort: Da ist etwas extrem faul im Lande! Ganz offensichtlich wird die qualifizierte Betreuung von Kindern extrem viel weniger wertgeschätzt als das Leiten eines Konzerns. Wo aber bleibt der Aufschrei des Gemeinwesens? Uns muss doch allen klar sein, dass ein gute Betreuung, Erziehung, Förderung und Bildung von Kin- dern in unserem Land mindestens – mindestens! – genauso wichtig ist, wie die Leitung eines Unternehmens, das Autos produziert. Ganz abgesehen davon, dass diese Autos auch noch manipuliert wurden, und mit ihren erhöhten Abgaswerten unser Gemeinwohl gefährden.

Anderes Beispiel: Einem IT Consultant – ich habe eigens nachgeschaut – wird in Bremen eine Stelle mit einem Einstiegsgehalt von 4292 Euro im Monat angeboten. Einem Kranken- pfleger in Bremen aber wird eine Stelle mit einem Einstiegsgehalt von 2025 Euro angeboten. Das zeigt ebenfalls die Wertigkeit im Land1, und dabei habe ich noch zwei Männer miteinander verglichen. Dass Frauen in unserem Land im Schnitt immer noch weniger verdienen, ist ein zusätzliches Thema. Wie kann es sein, dass das so selten Thema ist, selbst in einem Bundestagswahljahr? Wir alle wollen, wenn wir pflegebedürftig sind, gut versorgt sein. Des- halb müsste die Wertschätzung von Erziehungs- und Pflegearbeit völlig anders aufgestellt sein mit Blick auf öffentliche Anerkennung wie in der Frage des Gehalts.

Dazu kommt die psychische Belastung. Immer mehr Menschen können nicht mehr standhal- ten. Sie sind nicht so belastbar, wie es erwartet wird. Sie brennen aus, ihnen fehlt die Kraft, sie können nicht mehr. Geschweige denn können sie bis 67 erwerbstätig sein. Wer aber nicht mithalten kann, wird schnell an den Rand gedrängt.

Das gilt besonders für die Alten. Uns werden Bilder vorgegaukelt, als könnten alle ihren Le- bensabend mit Champagnerglas in der Hand bei Sonnenuntergang auf der AIDA genießen. Die Wahrheit ist, dass Altersarmut um sich greift. Im Einzelhandel werden beispielsweise nur noch 30 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt. Gerade in diesem Bereich aber arbei- ten besonders viele Frauen, für die Altersarmut somit vorprogrammiert ist. Und die ist schon heute Realität. In Westdeutschland haben Frauen im Schnitt 562 Euro Altersrente2.

Nun werden manche fragen: Was hat das mit einer Predigt zu tun? Da soll es doch bitte nicht um Politik gehen, sondern um die Bibel! Die evangelische Kirche mischt sich wie immer viel zu sehr in soziale Fragen ein.

Aber die Bibel bewegt sich in ihren Erzählungen vom Glauben der Menschen an Gott genau- so wenig im Abseits des Lebens wie das Leben der Christinnen und Christen sich nicht im Abseits von der Welt bewegt. Im Gottesdienst hier in Bremen heute Morgen stärken wir un- seren Glauben.

Wir stimmen ein in das Lob Gottes gemeinsam mit Menschen auf allen Kontinenten dieser Erde. Wir beten miteinander und füreinander. Wir hören das Wort Gottes aus der Bibel und bringen es in einen Zusammenhang mit unserem Kontext, unserem Leben. Und dann gehen wir aus der Kirchentür hinaus in den Alltag der Welt. Dort bewährt sich unser Glaube!

Am Predigttext heute können wir das sehr schön sehen. Im Grunde geht es eben seit 2000 Jahren um ein und dasselbe Thema: Egomanie oder Gemeinsinn, Habgier oder Solidarität, Gewalt oder Frieden. Gerechtigkeit, das wissen wir doch ganz klar, ist nicht eine Frage der Verteilung: Allen dasselbe.

Als Christinnen und Christen sagen wir, Gerechtigkeit ist Teil unserer Beziehung zu Gott und sie ist eben auch Gradmesser unserer Beziehung untereinander.

Deshalb treten unsere Kirchen ein für Gerechtigkeit, für ein Einstehen der Starken für die Schwachen, wie es schon im Kastenwesen begonnen hat. Deshalb engagieren wir uns in der Diakonie für die Teilhabe von Menschen, die nicht mithalten können in der Erfolgsgesell- schaft. Deshalb plädieren wir für einen fairen Ausgleich der Kräfte und Anerkennung gerade der Erziehungs- und Pflegeberufe in der Arbeitswelt. Deshalb sagen wir immer wieder: Der Mensch erhält seinen Wert nicht durch das, was er leistet, sondern Gott sagt dem Menschen seinen Lebenswert zu, lange bevor er etwas leisten kann.

Übrigens: Auf den Vergleich mit den Zehen ist schon Martin Luther gekommen! Er schreibt 1519 im Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Bruderschaften:

„Wie in einer Stadt allen Bürgern der Name dieser Stadt gemeinsam ist, ihre Ehre, Freiheit, Handel, Gebräuche, Sitten, Hilfe, Beistand, Schutz und dergleichen, so auch umgekehrt alle Gefahr, Feuer, Wasser, Feinde, Sterben, Schäden, Tribute und dergleichen.

Denn wer mitgenießen will, der muß auch mitbezahlen und Liebe mit Liebe entgelten. Hier sieht man, daß, wer einem Bürger ein Leid antut, der tut der ganzen Stadt und allen Bürgern Leid an; wer einem wohltut, verdient von allen anderen Freundlichkeit und Dank. So ist es auch im leiblichen Körper, wie St. Paulus sagt 1. Kor. 12,25 f., wo er dieses Sakrament geist- lich erklärt: Die Glieder sorgen füreinander, wo eines leidet, da leiden die andern alle mit, wo es einem wohlgeht, da freuen sich mit ihm die ändern. So sehen wir: Tut jemandem der Fuß weh, ja das kleinste Zehlein, so sieht das Auge danach, greifen die Finger dahin, rümpft sich das Angesicht, und der ganze Körper beugt sich dahin, und alle haben zu tun mit dem klei- nen Gliedmaßchen. Und umgekehrt: Sorgt man gut für sich selbst, so tut es allen Gliedma- ßen wohl.“

Da können wir im Reformationsjubiläumsjahr 2017 nur sagen: Martin Luther, du hattest zwar nicht in allem Recht, aber da stimmen wir dir voll zu. So war es in Zeiten des Paulus, in re- formatorischer Zeit und so ist es noch heute: Wo ein Mitglied der Gemeinschaft leidet, da leiden alle mit.  Und die Antwort auf diese Herausforderung, sie lautet ebenso bis heute.

Deshalb werden alle Mitglieder dafür Sorge tragen, dass das Leid der anderen uns alle an- geht.

Gebe Gott uns dazu Kraft und Segen. Amen.


1 Alle Zahlen: www.gehaltsvergleich.com
2 Stefanie Nutzenberger, Frauen und Rente, in: Vorwärts, 7.11.2016