Predigt in der Hauptkirche St. Jacobi, Hamburg, 30.04.2017

Margot Käßmann

Predigt Hauptkirche St. Jacobi,

Hamburg, 30.04.2017

„Hulda – Haltung und Verantwortung“

Liebe Gemeinde,

500 Jahre Reformation! Da geht es um Martin Luther, Ulrich Zwingli, Johannes Bugenhagen, Thomas Müntzer, Johannes Calvin, Martin Bucer und so weiter. Aber wer kennt Katharina Zell, Argula von Grumbach, Elisabeth von Rochlitz, Wibrandis Rosenblatt, Elisabeth von Calenberg? Allenfalls Katharina von Bora ist bekannt. Das ist sehr typisch für die Kirchenge- schichte in Vergangenheit und Gegenwart. Und so ist es gut, dass Ihre Ausstellung das Le- ben von Frauen zeigt, die hier in der Nordkirche Reformationsgeschichte geschrieben haben.

Aber ist das nicht auch schon in der Bibel so? Wenn Sie an Propheten denken, wer kommt Ihnen in den Sinn? Jesaja und Jeremia wahrscheinlich, vielleicht noch Amos, Micha und Sacharja oder Ezechiel, den Konfirmanden so gern Hesekiel aussprechen. Außer dem Buch Ruth gibt es nur zwei weitere Frauen, nach denen ein biblisches Buch benannt ist. Sie befin- den sich in den so genannten Apokryphen der Lutherbibel, dem Teil also, der nicht in den Kanon aufgenommen wurde: Judit und Ester. Als Prophetinnen werden Mirjam, Hanna, De- bora und Noadja erwähnt und eben Hulda, die heute im Predigttext erwähnt wird, den wir eben gehört haben. Ist Ihnen dieser Name bekannt? Offen gestanden, wäre ich nicht auf Hulda gekommen, wäre ich nach Prophetinnen gefragt worden.

Schauen wir uns zunächst die Geschichte an, um dann über Prophetie und Frauen als Pro- phetinnen nachzudenken.

1. Hulda

Die Geschichte, die erzählt wird, spielt zur Zeit des Königs Josia. Er regierte bis 608 vor Christus in Juda. In dieser Zeit wird im Tempel ein Gesetzbuch gefunden. Es handelt sich in Teilen um den Text, den wir als fünftes Buch Mose in unserer Bibel kennen. Josia liest das Buch und erschrickt zutiefst. Er begreift, dass er und sein Volk dem Gesetz Gottes nicht ge- horcht haben, vor allem, weil auch assyrische Gottheiten angebetet wurden. Zudem wurde Unrecht begangen - wer soll dafür die Verantwortung übernehmen.

Um das zu erkunden, entsendet der König eine Delegation zu der Prophetin Hulda. Sie wird gebeten, Gott zu befragen. Im Text wird geschildert, dass Hulda mit einem hohen Staatsbe- amten verheiratet ist, also offenbar in gutsituierten Verhältnissen lebt. Indem der König sich im Land direkt an sie wendet, zeigt sich, dass sie offenbar selbstverständliche Autorität be- saß. Ihre Aufgabe war es, den Willen Gottes zu erkunden.

Die Prophetin sagt nun nicht, was das Volk verändern muss, um das Unheil abzuwenden, sondern sie sagt die Katastrophe der Zerstörung Jerusalems schlicht als unabwendbar vor- her. Dem König sagt sie insofern Heil zu, als er diese Zerstörung nicht mehr wird erleben müssen, weil er beim Lesen des Gesetzbuches sofort Reue gezeigt hat. Ob das nun wirklich eine Heilszusage ist, da bin ich mir offen gestanden nicht so sicher.

In jedem Fall wird Josia nach der Weissagung der Prophetin alles tun, um dem ersten Gebot, keine anderen Götter neben Jahwe zu verehren, nachzukommen. Er lässt Altäre anderer Kulte zerstören und tut alles, die Gebote des Mose umzusetzen. Jerusalem wird zum zent- ralen Heiligtum für den Kultus. So wird im Buch der Könige Josia als großartiger König ge- lobt. Dort ist zu lesen: „Seinesgleichen war vor ihm kein König gewesen, der so von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften sich zum Herrn bekehrte“ (2. Kö 23,25). Die Zerstörung kann er jedoch nicht verhindern, wie es weiter heißt, denn: „Doch kehrte sich der Herr nicht ab von dem Grimm seines großen Zorns, mit dem er über Juda erzürnt war.“ (23,26). Das Unheil bleibt also unabwendbar, trotz aller Bemühungen Josias.

Exegeten sehen diese Geschichte als Erklärung dafür an, warum Jerusalem nach dem Tod Josias 587 vor Christus von Babylon erobert wurde. Im Rückblick wird der Grund für die Zer- störung im Fehlverhalten des Volkes gesehen. Die Prophetin stimmte Gott nicht um. Es wird nicht einmal erzählt, ob sie das wollte. Sie sagt schlicht und ergreifend das Unheil voraus.

 

2. Prophetinnenamt

Was aber ist überhaupt ein Prophet oder eine Prophetin? Der Begriff stammt aus dem Grie- chischen. Pro bedeutet für oder an Stelle einer anderen Person, phemi bedeutet so viel wie sprechen, öffentlich bekannt machen. Prophetin ist also jemand, die anstelle eines anderen Menschen spricht. Mit „prophetes“ wird das hebräische Wort „nabi“ übersetzt, das als Verb rufen bedeutet. Prophetin in diesem Sinne ist also entweder eine von Gott oder der Geist- kraft gerufene Person oder eine, die ruft, zu Umkehr, zur Erneuerung. Es geht also um Men- schen, die an der Stelle Gottes aussprechen, was Gott sagen will.

In der Bibel wird immer wieder deutlich, dass niemand sich selbst zum Propheten macht. Zwar gab es offenbar Prophetenschulen, doch meist wird ein Mensch Prophet oder eben Prophetin durch eine Berufung Gottes. Es gibt mehrere Erzählungen, in denen Menschen sich gegen eine solche Berufung wehren, weil ihnen bewusst ist: Das ist kein leichtes Amt! Wer unbeliebte Wahrheiten sagt, muss mit Auseinandersetzung, Ablehnung, ja sogar Verfol- gung rechnen.

Gibt es vielleicht so wenige Frauen in diesem Amt, weil sie solchen Anfeindungen lieber aus dem Weg gehen? Wer in diesen Tagen sieht, dass gerade am rechten politischen Rand Frauen gegen jede Anfeindung geradezu stur ihre rechtspopulistische Meinung kundtun wie

Frauke Petry, Alice Weidel oder Marine le Pen sieht gerade nicht eingeschüchterte ängstli- che Gestalten. Von ihrem Gestus her ließe sich fast schließen, dass sie sich selbst für Pro- phetinnen halten. Aber sie sind es gerade nicht, gerade weil sie selbst ernannt sind. Und weil Prophetinnen nicht ihre politische Meinung verkünden, sondern vom Willen Gottes sprechen.

Wenn wir Prophetie in der Bibel anschauen, dann geht es immer um eine Mahnung, zum rechten Glauben zurückzukehren, für die Armen, für Witwen und Waisen und Fremde Sorge zu tragen. Frieden und Gerechtigkeit werden von Prophetinnen und Propheten angemahnt und eben gerade nicht Unrecht, Rassismus, gar Hass und Gewalt. Es gibt in der Bibel klare Warnungen vor selbst ernannten falschen Prophetinnen und Propheten!

Echte Prophetinnen lassen sich schlicht auch am Inhalt messen. Es geht ihnen um das Wort Gottes. Und das ist immer ganz klar eine vorrangige Option für die Armen, wie es die latein- amerikanische Befreiungstheologie ausgedrückt hat. Das sind die Menschen am Rande, die keine eigene Stimme haben, nicht gehört werden, unterdrückt und vernachlässigt sind. Wenn deshalb auf der ganzen Welt Pfarrerinnen und Pfarrer zum Frieden mahnen, sich für Verfolg- te und Geflüchtete einsetzen, nehmen sie ein prophetisches Amt wahr. Wenn Politiker ihnen das Recht absprechen, so zu reden, erklären sie gern, die Kirche sollte sich um das Eigentli- che kümmern. Wieso aber meint ein Politiker, zu wissen, was das Eigentliche ist. Der Glaube an Gott ist für uns entscheidend. Und der Gott, an den wir glauben, ruft nach Gerechtigkeit und Frieden, immer und immer wieder. Die Armen sollen im Mittelpunkt stehen, nicht die Habgier und die Egomanie. Schwerter sollen zu Pflugscharen werden, und nicht neue Waf- fen produziert werden, das ist Prophetie. Ja, das ist auch politisch, auch in unseren Tagen.

Nicht parteipolitisch, aber politisch in dem Sinne, dass es immer um die Polis, das Gemein- wesen, um unser Zusammenleben in unserer Kirche, in unserem Land, ja in unserer Welt geht. Wenn die AfD aufruft, aus der Kirche auszutreten, weil unsere Gemeinden sich für Ge- flüchtete einsetzen, weil unsere Kirchen öffentlich mit Wort und Tat für Menschen eintreten, die in unserem Land Schutz und Halt suchen, zeigt das, dass die Wortgewaltigen jener Par- tei die Bibel nicht gelesen haben. Dort steht: „Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken.“ (3. Mose 19,33). Und Jesus sagt: „Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.“ (Mt. 25, 35).

 

3. Haltung und Verantwortung

Haltung und Verantwortung für das Gemeinwesen, für Recht, Gerechtigkeit und Frieden prä- gen also echte Prophetie. Dazu ein Blick, der über das Vorfindliche hinausgeht und Zukünfti- ges erkennt.

Viele der Frauen aus dem Bereich der Nordkirche, die Sie in Ihrer Ausstellung zusammenge- tragen haben, spiegeln etwas Prophetisches, finde ich. Fast alle Frauen waren mir unbe- kannt, bevor ich den Beitrag gelesen habe. Wie kann das sein, dass schon in der Bibel, aber auch in der Kirchengeschichte bis heute die Lebensleistungen und Geschichten der Frauen so leicht in Vergessenheit geraten? Weil sie unwichtiger erscheinen? Weil wir keine schriftli- chen Zeugnisse haben? Oder weil Geschichte stets von den Mächtigen geschrieben wird und Frauen nur sehr selten in Machtpositionen sind?

Wer ist für Sie zur Prophetin geworden in Ihrem Leben? Welchen Namen wollen Sie erinnert wissen? Als ich bei der Predigtvorbereitung darüber nachgedacht habe, fielen mir drei Frau- en ein, die mir imponiert und mich beeinflusst haben, weil sie mutig Haltung bewiesen und Verantwortung für das Gemeinwohl übernommen haben.

Die erste ist Antje Vollmer. Ihre Geschichte hat mich als Vikarin beeindruckt. Sie hatte 15 Jahre vor mir ihr Theologiestudium begonnen und auch abgeschlossen. Der Landeskirchen- rat wollte ihr die nach schon bestandenem zweiten Examen und vollzogenem Vikariat erteil- ten Ordinationsrechte wieder aberkennen, weil sie schwanger wurde, ohne verheiratet zu sein. Sie hat damals gesagt: „Ich bin sicher, dass Sie so etwas schon in 20 Jahren gegen- über einer Theologin nicht mehr wagen würden. Es ist nämlich nicht im Sinne Jesu." So hat sie den kirchlichen Dienst verlassen und ist Politikerin geworden. Aber sie hat langfristig Recht behalten, Gott sei Dank. Das war prophetisch, denke ich.

Die zweite, die ich nennen will, ist Dorothee Sölle, die auch in Ihrer Ausstellung vorkommt. 1983 war ich Jugenddelegierte bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kir- chen in Vancouver. Dorothee Sölle war eine der Hauptrednerinnen. In der EKD war das auf große Ablehnung gestoßen, entsprechend kühl war die Stimmung in der Delegation, als Dorothee zu sprechen begann. Ihr erster Satz lautete: „Ich spreche zu Ihnen als eine Frau, die aus einem der reichsten Länder der Welt kommt; einem Land mit einer blutigen, nach Gas stinkenden Geschichte. Reich ist die Welt, in der ich lebe, vor allem an Tod und bes- seren Möglichkeiten zu töten.“ Die Empörung in der EKD-Delegation war riesig, einige über- legten, den Raum zu verlassen. Ich war 25 Jahre alt und habe diesen enormen Mut bewun- dert. Sie sprach über unser Land mit einem ganz eigenen, prophetischen Blick.

Und als dritte will ich Bertha von Suttner nennen. Ich habe sie nicht persönlich kennen ge- lernt, aber in Gotha, wo sie beerdigt ist, die Festrede aus Anlass ihres 100. Todestages ge- halten. Bertha starb kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges; wie König Josia musste sie das Unheil nicht mehr erleben, das sie kommen sah Sie war eine Frau mit einem komplizier- ten Leben, oft angefochten. Das begann schon damit, dass ihr Vater 75jährig kurz vor ihrer Geburt starb1 und Bertha als „‘Bastard‘ der Familie Kinsky“2 galt. Ihr bekanntestes Werk ist eine zweibändige fiktive Autobiografie einer Adligen unter dem Titel „Die Waffen nieder“.

Drastisch beschreibt sie die Realität des so genannten Heldentodes: „Wenn einer nach ver- lorener Schlacht mit zerschmetterten Gliedern auf dem Felde liegen bleibt und da ungefun- den durch vier oder fünf Tage und Nächte an Durst, Hunger, unter unsäglichen Schmerzen, lebend verfaulend, zugrunde geht – dabei wissend, daß durch seinen Tod dem besagten Vaterlande nichts geholfen, seinen Lieben aber Verzweiflung gebracht worden – ich möchte wissen, ob er die ganze Zeit über mit jenem Rufe (‚Für das Vaterland‘) gern stirbt.“3

Bis zu ihrem Lebensende wurde Bertha als Pazifistin verlacht. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges schrieb Stefan Zweig: „Aber eben diese Frau, von der man meinte, sie habe nichts als ihre drei Worte der Welt zu sagen, . wußte ja .. Um die fast zernichtende Tragik des Pazifismus, daß er nie zeitgemäß erscheint, im Frieden überflüssig, im Kriege wahnwitzig, im Frieden kraftlos ist und in der Kriegszeit hilflos. Dennoch hat sie es auf sich genom- men, zeitlebens für die Welt ein Don Quichotte, der gegen Windmühlen ficht“.4 Wenn das keine Prophetin war!

Was folgt daraus? Zum einen gilt es, Frauen als Vorbilder zu entdecken in der Bibel, der Kir- chengeschichte, aber auch in unserer Gegenwart. Viel zu oft bleiben sie verborgen, werden nicht beachtet, allzu gern auch verspottet oder lächerlich gemacht. Da braucht es Frauenso- lidarität, aber auch Männer, die sich nicht zu schade sind, das mutige Wort einer Frau zu respektieren und ihnen öffentliches Gehör verschaffen. Frauensolidarität bedeutet auch, dass Frauen, die bereits Macht haben, anderen Frauen Wege eröffnen. Das so genannte W- 20-Forum letzte Woche hat, so Cerstin Gammelin, gezeigt: „Frauen brauchen einander, da- mit es nicht, wie Studien prophezeien, weitere 170 Jahre dauert, bis sie dieselben Chancen auf Bildung, Arbeit und Wohlstand haben wie Männer.“5

Zum anderen geht es darum, uns von der Bibel her, aber auch gegenseitig zu Haltung und Verantwortung und zum offenen Wort zu ermutigen. Wir dürfen uns nicht einschläfern lassen von den Wohlfühlangeboten unserer Konsumgesellschaft, sondern müssen einen wachen Blick auf die Lage behalten. Das kann sehr unangenehm sein wie bei Hulda, die dem Volk nicht zusagen kann, dass alles gut wird. Aber es bringt die Möglichkeit mit sich, etwas zu verändern, indem wir unsere Stimmen erheben für Menschen am Rande, für die Alten, die Kranken, die Armen, diejenigen, die auf der Flucht in unser Land kommen. Und indem wir unerschrocken für Frieden eintreten in einer Welt, die in Aufrüstung und Waffenexporten zu ersticken droht.

Dazu gebe Gott uns Weisheit, Mut und Segen. Amen.


1 Vgl. Brigitte Hamann, Bertha von Suttner. Kämpferin für den Frieden, Wien 2013.
2 Ebd. S. 13.
3 Ebd. S. 91f.
4 Ebd. S. 8.
5 Cerstin Gammelin, Frauen brauchen Frauen, SZ 27.4.2017.