Bericht zur Verantwortung und Aufarbeitung bei sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche

von Bischöfin Kirsten Fehrs

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I. Einführung: Gemeinsame Wege gehen

Sehr geehrtes Präsidium, hohe Synode.-

Wie gut und richtig, dass sich die Synode für dieses schwere und ernste Thema Ruhe und Zeit nimmt – denn es ist so dringlich, wie es sensibel ist. Und intim. Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und Grenzverletzungen in der evangelischen Kirche geht ans Innerste – einschließlich unseres Kirchenverständnisses. Denn Aufarbeitung heißt ja zuallererst: Hinsehen, eine neue Perspektive auf die eigene Kultur der Arbeit und des Umgangs mit Menschen einzunehmen. Einstehen und Verantwortung zu übernehmen – heißt, sich konfrontieren zu lassen durch das, was Betroffene, die Missbrauch erlebt haben, an sexualisierter Gewalterfahrungen durchlitten haben und welch furchtbare Folgen das für eine gesamte Lebensbiographie haben kann. Und ich sage allem voran: Dankenswerterweise reden Betroffene mit uns. Sie reden mit uns unter großer innerer Anstrengung; denn sie setzen sich damit immer wieder den Gefühlen der Ohnmacht bis hin zu aufwühlenden inneren Bildern aus, nicht selten mit retraumatisierenden Wirkungen. So behutsam man auch herangeht an jegliche Form der Aufarbeitung, sie ist für Menschen, denen sexualisierte Gewalt angetan wurde, immer aufwühlend und belastend.

So gilt ihnen unser Respekt und Dank, ich stehe bewundernd davor. Und ich habe über die vergangenen Jahre gelernt: Die Betroffenen reden mit uns, um das Schweigen endlich zu brechen. Endlich wieder atmen zu können. Das Thema aus der Tabuzone herauszuholen. Sie reden mit uns trotz brüchigem oder gar nicht mehr vorhandenem Vertrauen – und manchmal gelingt es sogar, Brücken zu bauen. Sie reden mit uns trotz wiederholt erfahrener Ignoranz und unserem Bürokratismus und trotz unserer mangelnden Empathie. – Bei einem Hearing am 27. Juni, das von der „Unabhängigen Aufarbeitungskommission“ des „Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ (UBSKM) veranstaltet wurde und bei dem ich in Vertretung für die EKD und ihre Gliedkirchen die Hörende war, wurden etliche Beispiele dazu von den Betroffenen bedrückend und leider auch aktuell beschrieben. Und um es klar zu sagen: Die Beiträge der Betroffenen auf den Podien waren allesamt erschütternd, sie waren klar in der Sache, reflektiert in der Beschreibung und auch konstruktiv in ihren Forderungen. Und angesichts der Verletzungen, die wir als Institution ihnen zugefügt haben, auch in der Aufarbeitung, kann man nur sagen: Da ist an dem unsensiblen und wirklich unangemessenen Verhalten seitens verschiedenster kirchlicher Stellen nichts, aber auch gar nichts zu beschönigen.

Und auch wenn es Gegenbeispiele gibt, die gute Erfahrungen mit evangelischer Kirche widerspiegeln und diese auch öffentlich vertreten – so ist doch ganz klar und eindeutig: Wir haben uns gegenüber uns anvertrauten Menschen schuldig gemacht. Auch als Institution. Weil wir ihnen den Schutz nicht gewährten, den sie dringend brauchten.

Wir haben – sowieso als Vertrauensraum Kirche! – allen Grund, all die schon auf dem Weg gebrachten Maßnahmen zu verstärken mit dem Ziel, dass in unseren Landeskirchen intensiver als bisher verinnerlicht wird, was grenzachtendes Verhalten meint. Denn es geht bei dem Thema ja nicht allein um kluge Präventionskonzepte und Handlungsleitfäden – die gibt es ja und dazu später – sondern um eine Haltung, die man erarbeitet und die angefangen bei der Basis bis hin zur obersten Leitung angeeignet werden muss, damit sie dauerhaft ist. Eine Haltung, aus der heraus man sich mit sexualisierter Gewalt auseinandersetzt und dann auch den Verwundungen, Ängsten, den Forderungen und auch dem Zorn Betroffener mit Achtung begegnen kann.

Denn die Betroffenen setzen sich aus – und sie konfrontieren uns mit unseren Schattenseiten. Und sie tun dies alles, damit wir etwas tun. Sie haben hierbei nicht viel zu gewinnen und erheben dennoch ihre Stimme: um eine klare Verantwortungsübernahme einzufordern, aktiv und mit Überzeugung. Und das heißt eben: dass wir nicht allein hinsehen und hinhören. Leid anerkennen. Schuld zugestehen und Scham. So wichtig das ist! Sondern auch Aufarbeitung, die ist mit dem Hearing noch einmal besonders in den Fokus gekommen: genau analysieren, was los war und los ist, damit Prävention, Intervention und Hilfen – konkret und transparent – überhaupt greifen können.

Wirkungsvolle Prävention braucht immer die Aufarbeitung. Man muss wissen, was genau passiert ist, um zu lernen, wie man genau das zukünftig verhindern kann. Nicht allein Konzepte sind es ja, die präventiv wirken, sondern Menschen, die verstanden haben, wie ein Umfeld entsteht, in dem Grenzen missachtet werden und Täter und Täterinnen ihr System etablieren.

Und für Aufarbeitung wiederum ist konstitutiv, dass die Stimmen von Betroffenen auf- und ernstgenommen werden, um sie zu ihrem Recht kommen zu lassen. Es geht also zuerst um ihre Geschichte und darum, an welcher Stelle wir als Institution versagt haben. Und es geht um die Taten des Täters. Es geht um den Verrat von Vertrauen und Gefühlen. Um die Brüche, die das für eine Biographie bedeuten kann. Und immer geht das Thema an die Grenzen. Auch an persönliche Grenzen der Vorstellungskraft.

„Unfassbar, dass so etwas in der Kirche vorkommt“ – so oft habe ich den Satz gehört. In ihm schwingt die Verunsicherung mit, die in den letzten acht Jahren mit Bekanntwerden der Missbrauchsfälle auch in der evangelischen Kirche zu spüren ist. Mitarbeitende in der Kirche fragen sich, und das ist genau richtig so: Was ist vertrauensbildende Nähe, was ein Übergriff? Wo hört eine Umarmung auf tröstlich zu sein? Man fühlt den schmalen Grat. Das Thema konfrontiert immer auch mit eigenen Ängsten, die Balance von Nähe und Distanz zu verlieren. Oder gar mit eigener Gewalterfahrung – und das betrifft bekanntlich mehr Menschen als wir denken. Doch nur, wenn wir hinsehen wollen und uns mit den dunklen Seiten unserer Institution auseinandersetzen, werden Maßnahmen greifen. Eben: Keine Prävention ohne Aufarbeitung und innere Auseinandersetzung.

Deshalb danke ich der Synode für ihre Befassung damit – gerade unter dem Aspekt von Jugendarbeit. Da ist das Thema längst dran und wird – angefangen von erweiterten Führungszeugnissen bis hin zu Verhaltensregeln und Checklisten für Teamerfreizeiten – bereits offen angegangen und diskutiert, übrigens auch unter dem Aspekt einer Sexualethik, die angesichts eines zunehmend gewalttätigen Umgangs mit Sexualität auch im digitalen Raum – Stichwort Cyber-Grooming - dringend geboten scheint.

Es ist also dran, das Thema, nicht erst in den vergangenen Monaten, wo es besondere Dringlichkeit u.a. durch die Studie der katholischen Kirche bekommen hat. Die Medien haben breit berichtet. Ich finde gut, dass sie wach sind und wach bleiben. Als 2010 Klaus Mertes in seiner klugen und konsequent beharrlichen Art veröffentlichte, was im Canisius-Kolleg vor sich gegangen war, hat das mediale Echo bei vielen Betroffenen ausgelöst, endlich auch selbst das Schweigen zu brechen. Sich zu zeigen. Das Geschehene anzuzeigen. Genugtuung und Verantwortungsübernahme zu fordern. Es ist – und das muss hier auch einmal deutlich benannt werden – ein Verdienst insbesondere des Qualitätsjournalismus, dass öffentlich wurde, was nicht nur in den Kirchen geschehen ist. Ohne die Medien gäbe es keine #metoo-Bewegung, und es gäbe keine #churchtoo-Bewegung. Summa: Das Thema ist dran, wenn nicht überfällig! – für alle Institutionen und gesellschaftlichen Lebensbereiche, in denen mit Menschen und also in Beziehungen gearbeitet und gewirkt wird. Und es ist allemal dran für die Evangelische Kirche in Deutschland, beim Schutz der ihr im Leben und im Glauben anvertrauten Menschen vor sexualisierter Gewalt noch deutlich aktiver zu werden.

Nach dieser Einführung nun zielt diese Einbringung in vier weiteren Kapiteln darauf, den Ihnen unter TOP 9.1 vorliegenden, ganz bewusst nüchtern gehaltenen, sachlichen Bericht an einigen Stellen zu vertiefen und mit Erfahrungshintergründen zu versehen. So möchte ich in dem nun folgenden zweiten Teil versuchen zu beschreiben: Was passiert eigentlich, wenn wir von „Missbrauch“ oder mit dem Fachbegriff gesprochen: „sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche“ reden? Wissend, dass dies natürlich nur einen minimalen Ausschnitt individueller Erfahrungen widerspiegeln kann.

In einem dritten, kurzen Teil gehe ich der Frage nach: Was haben die Gliedkirchen und die EKD bereits seit 2010 auf den Weg gebracht?

In einem vierten Teil erste Überlegungen zur Präzisierung des Begriffs Aufarbeitung. Unter dem Begriff wird derzeit viel verstanden und ist wenig systematisiert. Was unterscheidet individuelle von institutioneller Aufarbeitung? Was könnte Ziel und Weg einer institutionellen Aufarbeitung sein, die man in Zukunft in der EKD unter Beteiligung von Betroffenen angehen will?

Dies leitet über in einen letzten und fünften Teil: ein 11 Punkte-Handlungsplan auf der Grundlage von Beschlüssen der Kiko und des EKD-Rates – in der Hoffnung, liebe Synodale, dass Sie in den Gliedkirchen mitgehen, aktiv und klar, beharrlich und sensibel.

  • II. Was ist passiert? Sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche

    Es sind inzwischen sieben Jahre, die ich persönlich im Gespräch mit betroffenen Menschen auf dem Weg bin. „Ihnen zuzuhören geht an Herz und Nieren, manchmal stehen wir unter Wasser, sagte ein Ehrenamtlicher, der in unserer Unterstützungsleistungskommission schon seit fünf Jahren mitarbeitet. Die Begegnungen mit diesen zutiefst verletzten Menschen haben nicht nur mich immer dünnhäutiger gemacht. Sie haben mich auch durchlässig gemacht für die Erkenntnis, dass bei aller Individualität der Gewalterfahrungen doch so etwas wie ein evangelisches Muster erkennbar wird, also begünstigende Faktoren in der evangelischen Kirche, die den Tätern zuspielen. Täter – zumeist Männer, aber durchaus auch Frauen – die ganz bewusst Übergriffe begehen. Denn um dies gleich voranzustellen: Sexualisierte Gewalt geschieht nicht aus Versehen. Sie geschieht bewusst und bemächtigend. In Wort und Tat. Ein Beispiel:

    Johanna, nennen wir sie so, war 15 oder 16 Jahre alt. So genau weiß sie es nicht mehr. Sie weiß nur, dass sie es eklig fand, als der Pastor sie das erste Mal überfallartig küsste und an die Brust fasste. Sie könne doch ruhig ein bisschen Dankbarkeit zeigen für all das, was er für sie getan habe – so bedrängt sie der Pastor. Johanna ist erschrocken, unsicher, fühlt sich wehrlos. Kann nicht einordnen, was da mit ihr passiert. Denn das Problem ist: Sie mag den Pastor. Vertraut ihm. Ist vielleicht sogar ein bisschen verliebt. Denn er hat sich ihr zugewendet, endlich hat das jemand getan! Sie hat ihm viel von ihren Problemen zu Hause erzählt. Da stimmt so vieles nicht: mit den Eltern, dem Freund, in der Schule. Der Pastor „kümmert sich besonders um die Empfindsamen und um die, deren Selbstwertgefühl angegriffen ist. Jungen wie Mädchen. Gerade die intellektuell fixen und klugen Mädchen reizen ihn im doppelten Sinne – sich ihrer zu bemächtigen löst Lust aus. Gewaltige Machtlust. Als Johanna, nach Monaten der sexualisierten Gewalt, Anstalten macht, sich dieser unerträglichen Ohnmacht zu erwehren und das aufgezwungene Schweigen zu durchbrechen, schreit der Pastor sie an: „Wem, meinst du, wird man glauben? Dir oder mir? Sie erstarrt, lässt es weiter geschehen, tritt quasi aus sich heraus und vergisst sich dabei. Jahrzehntelang.

    Es gab Johannas und es gab Joachims. Der Täter ergriff jede Gelegenheit. Wer sich nicht wehrte, war drin im System sich steigernder Grenzverletzungen bis hin zu massiver sexualisierter Gewalt. Verbrämt mit zeitgeistiger Ideologie der späten 70erJahre und der „Reform-Pädagogik. Heißt im Klartext: Psychospiele zwecks Selbsterfahrung, Durchkitzeln auf dem Schoß des Pastors, abendliche Feiern der „Auserwählten, verbale Attacken und Demütigungen, bis hin zu Oral- und Geschlechtsverkehr. Alkohol als Stimulans meist dabei. Es braucht viel Alkohol, um sich immer wieder zu vergessen - und den Ekel dazu.

    Diejenigen, die sich wehrten, wurden ausgeschlossen. Zu Spießern, Unreifen, Hässlichen, Dummen erklärt. Das System funktionierte. Nicht allein durch den Täter, sondern auch durch ein Umfeld, das sich manipulieren lässt. Ein Pastor – geschützt durch die Würde des Amtes – tut doch nicht, was nicht sein darf! Auch wenn einigen Eltern, Freunden, Kirchenvorstehern und Gemeindemitgliedern unbehaglich war. Instinktiv spürten wohl viele, dass „etwas nicht stimmt – und nur wenige sind dem nachgegangen. Ganz schlimm heute für die Eltern der Betroffenen; das ist doch ein Alptraum, die eigenen Kinder nicht schützen zu können!? Das Leiden der Opfer blieb im Dunkeln einer in ihrem Narzissmus strahlenden, als progressiv geltenden und bewunderten kirchlichen Jugendarbeit in einer scheinbar intakten Gemeinde nahe Hamburg.

    Es dauert Jahrzehnte, bis der Mut einer Betroffenen im Jahr 2010 dazu führt, dass alles bekannt wird; es ist der größte bislang bekannte Missbrauchsskandal in der evangelischen Kirche. Geschehen, erlitten - in meiner Kirche. Das Selbstbild der Institution bekommt einen tiefen Riss, nicht nur bei mir.

    Deshalb gibt die Nordkirche 2012 die Aufarbeitung u.a. dieser Geschehnisse in Ahrensburg durch eine Unabhängige Expertenkommission in Auftrag, 2014 wurde der 500-seitige Bericht dazu veröffentlicht. Knappstens zusammengefasst: Man ließ in der Gemeinde den Missbrauch letztlich zu, indem man verwischte, was Lüge und was Wahrheit, was berechtigte Amtsautorität und was pastoraler Machtmissbrauch ist, indem man Freiheit sukzessive gleichsetzte mit Grenzenlosigkeit. Es entstand eine Kultur der Grenzverachtung, in der es keine Korrektur etwa durch eine Beschwerdeinstanz gab. Wer hätte das auch sein sollen? Waren doch alle irgendwie miteinander bekannt, verwandt, verbrüdert, voneinander abhängig. Der Täter mit dem Kollegen, mit manchem Kirchenvorsteher auch, mit dem Propst und mit Oberkirchenräten, die den Täter letztlich zwar versetzt haben, allerdings ausgerechnet in den Jugendstrafvollzug. Alles „verjährt und moralisch verwerflich, aber strafrechtlich nicht (mehr) justiziabel. Einzig bei dem Täter hatte man durch das Disziplinarverfahren wenigstens erreicht, dass er seine Ordinationsrechte und damit auch den Beamtenstatus verloren hat.

    Die Folgen für die Betroffenen sind hingegen nicht selten lebenslänglich quälend: Alpträume. Ängste, die einen bei bestimmten Reizworten, Gesten, Gerüchen überfallen. Vertrauensverlust: nachhaltig und vom Täter gar noch theologisch zementiert ist zerstört, was eine Beziehung trägt und auch was den Glauben prägt.

    Und so gehört mit zu den grausamsten Folgen oft der Glaubensverlust. Dieser zutiefst empfundene Verlust von einer Heimat, einer spirituellen Kraft, die einem Halt gibt und Widerstandskraft stärkt.

    Liebe Synodale, Aufarbeitung umfasst mehr als eine wissenschaftliche Analyse. Es ist eine emotionale Auseinandersetzung mit dem Nichtvorstellbaren, Abgründigen: Sexualisierte Gewalt in Räumen, in denen man einst mit Inbrunst sang „Geh aus mein Herz. Aufarbeitung heißt, sich auch emotional der Schuld zu stellen, als Institution, die in systemisch bedingter Blindheit Tätern und Täterinnen zugespielt und Opfer nicht geschützt hat.

  • III. Lernende Organisation – erfolgte Maßnahmen in der EKD seit 2010

    Die Erschütterung löst Handeln aus. Und so sind seit 2010 in evangelischer Kirche und Diakonie Maßnahmen der Prävention, Intervention und Hilfe ergriffen worden mit dem erklärten Ziel, sich mit dem Leid der Betroffenen auseinanderzusetzen und Verantwortung für die Verfehlungen der Institution zu übernehmen. Das heute diskutierte Thema ist also nicht neu. Die EKD fängt nicht erst bei Null an, sondern ist seit 2010 und in manchen Gliedkirchen auch schon davor damit beschäftigt, Maßnahmen zu entwickeln und umzusetzen.

    So haben die Gliedkirchen der EKD Präventionsmaßnahmen und Verfahrensweisen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt eingeführt und Ansprechpersonen benannt. Und nicht nur dies: Es gibt in etlichen Landeskirchen auch unabhängige Ansprechstellen. Dann: Zehn Landeskirchen haben Unabhängige Kommissionen bzw. Unterstützungsleistungskommissionen, in denen individuelle Anerkennungsleistungen – materieller und immaterieller Art – gemeinsam mit Betroffenen vereinbart werden. Eben nicht gedacht als „Entschädigung“, wer könnte das Vergangene entschädigen, sondern im Blick auf die Zukunft als Linderung und Eröffnung neuer Perspektiven. In anderen Landeskirchen werden ebenfalls Anerkennungsleistungen gezahlt, allerdings ohne eine begleitende Kommission.

    Die EKD nimmt koordinierende Aufgaben für die Gemeinschaft der Gliedkirchen wahr. So wird die Zusammenarbeit mit den Gliedkirchen sichergestellt durch die seit 2011 arbeitende Konferenz für Prävention, Intervention und Hilfe in Fällen der Verletzung der sexuellen Selbstbestimmung (im Folgenden: PIH-K). Die EKD hat neben den Koordinierungs- auch Vernetzungs- und Referenzaufgaben übernommen, um die Arbeitsprozesse der Gliedkirchen zu unterstützen.           
    Konkret – ich hebe nur Einiges hervor – wurden 2012 und 2016 Vereinbarungen zwischen der EKD und dem UBSKM abgeschlossen. In diesen Vereinbarungen verpflichtet sich die EKD stellvertretend für die Gliedkirchen, Schutzkonzepte in allen Gemeinden und Einrichtungen einzurichten. So also wurden Veröffentlichungen mit Anregungen zu Risikoanalyse und Sensibilisierung für grenzachtendes Verhalten erarbeitet. 2017 wurde die Internetseite www.Hinschauen-Helfen-Handeln freigeschaltet, durch die unter anderem ein EKD-weiter Zugriff für geschulte Multiplikatorinnen und Multiplikatoren auf das Curriculum „Prävention im kirchlichen Bereich“ möglich ist. Dann: Das Disziplinargesetz wurde 2014 von der EKD-Synode geändert, um Belange von Zeuginnen und Zeugen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, stärker zu berücksichtigen. Schließlich hat die Kirchenkonferenz ebenso wie der EKD-Rat im September und November weitergehende Beschlüsse gefasst – dazu komme ich im letzten Teil.

  • IV. Aufarbeitung sexualisierter Gewalt

    Sieht man exemplarisch auf die Aufarbeitung in der Nordkirche, ist zu sagen: Die evangelische Kirche hat systemisch gesehen ganz spezifische Risikofaktoren, die noch deutlicher als bisher zu analysieren sind, um sie anzugehen. Dabei ist hier sicherlich klar zu unterscheiden zwischen Gewalt an Heimkindern zumeist im Bereich der Diakonie und sexualisierter Gewalt in der verfassten Kirche: begangen an Kindern und Jugendlichen in der Jugendarbeit, aber auch an Erwachsenen in Beratungsszenarien und Arbeits- oder Abhängigkeitsverhältnissen, ausgeübt eben nicht allein von Pastoren, sondern auch von ehrenamtlichen Jugendmitarbeitenden, Kirchenmusikern, Diakonen, Küstern, Kita-Erzieher - das allein das Täterspektrum, das mir bekannt ist. Gerade weil in unseren evangelischen Kirchen so viele Berufsgruppen und auch Ehrenamtliche gegenüber Kindern und Jugendlichen Verantwortung tragen, müssen wir sie alle in den Blick nehmen. Und immerhin, liebe Synodale, wurden EKD-weit 479 „Fälle“ gemeldet, davon etwa 2/3 Heimkinder. Die Heime sind insofern noch einmal besonders, weil hier sexualisierte Gewalt auch durch andere Heimbewohner ausgeübt wurde.

    479 Fälle, wohlgemerkt, das sind die bekannt gewordenen. Kein Mensch würde ernsthaft behaupten, es gäbe nicht auch ein Dunkelfeld. Um hier aber eine seriöse, wissenschaftlich nachprüfbare und unabhängige Einschätzung zu bekommen, bedarf es einer gesonderten Dunkelfeldstudie – und die ist auch geplant.

    Schon aus dem, was wir jetzt wissen, lassen sich aber evangelische Spezifika orten: So z.B. die unreflektierte Vermischung von Privatem und Dienstlichem; dezentrale Strukturen, die unklar machen, wer für was zuständig ist – einschließlich einer fehlenden Beschwerdemöglichkeit; Einrichtungen als Closed-Shops, in denen keine Kontrolle funktioniert, geschehen auch im evangelikalen Bereich – all dies senkt Hemmschwellen für potentielle Täter und Täterinnen und macht es gleichzeitig Betroffenen – vor allem Kindern und Jugendlichen – besonders schwer, ihr Schweigen zu brechen. Schließlich ist der innerfamiliäre Missbrauch im evangelischen Pfarrhaus zu nennen, sicherlich noch einmal ein besonderer Fall, weil hier die besondere Machtposition durch die Amtsautorität des Pastors die Ohnmacht der Betroffenen potenziert.

    Die vergangene Woche medial verbreiteten Forderungen der Unabhängigen Aufarbeitungskommission des UBSKM, Aufarbeitungen institutioneller Art organisiert anzugehen, rennt also gewissermaßen offene Türen ein. So haben Kirchenkonferenz und EKD-Rat Studien zur institutionellen Aufarbeitung auf den Weg gebracht, die allerdings von den realen Voraussetzungen einer föderal strukturierten evangelischen Kirche ausgehen.

    Und dazu gehört es unbedingt, sich mit dem Begriff „Aufarbeitung“ näher zu beschäftigen und diesen zu schärfen, geht hier doch in der öffentlichen Wahrnehmung vieles durcheinander. Ich versuche kurz die verschiedenen Ebenen zu markieren:

    Zunächst individuelle Aufarbeitung: Sie gehört unbedingt zur Verantwortungsübernahme dazu und wird aktuell durch die schon genannten Unabhängigen Kommissionen bzw. Unterstützungsleistungskommissionen geleistet. Hier geht es erst einmal um die Würdigung der individuellen Geschichte, um die Anerkennung, dass man glaubt, was Betroffenen passiert ist. Man schaut gemeinsam, wie eine individuelle materielle oder immaterielle Unterstützungsleistung aussehen kann. Dabei ist nicht der Grundgedanke der Entschädigung leitend, sondern eine im Blick auf die Zukunft hilfreiche Idee, die das Leid lindert. Das kann neben besonderen Therapien auch eine Ausbildung sein, eine bestimmte Reise, das sehnsüchtig gewünschte Klavier, eine frei zur Verfügung stehende Summe, die einem Existenzsicherheit gibt usf. Entscheidend ist die Frage, was hilft jetzt und in Zukunft wirklich? Die in diesem Sinne wirklich individuelle Leistung kann von ihrem Grundprinzip her keine Pauschalsumme sein und ist auch tunlichst, zum Schutz der Betroffenen, nicht zu veröffentlichen. Überdies ist es vielen Betroffenen wichtig, dass die evangelische Kirche lernt aus dem, was sie hört. Und so gelingt es in einer Vielzahl der Fälle, dass man sich einigt. Dass es sogar Zufriedenheit gibt - und das Gefühl, etwas abschließen zu können.

    Dann die institutionelle Aufarbeitung. Ihr Ziel ist es, in Würdigung der individuellen Geschichte der Betroffenen eine systemische Gesamtbetrachtung anzustellen und in Folge dieser Erkenntnisse Empfehlungen für eine – ebenfalls systemisch ansetzende – Präventiv- und Interventionsarbeit zu geben. Eine solche institutionelle Aufarbeitung kann in der evangelischen Kirche nur schwer in einem einheitlichen Bearbeitungsprozess erfolgen. Denn die kirchenleitenden Gremien und Zuständigkeiten für Personalfragen oder für die Jugendarbeit sind in unserer föderalen Struktur überall anders geregelt. Ein einheitlicher Aufarbeitungsprozess ist schon von daher schwer darstellbar. Sehr wohl aber kann und muss es viel mehr Aufarbeitungsprozesse regional in den Landeskirchen geben – und dabei eine Landeskirche wissen, was die andere tut. Mit dem Material dieser regionalen Aufarbeitungen wiederum kann man eine Zusammenschau und eine Art Meta-Studie auf EKD-Ebene durchführen lassen. Ziel einer solchen Gesamtstudie ist es, die Risikofaktoren speziell der evangelischen Kirche durch unabhängige Expertenteams zu analysieren. Auch die in der Diakonie erfolgten Aufarbeitungsprozesse sollten hier einbezogen werden.

    Dann: Disziplinarverfahren. Sie enthalten Aspekte sowohl der individuellen als auch institutionellen Aufarbeitung und sind öffentlich immer wieder im Fokus. Grundsätzlich ist allem voran zu betonen: Disziplinarverfahren sind keine Strafrechtsverfahren! Sie wollen und können das staatliche Strafrecht auch nicht ersetzen. Sie kommen vielmehr additiv hinzu, wenn es bei Pfarrern und Kirchenbeamten zu einer strafrechtlichen Verfolgung kommt.

    Weiterhin hat von seiner „Genetik“ her das Disziplinarrecht weniger die Geschädigten im Blick als vielmehr die Institution. Es geht darum, deren Ordnung wiederherzustellen, und das entspricht erst einmal gar nicht den Bedürfnissen der Betroffenen nach Genugtuung und Gerechtigkeit. Es hat eben eine grundlegend andere Funktion als das Strafrecht: Ein Disziplinarverfahren vor einem Kirchengericht soll die Funktionsfähigkeit des kirchlichen Dienstes sicherstellen. Es kann nur klären, ob jemand gegen dienstliche Verpflichtungen verstoßen hat, und es kann dafür Sanktionen verhängen, deren äußerste die Entfernung aus dem Dienst ist.

    Trotzdem können Disziplinarverfahren wichtig sein für die individuelle Aufarbeitung – gerade, wenn ein Fall strafrechtlich verjährt ist, ist es für ein Opfer sexualisierter Gewalt oft die einzige Hoffnung, dass der Täter wenigstens innerkirchlich eine Sanktion erfährt. Diesem berechtigten Interesse haben wir mittlerweile Rechnung getragen. So ist in den vergangenen Jahren das Disziplinargesetz der EKD u. a. durch Neuregelung des Zeugenschutzes und der Zulassung der Öffentlichkeit geändert worden.

    Aber auch für die institutionelle Aufarbeitung kann der Rückblick auf alte Disziplinarverfahren wichtig sein. Die Auswertung von Disziplinarakten kann durchaus zur systemischen Gesamtbetrachtung beitragen.

    Was heißt das nun konkret für das weitere Vorgehen? Die Kirchenkonferenz und der Rat der EKD haben folgenden 11-Punkte-Handlungsplan auf den Weg gebracht:

    1. Beteiligung Betroffener: Das Hearing hat ergeben, dass eine Beteiligung der Betroffenen mehr als bisher erforderlich ist. Wir brauchen ihre Erfahrung bei allem, was wir im Bereich Aufarbeitung und Prävention tun. So wird sich die PIH-K, also die Konferenz unserer landeskirchlichen Präventionsexperten, u.a. im April 2019 zu einem Workshop mit Vertreterinnen und Vertretern der Gruppe der Betroffenen treffen, um Standards bei der Aufarbeitung und Qualitätsmerkmale für Ansprechpersonen zu diskutieren. So beabsichtigt der „Beauftragtenrat für Schutz vor sexualisierter Gewalt“ generell, die Betroffenenperspektive konsequent einzubinden.
       
    2. Individuelle Aufarbeitung: Es wird darauf hingewirkt, dass alle Gliedkirchen auf eine Unabhängige Kommission bzw. Unterstützungsleistungskommission zugreifen können, die in Verantwortung gegenüber den einzelnen Betroffenen Anerkennungsleistungen materieller wie immaterieller Art erarbeitet.
       
    3. Institutionelle Aufarbeitung: Es wird eine externe wissenschaftliche Studie der systemisch bedingten Risikofaktoren speziell der evangelischen Kirche vorgenommen. Für diese Analyse werden vorhandenes Aufarbeitungsmaterial aus dem Bereich der EKD und ihrer Gliedkirchen und neu erhobene Daten ausgewertet, und zwar beispielsweise unter traumapsychologischen, sozialwissenschaftlichen, juristischen oder theologischen Gesichtspunkten. Diese zusammenschauende Analyse der Aufarbeitungsprozesse samt der Betrachtung aller bekannten Einzelfälle geschieht natürlich durch eine unabhängige externe Wissenschaftsexpertise. In der Konsequenz der Analyse sollen wissenschaftlich begründete Empfehlungen entwickelt werden, die Grundlage zur Optimierung verbindlicher Standards für Prävention, Intervention, Aufarbeitung und Hilfen sein können. Die Aufarbeitung des Vergangenen ermöglicht gute Prävention jetzt. Aber auch sie wird nicht gänzlich verhindern können, dass es in Zukunft Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt gibt. So müssen wir alles uns Mögliche daransetzen, dies zu verhindern und in den Gliedkirchen mit allen Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, sensibel, professionell und achtsam umzugehen.
       
    4. Dunkelfeldstudie: Es wird eruiert, wie eine wissenschaftlich seriöse Ausleuchtung des sog. Dunkelfeldes in der evangelischen Kirche und der Diakonie erfolgen und gelingen kann. Das kann nur durch unabhängige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen geschehen. Die noch zu findenden, einzuleitenden Formate für möglicherweise mehrere Studien sind gemeinsam von EKD und Landeskirchen sowie unter Einbeziehung der Erfahrungswerte von betroffenen Menschen zu entwickeln.
       
    5. Unabhängige zentrale Ansprechstelle der EKD: Bitte melden Sie sich! Im Hearing ist von Betroffenen vielfach eine mangelnde Auffindbarkeit von kirchlichen Beratungs- und Hilfsangeboten kritisiert worden. Es liegt absolut in unserem Interesse auch im Blick auf eine gelingende Aufarbeitung, die Kontakte mit Betroffenen zu verbessern. Die EKD wird daher als unterstützendes subsidiäres Angebot eine unabhängige und zentrale Anlaufstelle etablieren, die fachlich qualifiziert eine Art Lotsenfunktion wahrnimmt, um Betroffene – behutsam – an die jeweiligen landeskirchlichen Zuständigkeiten zu verweisen. An der genaueren Umsetzung arbeiten die PIH-K und EKD mit Hochdruck. Der Sinn ist: Betroffene müssen nicht lange suchen, sondern wissen: Hier wird ihr Anliegen unter größtmöglichem Schutz mit größtmöglicher Fachlichkeit ernstgenommen und bearbeitet. Dies ersetzt wohlgemerkt nicht die bestehenden kirchlichen Ansprechpersonen bzw. Ansprechstellen in allen Landeskirchen, im Gegenteil. Dieses Angebot wird noch besser beworben und im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit unabhängigen Fachberatungsstellen weiter ausgebaut. Das bundesweite Hilfetelefon und Hilfeportal des UBSKM wird in die verbesserten Strukturen stärker als bisher einbezogen.
      – An dieser Stelle möchte ich deutlich und klar an alle Betroffenen appellieren: Bitte melden Sie sich! Entweder bei uns oder bei unabhängigen Stellen! Kontakt zu Ansprechpersonen finden Sie im Schwerpunkt Prävention auf EKD.de.
       
    6. Beauftragtenrat: Aufarbeitung und Prävention erfordert die intensive Begleitung durch die Leitungsebene. Unter Beachtung der föderalen Struktur der evangelischen Kirche hat die Kirchenkonferenz im September 2018 deshalb einen fünfköpfigen „Beauftragtenrat zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ eingesetzt, bestehend aus drei Bischofspersonen und 2 leitenden Juristinnen. Als Beauftragte der Landeskirchen stehen diese Personen öffentlich für das Thema ein und bringen die geplanten Maßnahmen innerkirchlich wie auch außerkirchlich voran. Dazu wird – wie schon gesagt – aktiv der Dialog mit den Betroffenen gesucht. Am 7.11. hat er beschlossen, dass ich für die ersten zwei Jahre die Sprecherinnenfunktion übernehme; danach wird neu entschieden.
       
    7. UBSKM: Das Gelingen der Aufarbeitung hängt auch davon ab, dass der UBSKM seine Anlauf-, Ansprech- und Lotsenfunktion wahrnimmt und seine Expertise für das Design der systemischen Analysen zur Verfügung stellt. Wir setzen hier sehr auf ein konstruktives Miteinander, wie es ja weitgehend auch schon gelingt. Dazu dient z.B. die Einladung des UBSKM zu einem Gespräch in die Sitzung des EKD-Rates im Dezember, die er auch bereits angenommen hat.
       
    8. Zentrale Meldestellen in den Gliedkirchen: Es wird auf einen Beschluss kirchenrechtlicher Vorgaben für eine Meldepflicht für kirchliche Mitarbeitende bei zureichenden Anhaltspunkten für Fälle von Grenzverletzungen und Sexualisierter Gewalt in den Landeskirchen hingewirkt. Zudem sollen dort, wo es noch nicht geschehen ist, zentrale Meldestellen in Landeskirchen eingerichtet werden, die bei Bedarf Aufarbeitungsprozesse durch externe Fachleute initiieren.
       
    9. Die Vermittlungsfunktion der PIH-K zwischen EKD-Ebene und Landeskirchen wird gestärkt.
      Diese Konferenz aus Expertinnen und Experten spielt eine wesentliche Rolle bei der Konzeption des Designs der Aufarbeitungsprozesse.
       
    10. Diakonie: Im Hinblick auf die Aufarbeitung durch systemische Analysen wird eine verbindliche Zusammenarbeit mit der Diakonie angestrebt. Zwar gibt es – wie erwähnt – Unterschiede: eine Kirchengemeinde ist ein anderer Tatort als ein Heim. Dennoch müssen wir beides auch zusammen betrachten, um durch eine solche Gesamtschau den Strukturen des Missbrauchs auf den Grund zu gehen. Hierüber werden mit dem Vorstand von Diakonie Deutschland Gespräche geführt.
       
    11. Seelsorgegeheimnis: Es ist ein hohes Gut und für jedes seelsorgerliche Handeln konstitutiv, dass wir über anvertraute Geheimnisse Stillschweigen zu bewahren. Jedoch kann es in dem Falle, in dem erlittene Gewalt anvertraut wird, auch geboten sein, gemeinsam mit den Klienten behutsam zu klären, ob man den/die Seelsorger/in von der Schweigepflicht entbinden möchte. Die Kirchenkonferenz hat insofern die Landeskirchen gebeten, in der Ausbildungspraxis nicht nur von Theologinnen und Theologen darauf hinzuwirken, dass bei Wahrung des Seelsorgegeheimnisses im Kontext sexualisierter Gewalt sensibel und professionell verfahren wird.

    Erlauben Sie mir ein persönliches Schlusswort:

    Ich gebe ehrlich zu: Manchmal hat es mich an Grenzen gebracht, den betroffenen Menschen zuzuhören. Zum Glück gibt es Supervision. Und ja – auch das Gebet. Und mir ist dadurch immer wieder klar geworden, dass diese Gespräche für mich nicht nur Erschütterung bedeutet haben, sondern auch Ansporn. Wir müssen genau hinschauen und dürfen nicht aufhören damit. So bin ich doch erleichtert, dass ich über die Jahre hin mit meinen Anfragen, Bemühungen und Initiativen in den meisten kirchlichen Gremien immer wieder auf offene Ohren gestoßen bin: In Synoden, in Kirchenleitungen und in Kirchengemeinden und hier, bei Ihnen. Erschrecken, Sprachlosigkeit, ja, das gab und gibt es, und das auch völlig zu Recht. Aber bewusst verharmlosen zu wollen oder sich verweigern – das habe ich höchst selten erlebt.

    Sicherlich – viele wissen nicht, was genau Betroffene erlitten haben und können dieses Leid emotional kaum aushalten, haben ja viele selbst Kinder. Gewalt, allemal sexualisierte Gewalt, löst bei den meisten naturgemäß erst einmal den zutiefst menschlichen Reflex aus, sich nicht befassen zu wollen. Aber diesen Widerstand zu überwinden, ist unabdingbar, gerade doch zum Schutz vor weiterem Leid.

    Zumal mir von allen die Überzeugung entgegen gekommen ist, dass gerade doch wir, die wir uns als Kirche Jesu Christi für den Schutz der besonders Schutzbedürftigen stark machen, die wir stehen für gesellschaftliche Achtsamkeit gegenüber den Kindern, den Sensiblen, Geschwächten, den Ungeliebten, Unsicheren, Gebeutelten, den Erkrankten, Geflüchteten und Ohnmächtigen, dass wir hier alles tun müssen, um diesen Schutz zu gewährleisten. Noch und noch. In aller Deutlichkeit: Eine Kirche, die solcher Gewalt nicht wehrt, ist keine Kirche mehr! Es geht also nicht allein um Präventionskonzepte und Handlungsleitfäden, derer es dank der Engagierten viele gibt, sondern es ist auch eine theologische Frage, die uns in unserem Grundverständnis als Christinnen und Christen aufruft.

    Wir sind es den Betroffenen – und wir sind es uns – schuldig, die gesamtgesellschaftliche Tabuisierung des Themas Gewalt und Sexualität aufzubrechen. Jede und jeder kann mitwirken, dass zuallererst in Ihren Gemeinden, Einrichtungen, Synoden darüber geredet wird – ohne eine innewohnende Hermeneutik des Verdachts. Sondern als Ermutigung zu lernen, die Chancen zu sehen, was es heißt, ernst zu machen mit dem Schutzkonzept des Evangeliums: auch durch den Schmerz hindurch das Leben zu stärken.

    Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

Beschluss zur Verantwortung und Aufarbeitung bei sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche

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