Welches Bekenntnis braucht die Kirche?

Welches Bekenntnis braucht die Kirche?

Thesen zum Verhältnis von Kirche und Bekenntnis

Im evangelischen Kirchenverständnis spielt die Bindung ans Bekenntnis weithin eine hervorgehobene Rolle. So hat Bischof Dr. Hans Christian Knuth in einem Beitrag zur jüngsten Debatte über strukturelle Veränderungen innerhalb der EKD (1)  absichtsvoll an einige Sätze aus der "Erklärung zur Rechtslage der Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche" bei ihrer Tagung in Barmen vom 29. bis 31. Mai 1934 (2)  erinnert: "... In der Kirche ist eine Scheidung der äußeren Ordnung vom Bekenntnis nicht möglich. Insofern ist die in der Verfassung festgelegte Gliederung der Deutschen Evangelischen Kirche in Landeskirchen bekenntnismäßig begründet ... Ihre echte kirchliche Einheit kann die Deutsche Evangelische Kirche nur auf dem Wege gewinnen, daß sie

a) die reformatorischen Bekenntnisse wahrt und einen organischen Zusammenschluß der Landeskirchen und Gemeinden auf der Grundlage ihres Bekenntnisses fördert,

b) der Gemeinde als der Trägerin der Wortverkündigung den ihr gebührenden Platz läßt."

Und Bischof Knuth fügt kommentierend hinzu: Diese "Einsicht muß in Geltung bleiben, wenn es zu einer Strukturveränderung kommen soll. Andernfalls würden die Veränderungen faktisch einen Verrat am Bekenntnis bedeuten. Dies kann niemand ernsthaft wollen."

Es steht also viel auf dem Spiel. Es gibt aber auch noch großen Klärungsbedarf. Die Aussage, daß die Gliederung der evangelischen Kirche "in Landeskirchen bekenntnismäßig begründet" sei und in erster Linie das Bekenntnis die Grundlage für "einen organischen Zusammenschluß der Landeskirchen und Gemeinden" gebe, könnte als theologische Immunisierung gegen plausible strukturelle Veränderungen wirken. Auch dies kann niemand ernsthaft wollen. Wer sich auf die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Bekenntnis intensiv einläßt, wird jedenfalls die Behauptung nicht bestätigt finden, daß sich die Strukturen der heutigen evangelischen Kirche aus theologischen Gründen an den bekenntnismäßigen Abgrenzungen der Reformationszeit orientieren müßten.

Die folgenden Thesen wollen Antwort geben auf die Frage: Welches Bekenntnis braucht die Kirche? Was ist die theologische Notwendigkeit für die Bekenntnisbestimmtheit der Kirche? Kann es, muß es gar eine Fortentwicklung und Aktualisierung ihrer Bekenntnisbestimmung geben?

Ich nehme dabei an vielen Stellen Einsichten und Formulierungen der von der Kammer für Theologie der EKD vorbereiteten Ausarbeitung "Vom Gebrauch der Bekenntnisse" auf, die sich der Rat der EKD ausdrücklich zu eigen gemacht und 1995 veröffentlicht hat (3). Er verband, wie es im Vorwort heißt, die Veröffentlichung "mit der Hoffnung, ein vertieftes Verständnis für den Dienst zu wecken, den die überlieferten Bekenntnisse den Kirchen leisten, und zu jeweils neuer verbindlicher Lehrverantwortung für die kirchliche Verkündigung zu ermutigen." Die Anknüpfung an diese in einem breiten Konsens erarbeitete und veröffentlichte Ausarbeitung soll deutlich machen, daß die Bestimmung des Verhältnisses von Kirche und Bekenntnis, wie sie im folgenden vorgetragen wird, nicht einer aktuellen Interessenlage entspringt, sondern einen bereits zuvor erreichten gemeinsamen Erkenntnisstand aufnimmt.

Ausdrücklich sei noch hinzugefügt: Das Folgende ist weder direkt noch indirekt ein Beitrag zu der Frage, wie es mit der VELKD weitergehen soll. Diese Frage läßt sich nicht anhand theologischer Gründe beantworten, sondern entscheidet sich an pragmatischen Gesichtspunkten, nämlich daran, ob die lutherischen Landeskirchen zur besseren Erfüllung ihrer Aufgaben die VELKD als notwendig oder hilfreich erachten. Darüber haben aber allein sie selbst zu befinden.

Im folgenden werden - für den eiligen Leser - zunächst die zehn Thesen dieses Beitrags im Zusammenhang wiedergegeben. Im Anschluß daran wird jede dieser zehn Thesen in einigen Überlegungen entfaltet.

1. Der einzelne Christ, eine Gruppe von Christen, eine einzelne christliche Gemeinde oder auch eine ganze Kirche können von der konkreten Situation, in der sie sich befinden, genötigt werden, sich - in Abgrenzung von anderen Bindungen und Maßstäben - zu Jesus Christus als dem Herrn und Retter zu bekennen. Hier geht es um das aktuelle Bekennen.

2. Die Kirche braucht über das aktuelle Bekennen hinaus auch das überlieferte, über Generationen hinweg bewährte, gemeinsame Bekenntnis. Das aktuelle Bekennen drängt von sich aus auf das Bekenntnis, in das andere einstimmen können.

3. Das Bekenntnis dient als Maßstab für die Reinheit der Verkündigung des Evangeliums (pure docere) und die Übereinstimmung im reinen Verständnis des Evangeliums (consentire de doctrina evangelii).

4. Bekenntnisse sind eine spezielle Form von Lehre und Wahrnehmung der Lehrverantwortung. Die christliche Gemeinde urteilt über die Reinheit des in ihr herrschenden Verständnisses des Evangeliums nicht allein mit der Hilfe von Bekenntnissen, sondern bedient sich dazu auch anderer Gestalten christlicher Lehre.

5. Die Heilige Schrift und die Bekenntnisse sind beide Maßstab für die Beurteilung christlicher Verkündigung und Lehre, dies jedoch in kategorial unterschiedlicher Weise: Die Heilige Schrift ist norma normans, die Bekenntnisse sind norma normata. Die Bekenntnisse "weisen in die rechte Schriftauslegung ein und sorgen dafür, daß die Kirche hörende Kirche bleibt ... Sie unterstellen sich selbst dem grundlegenden Christuszeugnis der Heiligen Schrift und nötigen so zum kritischen Umgang mit sich selbst und mit dem aktuellen Bekennen der Kirche."

6. Das Bekenntnis der Kirche kann nicht ein für allemal abschließend ausgesagt werden. Angesichts neuer Herausforderungen und weiterführender Einsichten bedarf es der Aktualisierung. Bindung ans Bekenntnis ohne Bildung von Bekenntnis ist Hohn aufs Bekenntnis.

7. In der Kirche stehen von frühester Zeit an verschiedene Bekenntnisse nebeneinander. Insofern ist die Koexistenz von Kirchen mit unterschiedlichem Bekenntnisstand innerhalb der EKD historisch und theologisch keineswegs eine ungewöhnliche oder gar fragwürdige Erscheinung. Das Nebeneinander verschiedener Bekenntnisse stellt aber die Aufgabe, sie aufeinander zu beziehen und daraufhin auszulegen, "welchen Beitrag sie zur Schriftauslegung der Kirche leisten. So kann ihre Unterschiedlichkeit als Bereicherung erfahren werden".

8. Die Weiterentwicklung der Lehre der evangelischen Kirche seit der Reformationszeit hat es möglich gemacht, in ein und derselben Kirche die Bekenntnisse der Reformationszeit insgesamt, also sowohl die lutherischen als auch die reformierten, nebeneinander und miteinander in Geltung zu setzen. Die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) von 1973 ist auf ihre Weise ein Zeugnis von der Überwindung der trennenden Wirkung der überlieferten reformatorischen Bekenntnisse.

9. Die Barmer Theologische Erklärung und die Leuenberger Konkordie erfüllen alle Voraussetzungen, um innerhalb der EKD als Bekenntnisse rezipiert zu werden.

10. Die EKD ist wie ihre Gliedkirchen eine bekenntnisbestimmte Kirche. Das für die EKD bestimmende Bekenntnis wird in der Präambel und den Grundbestimmungen ihrer Grundordnung entfaltet.

********

1. Der einzelne Christ, eine Gruppe von Christen, eine einzelne christliche Gemeinde oder auch eine ganze Kirche können von der konkreten Situation, in der sie sich befinden, genötigt werden, sich - in Abgrenzung von anderen Bindungen und Maßstäben - zu Jesus Christus als dem Herrn und Retter zu bekennen. Hier geht es um das aktuelle Bekennen.

Im Neuen Testament ist an zahlreichen Stellen von "bekennen" und "Bekenntnis" die Rede. "Nach dem biblischen Zeugnis ist das Bekenntnis eine Grundform der Rede des Glaubens an Gott in Jesus Christus. Sie proklamiert Jesus als den 'Christus' und ist als solche ein Ereignis, das sich dem Wirken des Heiligen Geistes verdankt (vgl. Röm 10,9; 1. Kor 12,3). Alles Reden der Gemeinde vom Handeln Gottes in Jesus Christus entspringt einem derartigen lebendigen Grundakt des Bekennens." (4) Aber das Bekennen ist keine vergangene, etwa auf die Heilige Schrift oder die Anfänge der Kirche beschränkte Grundform christlichen Redens. Es wird - in persönlichen, kleinen Entscheidungssituationen so gut wie in geschichtlichen, großen Entscheidungssituationen - immer wieder nötig. Für das 20. Jahrhundert und die Kirche in Deutschland ist die Bekenntnissynode von Barmen 1934 paradigmatisch.

2. Die Kirche braucht über das aktuelle Bekennen hinaus auch das überlieferte, über Generationen hinweg bewährte, gemeinsame Bekenntnis. Das aktuelle Bekennen drängt von sich aus auf das Bekenntnis, in das andere einstimmen können.

"Der Akt des Bekennens der Gemeinde erfolgt von seinen Anfängen im Neuen Testament her in Gestalt formulierter Aussagen. In ihnen wird Jesus von Nazareth als 'Christus' und 'Herr' bekannt ... In solchen und ähnlichen Aussagen formulierte die frühe Christenheit ihr gemeinsames Bekenntnis, das auf Wiederholung und Überlieferung angelegt ist ...

Die Bekenntnisbildung der Alten Kirche ist ... aus den urchristlichen Bekenntnissen erwachsen. Sie wurde im Zuge des sich formierenden Taufkatechumenats (Taufbekenntnis), aber auch zur Abwehr neuer Irrlehren erforderlich. Sie diente zugleich als Ausdruck der Gemeinsamkeit des die Gesamtchristenheit verbindenden Glaubens. Letzteres trifft besonders für das Bekenntnis von Nicäa und Constantinopel (NC) von 381 zu. Es wurde in der östlichen und westlichen Christenheit rezipiert und gilt seither als das eigentliche ökumenische Bekenntnis der Alten Kirche.

Die Reformation hat sich bewußt auf den Boden der drei altkirchlichen Bekenntnisse gestellt (insbesondere des Apostolicum und des NC), diese aber zugleich im Lichte der von ihr neu gehörten biblischen Botschaft interpretiert. Die reformatorischen Bekenntnisse dürfen darum ihrerseits - obgleich sie faktisch zu Bekenntnissen von Konfessionskirchen wurden - nicht anders denn als ökumenische Bekenntnisse verstanden werden." (5)

Das gemeinsame Bekenntnis ist auf Wiederholung angelegt. Dazu muß es überliefert werden. Dies hat in den reformatorischen Kirchen, vornehmlich in den lutherischen, zur Bildung von Sammlungen von Bekenntnisschriften geführt. Das herausragende Beispiel der ausgehenden Reformationszeit ist das Konkordienbuch. Mit der Herausgabe und Rezeption solcher Sammlungen kann sich freilich der falsche Schein der Abgeschlossenheit des Bekenntnisses verbinden.

Der Übergang vom aktuellen Bekennen zum gemeinsamen, mindestens der Intention nach ökumenischen Bekenntnis liegt in der Natur des Bekennens selbst begründet: "Das Bekennen ist als Akt des einzelnen [man darf hier ergänzen: auch der einzelnen Gemeinde und Synode] darauf angelegt, Einverständnis zu erzielen ... Der dem Bekennen eigene Zug zur 'Öffentlichkeit' nötigt ... dazu, das Bekennen so wiederholbar zu machen, daß andere einstimmen können." (6) 

3. Das Bekenntnis dient als Maßstab für die Reinheit der Verkündigung des Evangeliums (pure docere) und die Übereinstimmung im reinen Verständnis des Evangeliums (consentire de doctrina evangelii).

Bis zum heutigen Tage gibt es in Kirche und Öffentlichkeit eine Tendenz, das konfessionelle Element der christlichen Kirche geringzuschätzen oder gar - unter dem Begriff "Konfessionalismus" - zum Schimpfwort verkommen zu lassen. Dieser Tendenz müssen die christlichen Kirchen gemeinsam widerstehen. Das konfessionelle Element gibt den Kirchen ein unverwechselbares Profil und einen inneren Kompaß.

Die Frage, warum die Kirche das Bekenntnis braucht, findet im Rahmen der Aussagen von CA VII ihre einleuchtendste Antwort. Ein von CA VII angeleitetes evangelisches Kirchenverständnis bestimmt die Kirche als "die Versammlung aller Gläubigen ..., bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden". Die "wahre Einheit der christlichen Kirche" bindet es allein daran, "daß das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden". Wenn aber das Kirchesein durch die reine Predigt des Evangeliums definiert und die wahre Einheit der christlichen Kirche an die Übereinstimmung im reinen Verständnis des Evangeliums gebunden wird, dann braucht die Kirche dafür einen Maßstab. Diesen Maßstab liefern die Bekenntnisse. "Sie dienen der Wahrheit des Christusbekenntnisses im Vollzuge aktuellen Bekennens und sorgen so dafür, daß die Kirche lehrende Kirche bleibt." (7)

4. Bekenntnisse sind eine spezielle Form von Lehre und Wahrnehmung der Lehrverantwortung. Die christliche Gemeinde urteilt über die Reinheit des in ihr herrschenden Verständnisses des Evangeliums nicht allein mit der Hilfe von Bekenntnissen, sondern bedient sich dazu auch anderer Gestalten christlicher Lehre.

Es gibt christliche Kirchen, in denen die Bekenntnisse eine weit geringere Rolle spielen als in der evangelischen Kirche. Dadurch entsteht bei ihnen aber keine Leerstelle. Die Funktion der Bekenntnisse wird nämlich von anderen Gestalten kirchlicher Lehre übernommen. Auch für die evangelische Kirche muß man neben den Bekenntnissen die anderen Gestalten kirchlicher Lehre im Blick behalten.

Die Übergänge sind ohnehin gleitend. So waren der Kleine und der Große Katechismus Martin Luthers zunächst nicht kirchliche Bekenntnisse, sondern Anleitung für die rechte kirchliche Lehre. Diese Lehrzeugnisse wurden erst durch einen längeren Rezeptionsvorgang zu formellen Bekenntnissen. Insofern ist auch die im Evangelischen Gesangbuch vorgenommene Unterscheidung zwischen "Bekenntnissen der Kirche" (ab Nr. 803) und "Lehrzeugnissen der Kirche aus dem 20. Jahrhundert" (ab Nr. 809) nur von höchst relativer Bedeutung. Die beiden Lehrzeugnisse, die dort wiedergegeben werden, die Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen und die Leuenberger Konkordie, haben die sachliche Qualität von Bekenntnistexten.

5. Die Heilige Schrift und die Bekenntnisse sind beide Maßstab für die Beurteilung christlicher Verkündigung und Lehre, dies jedoch in kategorial unterschiedlicher Weise: Die Heilige Schrift ist norma normans, die Bekenntnisse sind norma normata. Die Bekenntnisse "weisen in die rechte Schriftauslegung ein und sorgen dafür, daß die Kirche hörende Kirche bleibt ... Sie unterstellen sich selbst dem grundlegenden Christuszeugnis der Heiligen Schrift und nötigen so zum kritischen Umgang mit sich selbst und mit dem aktuellen Bekennen der Kirche." (8)

"Nur im Hören auf das ursprüngliche Bekenntnis der neutestamentlichen Gemeinden ist das Bekenntnis der Gemeinde in allen späteren Zeiten möglich. Die christliche Kirche hat sich darum mit der Kanonisierung des Neuen Testaments das ursprüngliche Bekenntnis, das im Neuen Testament laut wird, gegenübergestellt. Nach reformatorischem Verständnis hat sie damit all ihr Bekennen dem Bekennen in der Schrift nachgeordnet." (9)  Nach einer Formulierung der Konkordienformel ist die Heilige Schrift nach evangelischem Verständnis die "einzige Regel und Richtschnur, nach welcher aller Lehren und Lehrer gerichtet werden sollen". An diesem Maßstab wollen die reformatorischen Bekenntnisse "selbst gemessen werden. Sie ermutigen uns deshalb, ihre eigenen Aussagen im Interesse einer lebendigen, schriftgemäßen Verkündigung anhand dieses Maßstabs immer neu zu prüfen und auszulegen. Dabei wird allerdings ihr Anspruch, selbst eine wesentliche Orientierung für die sachgerechte Auslegung der Schrift zu sein, ernst zu nehmen sein. Denn gerade weil die Heilige Schrift aufgrund der verschiedenen Ausprägung ihres Christusbekenntnisses nach Auslegung ruft, kann keine reformatorische Kirche auf die Orientierungen verzichten, die bei solcher Auslegung für ihr eigenes Kirchesein grundlegend wurden." (10)

In den geplanten Grundartikeln für eine Vereinigte Evangelische Kirche in der DDR, die nach dem Scheitern dieses Einigungsprojekts unter dem Titel "Gemeinsame Erklärung zu den theologischen Grundlagen der Kirche und ihrem Auftrag in Zeugnis und Dienst" (11) am 23. Mai 1985 veröffentlicht wurden, ist der Funktion der Bekenntnisse als Wegweiser zum Verständnis der Heiligen Schrift eine eigene Passage gewidmet: "Die Evangelische Kirche sieht in den überlieferten Bekenntnissen Wegweiser zum Verständnis der Heiligen Schrift. Sie wollen der Abwehr von Irrlehre und dem aktuellen Bekennen dienen. In ihrer Konzentration auf das Evangelium vom Heil in Jesus Christus bleiben die Bekenntnisse eine unerläßliche Orientierungshilfe für den Auftrag, den die Evangelische Kirche auszurichten hat."

6. Das Bekenntnis der Kirche kann nicht ein für allemal abschließend ausgesagt werden. Angesichts neuer Herausforderungen und weiterführender Einsichten bedarf es der Aktualisierung. Bindung ans Bekenntnis ohne Bildung von Bekenntnis ist Hohn aufs Bekenntnis.

Die Lehrverantwortung der reformatorischen Kirchen "kann naturgemäß nicht auf die Zeit des 16. Jahrhunderts beschränkt sein. Denn die Aufgabe kirchlicher Verkündigung steht ständig vor neuen Herausforderungen und Gefährdungen. Deshalb war es legitim und notwendig, daß in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 die reformatorischen Grundentscheidungen angesichts der manifesten Irrlehren der 'Deutschen Christen' eine lehrmäßige Aktualisierung fanden. Auch die Leuenberger Konkordie von 1973 stellt unter dem Gesichtspunkt des gewandelten Miteinanders der verschiedenen reformatorischen Kirchen eine vergleichbare lehrmäßige Aktualisierung dar. Die Wahrnehmung einer solchen 'produktiven' Lehrverantwortung der Kirche geschieht in einem Zusammenspiel von Synoden, Kirchenleitungen, Theologischen Fakultäten bzw. theologischen Lehrern sowie der Gemeinschaft aller Gemeinden und ordinierten Amtsträger der Kirche. Sie ist in Deutschland in den letzten Jahren vielfach in Gestalt von Erklärungen kirchlicher Leitungsorgane wahrgenommen worden. Sie äußert sich in Stellungnahmen zu Ergebnissen des ökumenischen Dialogs, wie z.B. der Lima-Papiere. Sie kann Aussagen über die gegenwärtige Anwendbarkeit von Lehrverurteilungen, die in der Vergangenheit ausgesprochen wurden, auf die heutigen ökumenischen Partner zum Gegenstand haben. Auch die Wahrung der Lehrordnung gehört zur produktiven Lehrverantwortung. Sie kann im übrigen jedoch auch darin bestehen, daß bestimmten in der Kirche umstrittenen Fragen der Rang als Fragen des Bekenntnisses bestritten wird und sie als Ermessensfragen qualifiziert werden. Wenn es zu solchem vielfältigen 'Fortschreiben' geltender Lehre in der Kirche (im Sinne immer neuen notwendiger Orientierung der Verkündigung) nicht käme, würden die in der Reformation getroffenen Lehrentscheidungen und -orientierungen in die Gefahr geraten, zum toten Buchstaben zu verkommen. Das gilt auch im Hinblick auf die Aufgaben der Kirche, die Identität des einen Glaubens und Bekenntnisses durch die Zeiten hindurch zu bewahren und zu bewähren." (12)

Eberhard Jüngel hat das auf die Formel gebracht: "Wo die Freiheit der Bekenntnisbildung nicht möglich (!) ist, ist die Bekenntnisbindung ein Hohn auf das Bekenntnis." Die Bekenntnisse sind als Grundrisse der Lehre - so Jüngel - "gleichermaßen schriftgemäß und zeitgemäß. Zeitgemäß müssen sie sein, weil die Schrift selber der Auslegung bedarf ... Ein bloßes Schriftzitat ist niemals schriftgemäß. Und ein bloß repetiertes 'Bekenntnis', das an den Fragen der Zeit vorbeigeht, ist eben nicht an der Zeit, ist unzeitgemäß und deshalb kein Bekenntnis mehr. Ein zeitloses Bekenntnis widerspricht dem Wesen des Bekenntnisses. Denn Bekenntnisse sollen jeweils zum Bekennen provozieren. In ein Bekenntnis muß man einstimmen können, an seinem eigenen geschichtlichen Ort einstimmen können. Sonst kann das Bekenntnis diesen geschichtlichen Ort niemals verändern." (13)

7. In der Kirche stehen von frühester Zeit an verschiedene Bekenntnisse nebeneinander. Insofern ist die Koexistenz von Kirchen mit unterschiedlichem Bekenntnisstand innerhalb der EKD historisch und theologisch keineswegs eine ungewöhnliche oder gar fragwürdige Erscheinung. Das Nebeneinander verschiedener Bekenntnisse stellt aber die Aufgabe, sie aufeinander zu beziehen und daraufhin auszulegen, "welchen Beitrag sie zur Schriftauslegung der Kirche leisten. So kann ihre Unterschiedlichkeit als Bereicherung erfahren werden" (14).

Schon im Neuen Testament stehen mehrere und theologisch unterschiedliche Bekenntnisformulierungen nebeneinander. Das stellt "bereits im Neuen Testament ein Problem dar. Die verschiedenen Bekenntnisformulierungen müssen bei der Auslegung des Neuen Testaments daraufhin befragt werden, inwiefern sie einander interpretieren. Sie sind für alles spätere Bekennen das maßgebliche Zeugnis nur insofern, als sie ein auch Sachkritik nicht ausschließendes Miteinander darstellen." (15)

Innerhalb der EKD weisen die Gliedkirchen einen höchst unterschiedlichen Bekenntnisstand auf. Die Differenziertheit reicht dabei weiter, als die gängige Unterscheidung in drei Bekenntnisse, das lutherische, das reformierte und das unierte, erkennen läßt. Bei den unierten Gliedkirchen stellt im Falle der Bekenntnisunion jede Gliedkirche genau genommen ein eigenes Bekenntnis dar, und gegenüber den aus einer Bekenntnisunion hervorgegangenen unierten Gliedkirchen stellen die Gliedkirchen der bisherigen EKU noch einmal einen eigenen Typ des unierten Bekenntnisses dar. Darum hat die Formulierung von Artikel 27 der Grundordnung der EKD, in dem die Bildung von Bekenntniskonventen innerhalb der Synode geregelt wird, sehr präzise zwischen dem bestimmten und dem unbestimmten Artikel unterschieden: "Werden in der Synode gegen eine Vorlage Bedenken erhoben mit der Begründung, daß sie dem lutherischen, dem reformierten oder einem unierten Bekenntnis widerspreche, und können die Bedenken durch eine Aussprache in der Synode nicht behoben werden, so versammeln sich die Angehörigen des Bekenntnisses zu einem Konvent." Wer genau hinsieht, wird aber auch genötigt, innerhalb der lutherischen Gliedkirchen im Blick auf den Bekenntnisstand noch einmal genauer zu unterscheiden: Das gemeinsame Element ist allein die Confessio Augustana. Im Blick auf die Geltung etwa der Schmalkaldischen Artikel oder der Konkordienformel gibt es hingegen Unterschiede. Sie sind, wie die Debatte zur Rezeption der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre gezeigt hat, nicht bedeutungslos.

Um so wichtiger ist es, die bereichernde und nicht die trennende Wirkung der unterschiedlichen Bekenntnistraditionen stark zu machen. "Die faktisch unterschiedliche Verbindlichkeit einzelner Bekenntnisse in den verschiedenen reformatorischen Kirchen hat notwendig zur Folge gehabt, daß in ihnen unterschiedliche Schwerpunkte der Verkündigung, der Lehre und der Lebensorientierung ausgeprägt wurden. Dem Wesen eines Bekenntnisses entsprechend dürfen diese Schwerpunkte aber nicht voneinander isoliert werden. Sie müssen vielmehr im Dialog der Kirchen in der einen Aufgabe der rechten Schriftauslegung zusammengeführt werden." (16)

Auch in diesem Zusammenhang ist noch einmal auf die "Gemeinsame Erklärung zu den theologischen Grundfragen der Kirche und ihrem Auftrag in Zeugnis und Dienst" der evangelischen Kirchen in der DDR vom 23. Mai 1985 (17) hinzuweisen. Denn sie thematisiert ausdrücklich die Unterschiedlichkeit des Bekenntnisstandes der im Bund der Evangelischen Kirchen verbundenen Gliedkirchen und interpretiert sie als Bereicherung und Hilfe: "Die Gliedkirchen mit ihren lutherischen, reformierten und unierten Gemeinden bleiben an ihre Bekenntnisse gebunden. Das Hören auf die jeweils anderen Bekenntnisse erweist sich als Hilfe zur Auslegung der Heiligen Schrift." Wer die "Gemeinsame Erklärung zu den theologischen Grundlagen der Kirche und ihrem Auftrag in Zeugnis und Dienst" im Lichte der aktuellen Debatte über strukturelle Reformen in der EKD wieder liest, wird sich dem Eindruck kaum entziehen können, daß die evangelischen Kirchen in der DDR in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die derzeitige Debatte vorausgenommen und dabei an einer Reihe von Stellen zu vorbildlichen Ergebnissen gelangt sind.

8. Die Weiterentwicklung der Lehre der evangelischen Kirche seit der Reformationszeit hat es möglich gemacht, in ein und derselben Kirche die Bekenntnisse der Reformationszeit insgesamt, also sowohl die lutherischen als auch die reformierten, nebeneinander und miteinander in Geltung zu setzen. Die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) von 1973 ist auf ihre Weise ein Zeugnis von der Überwindung der trennenden Wirkung der überlieferten reformatorischen Bekenntnisse.

Für die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus einer Bekenntnisunion hervorgegangenen Gliedkirchen der EKD ist es charakteristisch, daß die unterschiedlichen Bekenntnistraditionen der Reformationszeit gemeinsam das kirchliche Bekenntnis bilden. So heißt es in der Vereinigungsurkunde der pfälzischen Kirche von 1818 in § 3: "Die protestantisch-evangelisch-christliche Kirche hält die allgemeinen Symbola und die bei den getrennten protestantischen Konfessionen gebräuchlichen symbolischen Bücher in gebührender Achtung, erkennt jedoch keinen anderen Glaubensgrund noch Lehrnorm als allein die heilige Schrift." Die Formulierung, wonach die unterschiedlichen reformatorischen Bekenntnisse "in gebührender Achtung" gehalten werden, wird häufig als bloße Abschwächung der Geltung der Bekenntnisse und damit ihre Vergleichgültigung gedeutet. Jedoch läßt sich die zitierte Passage aus § 3 durchaus auch in einem starken Sinne lesen: Glaubensgrund und Lehrnorm ist allein die Heilige Schrift, sie ist norma normans; die Bekenntnisse sind demgegenüber norma normata; ihnen ist mit Achtung zu begegnen, weil sie eine Hilfe bei der Auslegung der Heiligen Schrift sind und Orientierung für das kirchliche und christliche Leben geben.

Die Verhältnisse bei den anderen unierten Kirchen liegen ähnlich. Zitiert sei an dieser Stelle nur noch die 1967 verabschiedete Grundordnung der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Dort heißt es in der Präambel: "Die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck ist gerufen zum Dienst am Evangelium von Jesus Christus, das in der Botschaft der Heiligen Schrift gegeben und im Bekenntnis der Reformation bezeugt ist ... Sie ist vor allem durch das Augsburgische Bekenntnis und die von ihm aufgenommenen altkirchlichen Symbole geprägt und in der Vielfalt der überlieferten Bekenntnisse der Reformation zu einer Kirche zusammengewachsen."

Eine erstaunliche Formulierung findet sich in der 1920 verabschiedeten Verfassung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Dort heißt es in § 1: "Die evangelisch-lutherische Kirche in Württemberg, getreu dem Erbe der Väter, steht auf dem in der Heiligen Schrift gegebenen, in den Bekenntnissen der Reformation bezeugten Evangelium von Jesus Christus, unserem Herrn." Im allgemeinen wird, unter Bezugnahme auf die Vorgeschichte und die Entstehung der württembergischen Kirchenverfassung, die generelle Rede von "den Bekenntnissen der Reformation" zwar als Verweis lediglich auf die verschiedenen in Württemberg rezipierten lutherischen Bekenntnisschriften der Reformation gedeutet. Jedoch hat Johannes Wallmann (18) darauf aufmerksam gemacht, daß mit dem Verweis auf die "Bekenntnisse der Reformation" - und nicht auf die "Bekenntnisse der lutherischen Kirche" - "jene Mittelstellung im deutschen Protestantismus markiert (war), die der württembergischen Kirche seit dem frühen 19. Jahrhundert, wenn nicht schon seit den Zeiten des Pietismus im 18. Jahrhundert, ihre eigene Art und ihr charakteristisches Gepräge gegeben hat." In jedem Fall stellt sich im Lichte der theologischen Entwicklung des 20. Jahrhunderts, insbesondere im Lichte der Leuenberger Konkordie, die Frage, ob die generelle Rede von "den Bekenntnissen der Reformation" in der württembergischen Kirchenverfassung nicht einen neuen, alle Bekenntnisschriften der Reformationszeit einschließenden Sinn angenommen hat.

Die drei Beispiele dienen hier nicht als Beleg dafür, daß die Gliedkirchen der EKD generell die Veranlassung hätten, ihren überlieferten Bekenntnisstand zu revidieren und die Bekenntnisse der Reformation insgesamt zu übernehmen. Entscheidend aber ist zweierlei: Nach dem jetzt erreichten Stand evangelischer Lehre ist es theologisch legitim, die Festlegung auf das lutherische oder das reformierte oder ein uniertes Bekenntnis zu überschreiten und in ein und derselben Kirche die unterschiedlichen Bekenntnisse der Reformation - lutherische ebenso wie reformierte - gleichermaßen für sich gelten zu lassen. Und: Die Unterschiedlichkeit des Bekenntnisstandes in den Gliedkirchen der EKD trennt diese nicht mehr, sondern sie stimmen im Verständnis des Evangeliums überein.

Es würde bedeuten, hinter diese Einsichten zurückzufallen, wenn man dem Vorschlag von Bischof Knuth (19) folgte, die evangelischen Kirchen in Deutschland als eine "Evangelische Kirche Augsburgischen Bekenntnisses mit einer reformierten Klasse (und möglicherweise einer unierten Klasse)" zu verfassen. Dieser Vorschlag ist der unzutreffenden Voraussetzung verpflichtet, es könne Bekenntnisbestimmtheit einer reformatorischen Kirche nur nach lutherischem oder reformierten oder uniertem Muster geben.

Die Überzeugung, daß die Unterschiedlichkeit ihres Bekenntnisstandes die Gliedkirchen der EKD nicht mehr trennt, ist von allen Gliedkirchen durch die Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie von 1973 bekräftigt worden. In ihr heißt es in den Abschnitten 30ff: "Mit der Zustimmung zu der Konkordie erklären die Kirchen in der Bindung an die sie verpflichtenden Bekenntnisse oder unter Berücksichtigung ihrer Traditionen: a) Sie stimmen im Verständnis des Evangeliums ... überein. Die in den Bekenntnisschriften ausgesprochenen Lehrverurteilungen betreffen ... nicht den gegenwärtigen Stand der Lehre der zustimmenden Kirchen. Sie gewähren einander Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft. Das schließt die gegenseitige Anerkennung der Ordination und die Ermöglichung der Interzelebration ein. Mit diesen Feststellungen ist Kirchengemeinschaft erklärt ... Die beteiligten Kirchen sind der Überzeugung, daß sie gemeinsam an der einen Kirche Jesu Christi teilhaben und daß der Herr sie zum gemeinsamen Dienst befreit und verpflichtet." Luthers Kleiner Katechismus, die Confessio Augustana, der Heidelberger Katechismus und - um mit zwei Beispielen auch den westeuropäischen Protestantismus einzubeziehen - der Genfer Katechismus  von 1545 und die Confessio Scotica von 1560 sind theologisch miteinander kompatibel.

Noch einmal: Dies nötigt nicht zur Neudefinition des Bekenntnisstandes evangelischer Kirchen oder zu strukturellen Veränderungen, aber es macht sie möglich und erleichtert sie. Die Frage des Bekenntnisses braucht es jedenfalls nicht zu sein, die die Gespräche bekenntnisverschiedener Landeskirchen über eine Kooperation oder Fusion erschwert oder gar blockiert.

9. Die Barmer Theologische Erklärung und die Leuenberger Konkordie erfüllen alle Voraussetzungen, um innerhalb der EKD als Bekenntnisse rezipiert zu werden.

In einer Reihe von gliedkirchlichen Verfassungen oder Grundordnungen wird auf die Barmer Theologische Erklärung ausdrücklich Bezug genommen. Dabei ist nicht immer so klar wie in der Verfassung der Evangelisch-reformierten Kirche (20), daß der Schritt zu einer ausdrücklichen Rezeption als kirchliches Bekenntnis tatsächlich getan ist. So heißt es in der Ordnung der Evangelischen Kirche der Union am Ende der Grundartikel: "Gebunden an das Wort der Heiligen Schrift bejaht die Evangelische Kirche der Union die Theologische Erklärung von Barmen als ein Glaubenszeugnis in seiner wegweisenden Bedeutung für die versuchte und angefochtene Kirche." Wilhelm Hüffmeier kommt in einem Beitrag über die "Bedeutung der Barmer Erklärung für die EKU" (21) zu dem Ergebnis: Der Barmer Theologischen Erklärung wird in der Ordnung der EKU "als 'Glaubenszeugnis' ein ähnlicher Rang zuerkannt wie den altkirchlichen Glaubensbekenntnissen, in deren Gemeinschaft die EKU ihren Glauben 'bezeugt'."

Nicht strittig kann es jedenfalls sein, daß die Barmer Theologische Erklärung alle Voraussetzungen erfüllt, um als Bekenntnis rezipiert zu werden. In wünschenswerter Deutlichkeit haben dies Georg Kretschmar und Wolf-Dieter Hauschild, zwei Theologen lutherischer Prägung, in ihren "Thesen im Anschluß an das Symposium von Reisensburg" (22) ausgesprochen: "Die Barmer Theologische Erklärung vermeidet es zwar, sich ausdrücklich als 'Bekenntnis' zu bezeichnen, aber sie gehört unbezweifelbar in den Aufbruch neuer Bekenntnisbildung seit 1932 in Deutschland hinein; sie schließt ihn ab und krönt ihn. Vor allem weist dieser Lehrtext alle klassischen Merkmale eines Bekenntnisses auf: Er ist neue Konkretion und Anwendung des alten Christusbekenntnisses auf eine besondere Situation mit existentiellem Anspruch; in ihm gehören Bejahungen und Verwerfungen zusammen, wie es gegenüber Jesus Christus letztlich nur Bekennen oder Verleugnen geben kann; es bekräftigt im Rückbezug auf die Heilige Schrift fundamentale Glaubensüberzeugungen gegenüber einer aktuellen Irrlehre. Im Bekenntnis geht es nicht nur um eine partikulare, sondern um die eine, heilige, allgemeine und apostolische Kirche im Sinne des Nizänums. Damit wird zugleich die konfessionalistische Verengung des Bekenntnisbegriffes, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert in lutherischen Positionen artikulierte, aufgebrochen: die Meinung, es sei für ein Bekenntnis konstitutiv, zu allen fundamentalen Lehrpunkten Aussagen zu machen, und die Rede vom kirchengründenden Bekenntnis, in der das Bekennen gerade auf eine Konfession als Partikularkirche bezogen ist. Der Streit um Barmen unter Lutheranern war weithin auch ein Konflikt zwischen verschiedenen Bekenntnisbegriffen. Es steht einer Kirche wohl an, den eigenen Sprachgebrauch und die damit verbundenen Konzeptionen vom Neuen Testament und von den Erfahrungen der Väter und Brüder her korrigieren und weiterführen zu lassen. Gerade wenn Bekenntnisse gemäß lutherischer Tradition 'Symbola' sind, in denen der 'einhellige, allgemeine christliche Glaube' aufgrund der Heiligen Schrift gegen Irrtümer der Zeit festgehalten wird ..., ist es nur angemessen, die Barmer Theologische Erklärung solchen Bekenntnissen zuzuordnen."

Was für die Barmer Theologische Erklärung zu sagen war, gilt cum grano salis auch für die Leuenberger Konkordie. Es ist richtig, daß die Konkordie sich selbst nicht als Bekenntnis versteht und den unterschiedlichen Bekenntnisstand der unterzeichnenden Kirchen ausdrücklich anerkennt und würdigt. Das schließt aber nicht aus, daß der Text in seiner mittlerweile dreißigjährigen Wirkungsgeschichte von einzelnen Kirchen als Bekenntnis qualifiziert und rezipiert wird. Eine der wichtigsten Funktionen des Bekenntnisses ist es, das gemeinsame Verständnis des Evangeliums auszusprechen und festzuhalten. Eben dies ist, wie z.B. Abschnitt 6 der Leuenberger Konkordie zeigt, die explizite Absicht der Leuenberger Konkordie.

Ein prinzipieller Widerstand dagegen, die Barmer Theologische Erklärung oder die Leuenberger Konkordie als Bekenntnisse zu rezipieren, steht nicht nur im Gegensatz zu der grundlegenden Einsicht, daß Bekenntnisbindung und Bekenntnisbildung zusammen gehören (s.oben These 6). Er setzt sich auch dem Verdacht aus, daß die konfessionellen Unterschiede und Prägungen der Reformationszeit unantastbar gemacht werden sollen.

10. Die EKD ist wie ihre Gliedkirchen eine bekenntnisbestimmte Kirche. Das für die EKD bestimmende Bekenntnis wird in der Präambel und den Grundbestimmungen ihrer Grundordnung entfaltet.

Gelegentlich wird, in kritischer Absicht, gefragt (23), ob die EKD selbst ein Bekenntnis habe. Wer die Grundordnung der EKD mit den Kirchenverfassungen und Grundordnungen ihrer Gliedkirchen vergleicht, wird in dieser Hinsicht bei der EKD kein Defizit erkennen können.

Die Präambel der Grundordnung der EKD hat folgenden Wortlaut: "Grundlage der Evangelischen Kirche in Deutschland ist das Evangelium von Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments gegeben ist. Indem sie diese Grundlage anerkennt, bekennt sich die Evangelische Kirche in Deutschland zu dem Einen Herrn der einen heiligen allgemeinen und apostolischen Kirche. Gemeinsam mit der alten Kirche steht die Evangelische Kirche in Deutschland auf dem Boden der altkirchlichen Bekenntnisse. Für das Verständnis der Heiligen Schrift wie auch der altkirchlichen Bekenntnisse sind in den lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen und Gemeinden die für sie geltenden Bekenntnisse der Reformation maßgebend."

Artikel 1 führt in Absatz 1-2 die Aussage der Präambel über den unterschiedlichen Bekenntnisstand in den Gliedkirchen präzisierend weiter: "(1) Die Evangelische Kirche in Deutschland ist die Gemeinschaft ihrer lutherischen, reformierten und unierten Gliedkirchen. Sie versteht sich als Teil der einen Kirche Jesu Christi. Sie achtet die Bekenntnisgrundlage der Gliedkirchen und Gemeinden und setzt voraus, daß sie ihr Bekenntnis in Lehre, Leben und Ordnung der Kirche wirksam werden lassen. (2) Zwischen den Gliedkirchen besteht Kirchengemeinschaft im Sinne der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie). Die Evangelische Kirche in Deutschland fördert darum das Zusammenwachsen ihrer Gliedkirchen in der Gemeinsamkeit des christlichen Zeugnisses und Dienstes gemäß dem Auftrag des Herrn Jesus Christus." Daß die EKD die in den Gliedkirchen geltenden Bekenntnisse "achtet", ist also nicht Ausdruck einer leidenschaftslosen Hinnahme und bloßen Tolerierung, sondern zielt auf das Wirksamwerden der Bekenntnisse "in der Gemeinsamkeit des christlichen Zeugnisses und Dienstes".

Artikel 1 Absatz 3 enthält noch eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Barmer Theologische Erklärung: "Mit ihren Gliedkirchen bejaht die Evangelische Kirche in Deutschland die von der ersten Bekenntnissynode in Barmen getroffenen Entscheidungen. Sie weiß sich verpflichtet, als bekennende Kirche die Erkenntnisse des Kirchenkampfes über Wesen, Auftrag und Ordnung der Kirche zur Auswirkung zu bringen."

Eine EKD, die sich hinsichtlich ihrer Bekenntnisbestimmtheit so versteht, ist weder lutherische noch reformierte noch auch unierte Kirche, sondern als Gemeinschaft von reformatorischen Kirchen unterschiedlichen Bekenntnisstandes eine Größe sui generis. Das macht sie unter den Bedingungen fortdauernder Bekenntnisvielfalt zu einem weiterführenden Modell. Der wohlmeinende Ratschlag, die EKD in eine unierte Kirche zu transformieren, würde diesen Vorzug gerade beseitigen. Denn jede Union im strengen Sinne könnte als Absage an die spezifische Gestalt lutherischer oder reformierter Bekenntnisbestimmtheit verstanden werden. Die EKD muß sich demgegenüber als eine Kirchengemeinschaft verstehen und rechtlich definieren, die Raum läßt für unterschiedliche Ergebnisse bei der Beschreibung des kirchlichen Bekenntnisstandes.

21. Juni 2002


Fußnoten:

(1) Gefahr der Gigantomanie. Die konfessionellen Zusammenschlüsse, die es in der EKD gibt, sind notwendig, (zeitzeichen 5/2002, S. 33-35, Zitat: S. 33f, hier nach dem Originalwortlaut vervollständigt).

(2) Vgl. dazu: Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation. Hg. v. A. Burgsmüller und R. Weth, Neukirchen-Vluyn 1983, S. 64f.

(3) Vom Gebrauch der Bekenntnisse. Zur Frage der Auslegung von Bekenntnissen der Kirche. Ein Beitrag der Kammer für Theologie der EKD, EKD-Texte 53 (Zitat: S. 2).

(4) Vom Gebrauch der Bekenntnisse (s. oben Anm. 3), S. 4.

(5) Vom Gebrauch der Bekenntnisse (s. oben Anm. 3), S. 4f.

(6) E. Jüngel, Bekennen und Bekenntnis, in: Theologie in Geschichte und Kunst. Walter Elliger zum 65.
Geburtstag. Hg. v. S. Herrmann und O. Söhngen, Witten 1968, S. 94-105 (Zitat: S. 105). Vgl. auch den neueren Beitrag von E. Jüngel: Einheit gewinnt durch Vielfalt. Das Gegenüber verschiedener Landeskirchen in der EKD führt zur Besinnung auf das eigene Bekenntnis, zeitzeichen 5/2002, S. 36-39, dort 37.

(7) Vom Gebrauch der Bekenntnisse (s. oben Anm. 3), S. 10.

(8) Vom Gebrauch der Bekenntnisse (s. oben Anm. 3), S. 10.

(9) Vom Gebrauch der Bekenntnisse (s. oben Anm. 3), S. 4.

(10) Vom Gebrauch der Bekenntnisse (s. oben Anm. 3), S. 5.

(11) Der Text ist am leichtesten zugänglich in dem Band: Kundgebungen. Worte, Erklärungen und Dokumente des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Band 2: 1981-1991. Hg. v. Manfred Falkenau, Hannover 1996, S. 189-192 (Zitat: S. 190).

(12) Vom Gebrauch der Bekenntnisse (s. oben Anm. 3), S. 9.

(13) Bekennen und Bekenntnis (s. oben Anm. 6), S. 94.98f.

(14) Vom Gebrauch der Bekenntnisse (s. oben Anm. 3), S. 6.

(15) Vom Gebrauch der Bekenntnisse (s. oben Anm. 3), S. 5.

(16) Vom Gebrauch der Bekenntnisse (s. oben Anm. 3), S. 6.

(17) Vgl. oben Anm. 11.

(18)  Vgl. seinen Aufsatz: Die wundersame Rückkehr der Konkordienformel in die württembergische Landeskirche, ZThK 95, 1998, S. 462-498, Zitat: S. 466. Es heißt dort weiter: "Ihrem ursprünglichem Sinne nach ist die Formel 'Bekenntnisse der Reformation' ja eine vor allem in den Verfassungen der unierten Kirchen verwendete Alternative zu der Formel von den 'Bekenntnissen (bzw. Bekenntnisschriften) der lutherischen Kirche'. Während mit der letzteren in der Regel das Konkordienbuch gemeint war und damit eine Kirche auf den lutherisch-konfessionellen Typus festgelegt wurde, sollte mit der Formel 'Bekenntnisse der Reformation' die erst in nachreformatorischer Zeit entstandene Konkordienformel grundsätzlich ausgeklammert, der Raum für die Union und für die Aufnahme des Heidelberger Katechismus geöffnet werden" (a.a.O. S. 466). "Die in dem Kirchenverfassungsgesetz von 1920 zur Bestimmung des Bekenntnisstandes der württembergischen Landeskirche gebrauchte Formel 'Bekenntnisse der Reformation', die an die Stelle der seit dem frühen 19. Jahrhundert gebrauchten Formel vom 'evangelischen Lehrbegriff' trat, ist sowohl nach ihrem ursprünglichen Sinn wie nach dem Verständnis der Landeskirchenversammlung von der Formel 'Bekenntnisse der lutherischen Kirche' oder 'Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche' deutlich unterschieden" (a.a.O. S. 498).

(19) Gefahr der Gigantomanie (s. oben Anm. 1), S. 35.

(20) In § 1 (Grundlegung) hat Abs. 4 folgenden Wortlaut: "Als Urkunden des Bekenntnisstandes der Evangelisch-reformieren Kirche ... gelten die altkirchlichen Bekenntnisse ..., der Heidelberger Katechismus und die Theologische Erklärung von Barmen vom 31. Mai 1934."

(21) In: Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen. Referate des Internationalen Symposiums auf der Reisensburg 1984. Hg. v. W.-D. Hauschild, G. Kretschmar und C. Nicolaisen, Göttingen 1984, S. 425-445 (Zitat: S. 437).

(22) In: Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen (s.oben Anm. 21), S. 461-467 (Zitat: S. 462f).

(23) In den Beitrag des Präsidenten des Lutherischen Kirchenamtes, Dr. Friedrich Hauschildt, für idea Nr. 65/66 vom 10. Juni 2002 wird sogar die Behauptung aufgestellt, die EKD habe "selbst keine Bekenntnisgrundlage".