Predigt am Pfingstsonntag, 23. Mai 2021, um 10 Uhr in der St. Matthäuskirche in München

Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland

Es gilt das gesprochenen Wort

Predigttext 1 Mose 11, 1-9

1 Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. 2 Als sie nun von Osten aufbrachen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. 3 Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! – und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel 4 und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde. 5 Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. 6 Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. 7 Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! 8 So zerstreute sie der HERR von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. 9 Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Welt Sprache und sie von dort zerstreut hat über die ganze Erde.

Liebe Pfingstgemeinde,

es ist kein enthusiastisches Geistwort, das uns die Ordnung der Predigttexte am heutigen Pfingstfest 2021 mit auf den Weg gibt, sondern eine Geschichte, die nachdenklich macht. Aber vielleicht passt die Nachdenklichkeit, die der heutige Predigttext erzeugt, ja am besten zu unserer Gemütsverfassung in diesen Tagen. Denn Nachdenklichkeit ist ein Gefühl, das viele von uns nach mehr als einem Jahr Pandemie empfinden. Nachdenklichkeit und auch tiefe Müdigkeit. An diesem Pfingstfest 2021 ersehnen wir Kraft für unsere erschöpften Seelen. Wir erhoffen Orientierung von den alten Worten der Bibel, die schon so viele Menschen durch schwere Zeiten getragen haben. Wir machen unsere Ohren weit auf, weil wir uns gerade jetzt, wo wir so viele Fragen haben, etwas sagen lassen wollen.

Und hören nun diese alte Geschichte vom Turmbau zu Babel, eine jener Geschichten, die viele von uns schon aus der Kindheit kennen, die irgendetwas Tiefes, etwas Archetypisches in uns anrührt, bei der einem – so geht es mir jedenfalls – gleich Bilder aus den Bilderbüchern der Kindheit oder Gemälde aus der Kunst in den Sinn kommen.

Ich kann mich noch erinnern, dass ich in meiner Kindheit nicht verstanden habe, warum Gott die Menschen bestraft, warum das so schlimm sein soll, so einen Turm zu bauen. Ich jedenfalls fand es immer ganz toll, wenn ich mit meinen Holzklötzen spielte und einen riesengroßen Turm baute und so lange immer höher baute, bis er zu wackeln begann und irgendwann einstürzte. Und wenn ich ehrlich bin, geht es mir bis heute genauso, wenn ich mit meinem 2-jährigen Enkel spiele und die Duplosteine so hochbaue, dass sie ihn überragen. Ich habe dabei mindestens genauso viel Spaß wie er.

Anders als in meiner Kindheit verstehe ich jetzt aber viel besser, warum diese Geschichte vom Turmbau zu Babel eine so wichtige, eine so aussagestarke, eine so weise Geschichte ist. Gerade jetzt hat diese Geschichte eine besondere Bedeutung, da wir darüber nachdenken, wie es nun eigentlich weitergehen soll nach dieser Pandemieerfahrung, die nicht nur unsere Seelen erschüttert und verwundet hat, sondern unser ganzes Lebensgefühl und unser ganzes Weltverständnis. Ich verstehe die Geschichte vom Turmbau zu Babel an Pfingsten 2021 als Ruf nach vorne, als Ruf in die Neuorientierung, als Ruf in die Freiheit hin zu einer heilsamen Selbstbegrenzung.

„Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.“ Gott setzt dem Menschen, der meint, alles zu können, der beginnt, sich selbst schon wie Gott zu fühlen, der seine Macht in den Himmel wachsen sieht, durch die Sprachverwirrung eine klare Grenze. Die Macht des Menschen ist gebrochen, weil alle unterschiedliche Sprachen sprechen und nicht mehr zusammenarbeiten können.

Gott weist uns in die Grenzen. Es geht hier nicht um die Eitelkeit Gottes. Es geht nicht um göttliche Machtsicherung. Es geht nicht um Kleinhalten des Menschen. Sondern es geht um Gottes Liebe zu seiner Schöpfung, seiner Liebe zum Menschen, den er geschaffen hat zu seinem Bilde. Und um Gottes Liebe zur außermenschlichen Natur, die mit dem Menschen zusammen Gottes Schöpfung ist.

Die Pandemie hat uns schmerzlich unsere Grenzen gezeigt. Wir sind nicht so mächtig wie wir glauben. Vielleicht kann die neue Nachdenklichkeit, die daraus erwächst, der erste Schritt zu einem guten Leben in den Grenzen sein, die Gott uns aus Liebe gegeben hat.

Man kann die Geschichte der letzten Jahrhunderte als Geschichte einer großen Machtergreifung des Menschen sehen. Dass der Mensch wirkmächtig ist, dass wir die Welt gestalten und Zivilisationen aufbauen, dass sich Kulturen entwickeln, die Frucht menschlicher Höchstleistungen sind, das ist Teil des Auftrags und der Begabungen, die Gott uns gegeben hat. Und es ist etwas Wunderbares. „Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte“ – so heißt es in der Schöpfungsgeschichte in 1. Mose 2,15. Und gegenüber einer übermächtigen Natur war die Entwicklung der Wissenschaften ein Segen. Man muss sich nur klarmachen, wie vielen Menschen die Medizin das Leben gerettet hat und rettet, um diesen Segen zu erkennen. Ja, der Mensch ist Gestalter der Welt – und das ist gut so! Viele Geschichten in der Bibel sprechen davon.

Aber der Mensch ist eben nicht nur Gestalter und Macher, sondern er ist auch Empfänger, einer, der seine Grenzen anerkennt, der sich etwas schenken lässt, der Aktivität und Ruhe in Balance hält. Die Krone der Schöpfung ist nicht der Mensch, sondern der Sabbat! Am 7. Tag ruhte Gott. Wir müssen heute erkennen, dass wir Menschen unsere Grenzen vergessen haben – wie die Menschen, die den Turm zu Babel gebaut haben.

Nichts macht das so eindrucksvoll klar wie eine Metapher des amerikanischen Theologen Larry Rasmussen. Stellen wir uns ein 10-bändiges Werk mit jeweils 500 Seiten vor, in das die Geschichte des Kosmos eingeschrieben ist. Selbst wenn wir die ersten 10 Milliarden Jahre der Entwicklung des Kosmos überspringen und den Beginn des Werkes bei den letzten 5 Milliarden Jahren ansetzen, dann erzählt jede Seite die Geschichte von 1 Million Jahren. Zellulares Leben wird erstmals im Band 8 erwähnt. Der größte Teil dieses Bandes handelt von Pflanzen und später von Amphibien. Warmblüter tauchen auf S. 455 dieses Bandes auf. Erst auf S. 499 des letzten Bandes, also auf der vorletzten Seite des gesamten Werkes, erscheint der Mensch. Die letzten beiden Worte auf der allerletzten Seite erzählen schließlich die 6000 Jahre dauernde Geschichte menschlicher Zivilisation bis heute. Das Erstaunliche ist die letzte Silbe des letzten Wortes des letzten Bandes: Hier haben die Menschen, gegenüber dem Eingebettetsein in die Natur von Anbeginn an, den Spieß umgedreht und einen Prozess begonnen, der zur fortgesetzten Vernichtung natürlichen Lebens führt.

Warum hören wir nicht auf die Rufe der biblischen Propheten zur heilsamen Selbstbegrenzung? Warum machen wir nicht ernst mit der Erkenntnis, dass wir nicht selbst Gott sind, sondern Menschen, und vor Gott Verantwortung tragen füreinander und für Gottes Schöpfung?

Es ist ja nicht göttliche Sabotage der menschlichen Lebensmöglichkeiten, die in den uns gegebenen Grenzen zum Ausdruck kommt, sondern es sind heilsame Grenzen, die ein gutes Leben ermöglichen.

Unsere Endlichkeit annehmen, anstatt wissenschaftlichen Heilslehren aus der digitalen Welt des Silikon Valley auf den Leim zu gehen, die des Menschen Unsterblichkeit versprechen.

Die Unverfügbarkeit des Lebens achten, anstatt die aktive Beendigung des Lebens nicht mehr nur als tragischen Grenzfall zu sehen, sondern zu einer von mehreren normalen Optionen zu machen.

Gott Schöpfer sein lassen, anstatt die Möglichkeiten moderner Reproduktionsmedizin dazu zu missbrauchen, sich nun selbst zum Schöpfer aufzuschwingen und den Menschen zum eigenen Bilde zu erschaffen.

Den eigenen Besitz auf ein Maß beschränken, das mit einem Leben in Würde aller Menschen vereinbar ist, anstatt die Anhäufung von Besitz zum Selbstzweck zu machen.

Mit den Ressourcen der Natur so umgehen, dass auch zukünftige Generationen gut leben können, anstatt die eigenen Lebenschancen zum Maß aller Dinge zu machen.

Das ist ein Leben aus freier Selbstbegrenzung, ein Leben in Verantwortung vor Gott und den Mitmenschen. Es ist – davon bin ich zutiefst überzeugt – ein gutes Leben. Die Tür dazu steht nach der Erschütterung der Pandemie weit offen.

Der Heilige Geist ist an diesem Pfingstfest 2021 ein Geist der Nachdenklichkeit, ein Geist des wechselseitigen Hinhörens, ein Geist des Hörens auf Gott und die so lebensfreundlichen Orientierungen, die Gott uns gegeben hat und die über die Gebote, die Prophetenworte, die Psalmen, die Bergpredigt und die Gleichnisse Jesu und die Christuszeugnisse des Paulus Eingang in unsere Herzen finden.

Das ist das Neue bei der Aufhebung der babylonischen Sprachverwirrung im Pfingstgeist. Es ist nicht mehr der Geist der menschlichen Machtergreifung wie er im Turmbau zu Babel zum Ausdruck kommt. Sondern es ist ein Geist der Geschwisterlichkeit, der uns Menschen in unserer ganzen Unterschiedlichkeit füreinander öffnet und miteinander verbindet. Für mich ist der Pfingstgeist in diesem Jahr kein Geist enthusiastischer religiöser Erfahrungen, sondern ein Geist der Nachdenklichkeit, ein Geist des Trostes und auch ein Geist der Zuversicht.

Wir werden anders aus dieser Pandemie herausgehen als wir hineingegangen sind. Und ich hoffe, dass Gottes Geist, den wir an Pfingsten erfahren, uns Kraft zu einem Neuanfang gibt – einem Neuanfang, der geprägt ist von Achtsamkeit füreinander, von Dankbarkeit für die kleinen Dinge des Alltags, die wir so lange für viel zu selbstverständlich genommen haben, und auch von Solidarität mit denen, die von der Pandemie besonders schwer getroffen worden sind. Ich wünsche mir, dass der Pfingstgeist uns alle neu zusammenführt.

Die Zukunft öffnet sich nicht dadurch, dass der Mensch versucht, wie Gott zu werden. Der Turmbau führt ins Scheitern. Sondern die Zukunft hat sich schon dadurch geöffnet, dass Gott Mensch geworden ist und uns Menschen nie mehr verlässt: „Siehe ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“

Dass wir das immer wieder von neuem in unseren Herzen spüren, darum bitten wir an Pfingsten. Wir brauchen das an diesem Pfingsten im Jahr 2 nach Beginn der Pandemie. Gerade jetzt. Und wir erfahren es. In der Gemeinschaft hier und über die digitalen Kanäle auch in den Wohnzimmern. In der Musik, die wir hören und vielleicht auch mitsummen. In den Worten der Bibel, die von Gottes liebender Zuwendung zu uns Menschen erzählen. Und in den Erfahrungen des Trostes und der Befreiung, die wir heute machen.

Gott ist da. Immer. Und hilft. Heilt. Erneuert. Lässt es Pfingsten werden.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN