„Internationale Institutionen stärken“

Der EKD-Friedensbeauftragte Renke Brahms zu den Lehren nach Ende des Ersten Weltkriegs

Bronzeskulptur „Trauernde Soldaten“ auf dem Soldatenfriedhof bei Langemarckin

Bronzeskulptur „Trauernde Soldaten“ auf dem Soldatenfriedhof bei Langemarckin Westflandern, Belgien. Auf dem Friedhof liegen im 1. Weltkrieg während der Flandernschlacht gefallene deutsche Soldaten. ​

Bremen (epd). Am 11. November 1918 unterzeichneten deutsche und alliierte Offiziere in einem Eisenbahnwaggon im Wald von Compiègne bei Paris einen Waffenstillstand und beendeten damit den Ersten Weltkrieg. Die verheerende Bilanz der Katastrophe waren mehr als acht Millionen tote Soldaten und über 21 Millionen Verwundete. Ein Fanal der Geschichte, aus dem Lehren gezogen werden müssen, fordert der Friedensbeauftragte des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der leitende Bremer Theologe Renke Brahms, im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Der Erste Weltkrieg wird oft als „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Wie sehen Sie das?

Renke Brahms: In der Tat kann von einer Urkatastrophe gesprochen werden. Die Bezeichnung weist auf das Versagen der politisch Verantwortlichen in Deutschland und ganz Europa hin, das die Zerrüttung der Zivilisation und Millionen Tote auf den Schlachtfeldern zur Folge hatte und das Auswirkungen für viele Jahrzehnte hatte: eine Nachkriegsordnung konnte nicht wirklich etabliert werden, das Aufkommen des Nationalsozialismus konnte nicht verhindert werden und der Zweite Weltkrieg forderte wiederum Millionen Tote und verband sich mit dem schrecklichen Verbrechen des Holocausts. Und auch der Kalte Krieg war eine der Folgen dieser Entwicklungen. Dennoch sollten wir vorsichtig mit diesem Begriff umgehen. Er ist auch von einer sehr deutschen oder europäischen Perspektive geprägt.

Deutsche Perspektive, wie meinen Sie das?

Brahms: Gesamtgeschichtlich gab es andere schreckliche Katastrophen, zum Beispiel die Pest, die halb Europa auslöschte oder den Dreißigjährigen Krieg. Noch wichtiger ist mir allerdings die globale Perspektive. Es ist eine schleichende Katastrophe, das jährlich Millionen Menschen den Hungertod sterben, obwohl genug für alle da wäre. Und es ist eine Katastrophe, dass wir den Klimawandel nicht genug bekämpfen, der schon jetzt Menschenleben kostet und eines Tages mehr Opfer fordern wird als wir es uns je vorstellen können, wenn wir nicht jetzt umsteuern. Keine Situation lässt sich mit der anderen vergleichen, aber wir sollten nicht in der Begriffsklärung der Vergangenheit stehenbleiben, sondern die Gegenwart betrachten und die richtigen Folgen für die Zukunft daraus ziehen.

Vor den Schlüssen aber noch die Frage, was eigentlich in den Krieg geführt hat und wie sich in diesem Zusammenhang die Kirchen verhalten haben?

Brahms: Die Entstehungsgeschichte ist komplex. Zwei wichtige Aspekte sind sicher erstens das rein auf die eigene Nation ausgerichtete Interesse und zweitens ein Versagen jeglicher Diplomatie, die wohl die notwendige und mögliche Deeskalation der Konflikte ermöglicht hätte. Und die Kirche hat in der übergroßen Mehrheit leider nicht zur Befriedung beigetragen, sondern im Gegenteil den Krieg in Reden und Predigten gefeiert und herbeigesehnt, verstrickt in eben jenes nationale Denken - und unterstützt von einer Theologie der nationalen Identität.

Gab es Beispiele für Menschen, die sich dem widersetzten?

Brahms: Nur wenige. Und die wurden nicht gehört oder mundtot gemacht. Einer von ihnen war der Theologe Friedrich Siegmund-Schultze, der noch Anfang August 1914 auf einer Friedenskonferenz in Konstanz zusammen mit anderen Kirchenvertretern aus der Ökumene versucht hatte, die Kirchen zu einem gemeinsamen Zeugnis für den Frieden zu bewegen. Für die Kirchen heute verbindet sich mit diesem Namen der Friedrich-Siegmund-Schultze-Preis für gewaltfreies Handeln, der in diesem Jahr auch als EKD-Friedenspreis an die Organisation Eirene verliehen worden ist.

Friedrich Siegmund-Schultze gilt ja als Pionier der Friedensbewegung und sagte, Kriegführen sei gegen den Willen Jesu. Was sind für Sie die wichtigsten Lehren des Ersten Weltkrieges?

Brahms: Im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte drängt es sich aktuell auf, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen internationalen Verträge und Institutionen zu stärken und daran festzuhalten - und nicht etwa zu kündigen. Auch wenn sie weiterentwickelt werden müssen, haben sie einen hohen friedenssichernden Wert, weil sie ein Regelwerk bieten, auf das sich alle Staaten beziehen können. Auf den Verlauf des Ersten Weltkrieges blickend, lässt sich sicher sagen, dass Kriege nicht gewonnen werden können - es sei denn durch Millionen Opfer und eine Ermüdung einer Partei. Das ist friedenspolitisch Unsinn und friedensethisch nicht verantwortbar.

Sie selbst fordern in ihrem Amt als Friedensbeauftragter des Rates der EKD seit Jahren, mehr auf gewaltfreie Konfliktlösungen zu setzen...

Brahms: Ja, am Ende muss immer auf dem Weg der Diplomatie eine politische Lösung gefunden werden. Und warum sollte man nicht gleich damit anfangen? Vom Ende des Ersten Weltkrieges her gedacht muss eine Nachkriegs- oder Nachkonfliktordnung hergestellt werden, die nicht wieder neue Konflikte vorprogrammiert. Es gehört zum Beispiel zu den großen friedensfördernden Maßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg, dass durch den Marshallplan die deutsche Bevölkerung nicht demoralisiert, sondern unterstützt worden ist. Darüber hinaus sind die vielen Versöhnungsprojekte zwischen den europäischen Staaten zu nennen – so wie es dann auch in Südafrika, Ruanda und in anderen Ländern darauf ankam, Versöhnungsprozesse zu beginnen und zu fördern.

epd-Gespräch: Dieter Sell