Pro und Contra Mindestlöhne - Gerechtigkeit bei der Lohngestaltung im Niedriglohnsektor

Eine Argumentationshilfe der Kammer der EKD für soziale Ordnung, EKD-Texte 102, 2009

Die Entwicklung des Niedriglohnsektors und das Ziel der gerechten Teilhabe

  1. Der Niedriglohnsektor ist kein gesonderter Lebensbereich am Rande der Arbeitsgesellschaft. Er steht für eine von manchen erwünschte, von anderen abgelehnte Entwicklung der Erwerbstätigkeit selbst – mit Löhnen, die kaum den Einzelnen, geschweige denn Kinder und Familie ernähren, mit Flexibilisierung und Zeitarbeit. Aber auch mit der Chance, gering Qualifizierte, die lange arbeitslos waren, wieder in die Arbeitsgesellschaft einzugliedern. Strukturen, Institutionen, Anforderungen, Anreize und alltägliche Arbeitsbedingungen müssen deshalb auch in diesem Bereich so geordnet werden, dass möglichst viele Menschen „tatsächlich in der Lage sind, ihre jeweiligen Begabungen sowohl zu erkennen, als auch sie auszubilden und schließlich produktiv für sich selbst und andere einsetzen zu können.“ So hat es die Denkschrift des Rates der EKD „Gerechte Teilhabe“ formuliert, die vor allem Investitionen in Bildung und eine aktive Arbeitsmarktpolitik fordert, damit Menschen befähigt werden, ihr eigenes Leben aktiv zu gestalten. Die Fähigkeiten jedes Einzelnen sollen „zur möglichst eigenverantwortlichen Sicherung des Lebensunterhalts und im Interesse aller solidarisch“ eingesetzt werden, heißt es in diesem Text, der warnt, der Niedriglohnsektor dürfe „kein Bereich werden, in dem Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch eine sich stets nach unten bewegende Lohnspirale ausgebeutet werden.“ Die Denkschrift kommt zu der Auffassung, es sollte „in einem reichen Land wie Deutschland“ Ziel sein, diesen Sektor „so klein wie möglich zu halten“. [1] Sie sieht allerdings im Interesse der Teilhabe aller – auch der gering Qualifizierten – keine Alternative zur Beschäftigungsförderung von geringer bezahlten Arbeitsplätzen.

    Das Ziel der gerechten Teilhabe wird ausdrücklich auch in der EKD-Denkschrift „Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive“ (2008) bestätigt. Dabei macht die Denkschrift auf die besondere Verantwortung der Unternehmer und Manager aufmerksam: „Unternehmer haben in diesem Rahmen eine wichtige gestaltende Rolle. Von ihrem Handeln hängt die Umsetzung möglichst großer Chancen für alle wesentlich ab.“ Die Notwendigkeit, im Sinne einer sozialen und nachhaltigen Marktwirtschaft gesellschaftlichen Reichtum zu nutzen, um Wohlstand für alle zu schaffen, hat auch die Synode der EKD bei ihrer Tagung 2006 in Würzburg betont. Damit reagierte sie auch auf die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt etwa ein Fünftel aller abhängig Beschäftigten in Deutschland im Niedriglohnsektor arbeiteten, wobei dieser Sektor seit 1995 um 45% gestiegen war. Etwa 4,8 Millionen Beschäftigte erhielten einen Stundenlohn von weniger als 7,50 Euro. Zwar hat es im Aufschwung der Jahre 2006 bis 2008 an dieser Stelle Verbesserungen gegeben; angesichts der Wirtschaftskrise zeichnet sich inzwischen aber ein wachsender Druck auf den Arbeitsmarkt ab, der die Arbeitslosigkeit erhöhen und die Lage der Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen weiter erschweren wird.

  2. Wert und Würde der menschlichen Arbeit sind in allen christlichen Traditionen wichtige Elemente der Sozialethik. Im Protestantismus hat Arbeit – und zwar im Prinzip jede Arbeit – darüber hinaus eine besondere Bedeutung als „Gottesdienst im Alltag der Welt“, in dem sich die Berufung des Einzelnen durch Gott als Dienst am Nächsten realisiert. Arbeit ist deswegen mehr als eine Ware und kann nicht nur der Logik von Warenmärkten unterliegen. Arbeitsmärkte müssen so gestaltet sein, dass die Würde der Arbeit zum Tragen kommt, zumindest aber nicht beschädigt wird.

    Darin liegt heute angesichts einer global vernetzten Wirtschaftswelt eine besondere Herausforderung. Hochlohnländer wie Deutschland haben auf dem weltweiten Markt nur dann eine Chance, wenn sie sich auf hochwertige Produkte konzentrieren und eine hohe Arbeitsproduktivität sicherstellen. Unter diesen Voraussetzungen brauchen sie hohe Qualifikationsniveaus bei ihren Beschäftigten. Die Chancen der gering Qualifizierten gehen deshalb in den entwickelteren Ökonomien tendenziell zurück, zumal einfache Produktionen leicht verlagerbar sind. Vor diesem Hintergrund muss die Vermeidung unzureichender Qualifikationen einen hohen sozialpolitischen Stellenwert haben. Denn unter den Bedingungen der Globalisierung bieten „vor allem Bildung und Qualifizierung die Chance, einen Arbeitsplatz zu erhalten und dauerhaft vor Armut gesichert zu sein. Allerdings ist es illusorisch anzunehmen, dass allein durch gesteigerte Qualifizierung Arbeitslosigkeit auf Dauer beseitigt werden könnte“, hält die Denkschrift „Gerechte Teilhabe“ fest. Insofern werde es auch weiterhin eine nennenswerte Gruppe von gering Qualifizierten geben, die nur im Niedriglohnbereich eine Chance auf bezahlte Arbeit haben werden.

    Wert und Würde der menschlichen Arbeit realisieren sich in Möglichkeit des Einzelnen, seine Gaben zu entfalten, aber auch in der Anerkennung und Würdigung der Arbeitsleistung und schließlich in der gerechten Gestaltung der Arbeitsverhältnisse. Damit menschenwürdige Arbeit ermöglicht wird, müssen deshalb Mindeststandards eingehalten und darüber hinausgehend Zielvorstellungen einer guten Arbeit realisiert werden – einer Arbeit also, die den grundlegenden Bedürfnissen der Arbeitenden und ihrer Familien entspricht. Dabei geht es, wie das Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage von 1998 feststellt, um „mehr als entlohnte Beschäftigung. Vielmehr muss die Entlohnung in Verbindung mit den staatlichen Steuern, Abgaben und Transfers auch ein den kulturellen Standards gemäßes Leben ermöglichen. Zudem müssen Mitbestimmungsregelungen und humane Arbeitsbedingungen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern persönliche Entfaltungs- und Beteiligungschancen einräumen“. Neben Arbeitnehmerrechten und familienfreundlichen Rahmenbedingungen spielt der Lohn allerdings eine entscheidende Rolle. Es ist allgemein anerkannt, dass das Netto-Arbeitsentgelt für Vollzeit-Beschäftigte nicht so niedrig sein darf, dass sie sich nicht alle Güter kaufen können, deren sie zur dauerhaften Sicherung ihrer physischen Existenz bedürfen. Für die Situation in Deutschland ist unstrittig, dass die berechtigten Ansprüche an den Lohn darüber hinaus gehen. Es reicht also auf keinen Fall aus, wenn Arbeitgeber keine „Hungerlöhne“ zahlen. Allerdings wäre es auch nicht zielführend, sie zur Zahlung von Löhnen zu verpflichten, die über kurz oder lang zu Verlusten des Unternehmens führen.


  1. Gerechte Teilhabe, Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland, 2006, Zusammenfassung und Empfehlungen, S. 13

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