Gedanken über die Zukunft der Evangelischen Kirche
Manfred Kock
Nikolaikirche Leipzig
Das mir gestellte Thema verlangt Analyse und Vorausschau. Im Blick auf die Zukunft der Kirche in unserem Land gilt ein Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland als Experte. Als ich 1997 in dieses Amt gewählt wurde, lautete die Eingangsfrage von 80% aller Interviews: "Der Kirche laufen die Schäfchen weg, was muß die Kirche tun?"
Mit Prophezeiungen, was die Zukunft der Kirche angeht, fing ich früh an. Vor 35 Jahren, als junger Pastor in einer Ruhrgebietsgemeinde, hatte ich - gemeinsam mit einem Freund - eine futurologische Szene über die Kirche in Recklinghausen entwickelt und in einer Kirchenzeitung veröffentlicht. Neunzehnhundertvierundachtzig war unser Symboljahr - damals, 20 Jahre vorher -, nach dem Titel eines damals berühmten Buches von George Orwell.
Volkskirche, so sahen wir voraus, würde es dann nicht mehr geben. Kirche hätte sich gewandelt zu einem Netz kleiner Gruppen engagierter Männer und Frauen; an die Stelle der Kirchensteuer sei ein System freiwilliger Beiträge getreten; das Ritual volkskirchlicher Taufen und Konfirmationen hätte ausgedient; die Menschen würden sich religiöse Erbauung, je nach Milieu, in Fußballstadien oder Museen oder Konzerthallen suchen. Die Lutherkirche in Recklinghausen-Süd - so konkretisierten wir das - wäre ein Museum - denn für eine gottesdienstliche Gemeinde sei das Kirchengebäude unbezahlbar geworden. Die Gemeinden würden sich vor allem entsprechend dem urchristlichen Gemeindeverständnis "hier und dort in den Häusern" (Apg 2,46) versammeln.
Nun, 16 Jahre nach dem futurologischen Jahr 1984 ist die Lutherkirche kein Museum. Auch lebendige Gottesdienste finden in ihr weiterhin statt. Eine treue Gemeinde hängt an ihrem Gotteshaus. Tatsache ist, daß es kein Ereignis in Deutschland gibt, das in dieser Regelmäßigkeit stattfindet und von so vielen Menschen wahrgenommen wird. Natürlich gibt es auch schwach besuchte Gottesdienste. Aber allein schon, daß der Gottesdienst stattfindet, regelmäßig und fast überall auch flächendeckend, macht ihn zu einem kollektiven Gedächtnisort - unabhängig von der Zahl der Teilnehmenden. Die Gesellschaft wäre arm ohne dieses regelmäßige Gedächtnis Auch die Kirchensteuer gibt es noch. Es sammeln sich Gruppengemeinden mit Hauskreisen. Die Kirche ist nach wie vor eine ziemlich große Institution. Vor allem über Amtshandlungen an den Schnittstellen des Lebens und als Trägerin diakonischer Angebote wirkt sie weiterhin als ein wichtiger Faktor in unserer Gesellschaft.
Die Evangelische Kirche in unserem Land ist gewiß nicht unverändert, - aber sie hat sich eben nicht nach dem Modell einer Freiwilligkeitskirche organisiert, wie wir das als junge Leute geträumt haben. Die Vorstellung, Kirche würde "gesundschrumpfen", hat sich als Irrtum herausgestellt. Auch eine kleiner gewordene Kirche ist ein corpus permixtum mit gesunden und kränkelnden Bereichen, mit Heilungsprozessen und mit so manchem trauervollen Abschied. Der Prozentsatz der aus Überzeugung entschiedenen Mitglieder wird nicht höher, der der Distanzierten nicht geringer.
1. Kirche im Umbruch
Dennoch sind wir Kirche im Umbruch. Distanz und Mitgliederschwund sind ein äußeres Zeichen mit inneren Folgen, auf die es zu reagieren gilt.
1.1 Distanz und Mitgliederschwund
Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung der östlichen und westlichen Landeskirchen steht die evangelische Kirche in unserem Land an einer Epochenwende ihrer Arbeit. Teile der Bevölkerung haben zur Kirche kein Verhältnis mehr. Konfessionslosigkeit ist ein Massenphänomen im Osten. Distanz ist die Haltung der meisten Kirchenmitglieder im Westen, d.h., die meisten leben ohne kontinuierlichen, institutionellen religiösen Bezug.
Die kirchliche Wirklichkeit in Ost und West ist nicht die gleiche - aber beide Situationen sind auf dem Wege, sich einander anzunähern.
In den östlichen Bundesländern ist die Mehrheit der Bevölkerung konfessionslos, zum Teil schon in der dritten Generation, ohne ein Verhältnis zur Kirche und aufgewachsen in der Ideologie, Religion sei Opium des Volkes. Eine Kirche in dieser Umgebung hat eine besondere Qualität der Minderheit entwickelt: Sie war zwar über Jahrzehnte nicht befugt, im Gesellschaftsgefüge offiziell mitzuwirken, aber sie lebte in dem Bewußtsein, ein entschiedenes Gegenüber zu sein. Diese so beschriebene Minderheitskirche hat eine bedeutende Rolle in dem historischen Umbruch gespielt, der im November 1989 zum Fall der Mauer führte.
Es waren - wie so oft in der Menschheitsgeschichte - nicht nur große Einzelpersönlichkeiten, die die tiefe Veränderung der Verhältnisse herbeigeführt haben. Es waren in Dresden und hier in Leipzig und in zahlreichen anderen Städten und Dörfern der DDR namenlose, für die Nachwelt jedenfalls weithin namenlose Bürgerinnen und Bürger, die mit Mut und Zuversicht das Alte zum Einsturz und das Neue auf den Weg gebracht haben. Es waren die Christinnen und Christen, die friedliches Widerstehen geübt hatten; die mit ihren Gebeten und Kerzen dazu beitrugen, daß der Umbruch gewaltlos geschah.
Es waren die, die dageblieben waren, die lange Jahre beharrlich versucht hatten, innerhalb des Systems Humanisierung anzumahnen, für Frieden einzustehen, für den äußeren Frieden mit dem Motto "Schwerter zu Pflugscharen" und für den inneren Frieden, d.h. für den Umgang miteinander ohne Haß und ohne Gewalt mit denen, die Macht ausübten. "Entfeindung" war das Stichwort, dem viele verpflichtet waren, die sich einsetzten für Frieden, für Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.
Lassen sich mich einige Worte zu einem sagen, dem ich seit Anfang der Siebziger Jahre verbunden bin - zu Friedrich Schorlemmer. Ich begegnete ihm zum ersten Mal, als er noch Jugend- und Studentenpfarrer in Merseburg war. Ich kenne seine Lebensgeschichte und seinen politischen Weg seit dieser Zeit.
Ende November vorigen Jahres hat Freya Klier hier in Leipzig erklärt, sie habe es satt, sich die Lebenslüge von Schorlemmer weiter anzuhören. ( FAZ vom 1.12.1999)
Das war ein böses Wort und Wasser auf die Mühle derer - vor allem im Westen - die allen pauschal mißtrauen, die in der DDR ausgehalten haben. Ich kann sagen, Schorlemmers Biographie weist es aus: Er hat der Ideologie der DDR widerstanden; er ist für viele damals ein Halt und ein Übermittler humanen Geistes gewesen. Er hat viele junge Leute mit Literatur und Ideen bekannt gemacht, die ihnen in sozialistischen Bildungssystemen vorenthalten oder verzerrt dargestellt wurden. Er hat für Menschenrechte, für Rede- und Pressefreiheit gestritten. Dafür ist er schon benachteiligt worden, als Freya Klier noch ein FDJ-Mädel war. Er hat Stasi-Schikanen erlitten, ist beobachtet und ausspioniert worden. Es gab bei der Stasi ein "Zersetzungsprogramm" gegen ihn noch bis in den Herbst 1989.
Mit den Attacken auf Schorlemmer wird immer wieder auch die Evangelische Kirche angegriffen. Sie sei zu angepaßt und mitläuferisch gewesen und sei den eigentlichen Widerstandshelden in den Rücken gefallen.
Manche Kirchen- und Gemeindeleitung ist zu DDR-Zeiten sehr vorsichtig und gewiß auch ängstlich gewesen, und es gab ja auch begründete Angst vor der Macht des Systems. Der SED und ihrer Stasi ist es zwar gelungen, einzelne zu korrumpieren. Die Kirche als ganze jedoch ist unbeschädigt geblieben. Dafür stehen Namen wie Fork, Krummacher, Noth, Krusche, Hempel und Falcke. Und ich denke an die Leidenden, an Siegfried Schmutzler und an die Studenten zu dieser Zeit.
Die Kirche hat eine eigenartige Minderheiten-Macht gehabt, die vielen geholfen hat. Sie hat vielen ein Dach angeboten und eine Stimme geliehen, ich nenne an diesem Ort Christian Führer. Gewaltloses Widerstehen wurde nicht nur gepredigt, sondern praktisch geübt. Die historische Wirkung haben viele von Ihnen erlebt. Auch Friedrich Schorlemmer jedenfalls gehört zu denen, die an dieser Geschichte einen wichtigen Anteil haben.
Jetzt, - 10 Jahre nach dem Ende der alten DDR, wundern sich viele über das ihrer Meinung nach schwache Bild, das die Kirche jetzt bietet.
Für die Minderheitsdiaspora im Osten kommt aber seit 11 Jahren als neue Erfahrung die Begegnung mit einem Gesellschaftssystem dazu, das die gesellschaftliche Partizipation der Kirche erwartet und ermöglicht.
In dieser Situation zeigt sich: Nach den Erfahrungen des Sozialismus herrscht verbreitet eine Scheu vor jeder formalisierten Bindung an Organisationen mit weltanschaulicher Tendenz. Man läßt sich nach den Erfahrungen, die man gemacht hat, besser auf gar nichts ein, und schon gar nicht mit Brief und Siegel. Und gegen Religion und Kirche hat man überdies tiefsitzende Vorbehalte, die teilweise viel weiter zurückreichen als in die religionsfeindliche Zeit des sozialistischen deutschen Arbeiter- und Bauernstaats. So scheint es schwer vorstellbar, in der gewandelten gesellschaftlichen Lage könne die Kirche wieder ein Ort der Zuflucht für Widerstand sein, wie Ende der 80er Jahre. Im Westen hat Religion keinen schlechten Klang, auch wenn die Leute auf Distanz bleiben: Sie gilt allenfalls der jungen Generation als angestaubt. Diaspora im Osten ist Minderheitsstatus, Diaspora im Westen bedeutet eher Unkenntlichkeit in der verwirrenden Vielfalt von Lebensmöglichkeiten und Sinnangeboten.
Zusammengefaßt:
Für die Kirchen ergibt sich ein Bedeutungswandel, der zweifellos auch ein Bedeutungsrückgang in beiden Teilen unseres Landes ist, dessen Auswirkungen wir in unserer kirchlichen Arbeit richtig einzuschätzen haben.
Es mag uns ein wenig trösten, daß nahezu alle gesellschaftlichen Institutionen in einer Identitätskrise stecken. Den Parteien und Gewerkschaften geht es ähnlich wie den Kirchen. Den Verbindlichkeitsansprüchen und programmatischen Versprechungen der Parteien und Verbände begegnen die Menschen mit Institutionsverdrossenheit und tiefsitzendem Mißtrauen. Die Folgen haben auch die Kirchen zu tragen.
1.2 Die geistig-religiöse Situation
Die aufgezeigte Entwicklung im Osten ist - wie schon gesagt - nicht nur die Folge der konkreten Sozialismusgeschichte. Im Westen liegt es auch nicht daran, daß Menschen in der Kirche schlecht gearbeitet haben. Hier vollzieht sich vielmehr ein komplizierter Prozeß, der auch als Auswirkung eines Freiheitsverständnisses zu verstehen ist, das im Protestantismus selber angelegt ist. Wenn Menschen die Freiheit ihres Gewissens zugesprochen wird, kann man nicht böse sein, wenn sie von dieser Freiheit auch in der Weise Gebrauch machen, daß sie sich von der Institution entfernen. Es gehört zu den Kennzeichen einer freiheitlichen Gesellschaft, daß die Menschen ihre religiösen Überzeugungen und weltanschaulichen Bekenntnisse nach Belieben wählen und wechseln können.
Eine Rückkehr zu einer christlichen Einheitskultur wird es nicht geben. Auch ist eine säkulare Einheitsgesinnung kein erstrebenswerter Zukunftsentwurf. Wir brauchen für die Zukunft eine gesellschaftliche Gestalt unseres Landes, in der viele kulturelle Elemente miteinander und nebeneinander leben und einander gelten lassen.
Die Kirche ist als Institution weithin nicht mehr als erstes gefragt, wenn es um die Sinnfrage geht. Ihre Botschaft wird bestenfalls als freibleibendes Angebot gesehen. Der christliche Glaube hat seine Monopolstellung verloren. Er muß sich auf dem Markt der Sinnstifter als ein Angebot neben anderen behaupten.
Unsere Städte sind verwirrend vielfältige Gebilde. Die vielen Facetten ihrer Wirklichkeit lassen sich ordnen zu einem dreigeteilten Bild:
- die für die Orgien des Konsums gestylten Citys und Zentren, mit gläsernen musikberieselten Arkaden und Passagen, mit Kinopalästen und Fußgängerbereichen - für die Schönen, die fit sind, die Reichen, Mobilen, die Yuppies und Singles, und für alle, die ihnen gleich sein möchten und sich oft genug übernehmen;
- in die ordentlichen Wohnviertel, sortiert nach kleinen, mittleren und höheren Bürgereinkommen;
- in die Abschnitte der sozialen Verwahrlosung, brutalisiert, kriminalisiert, in dichtem Hochhaus-Milieu, Asylunterkünften, Obdachlosenzentren. Längst geht es noch nicht so elend zu wie in der Welt der Müll- und Straßenkinder Indiens oder Südamerikas. Aber es gibt Anzeichen für eine Entwicklung in dieser Richtung.
Das Dreifachbild ist nicht geschlossen und zueinandergeordnet, es ist vielmehr durcheinandergestückelt und zertrennt, äußerlich durch die Schneisen des Verkehrs, innerlich durch Desinteresse. Die Solidarität der Menschen in der Stadt verkommt in Eitelkeit und Elend, in Selbstdarstellung und Selbsthaß.
Christa Wolf sagt in ihrem Buch "Kassandra" (S. 97): "Die meisten beginnen zu spüren, was kommen wird. Ein Unbehagen, das viele als Leere registrieren, als Sinn-Verlust, der Angst macht... zick-zack-laufen. Australien ist kein Ausweg."
Also stehen wir da im Zwiespalt von Sorgen und Freuden, von Ängsten und Wünschen, von Zweifel und Glauben; im Zwiespalt der Gefühle in einer undeutlichen Welt. Und wir stehen mit unserer kirchlichen Institution mittendrin. "Australien ist kein Ausweg."
Die christliche Tradition vermittelt einen Religionsentwurf, der in seinem Selbstverständnis konkurrenzlos ist, der die gesuchte Orientierung auch bieten könnte. Auf dem "Markt" religiöser Angebote einer pluralen Gesellschaft jedoch erscheint der christliche Entwurf als ein Angebot unter vielen. Dieser Entwurf ist dadurch belastet, daß er immer wieder mit den dunklen Seiten der 2000jährigen Geschichte der Kirche konfrontiert. Die erschwert vielen die Akzeptanz. Die Folge ist: Die Distanz vieler Menschen zur Kirche wird größer.
1.3 Dennoch: Erwartungen an die Kirche
Andererseits - und scheinbar in Widerspruch dazu - gibt es gleichbleibende, wenn nicht gesteigerte Erwartungen an die Kirchen. Sie sollen ihre Rolle für die Wertorientierung in der Gesellschaft eher noch entschlossener als bisher wahrnehmen. Auch heute wird - trotz heftiger Kritik an einer zu engen Kooperation zwischen Kirche und Staat - erwartet, daß die Kirche Mund der Stummen und Stimme der Schwachen in der Gesellschaft ist.
Das Vertrauen, das in diesen Erwartungen zum Ausdruck kommt, ist ein hohes Gut, das nicht verspielt werden darf. Mitunter wird mit diesem Zutrauen jedoch ein Forderungskatalog verbunden, der sich an dem früheren Niveau gesellschaftlichen Leistungsvermögens der Kirche orientiert und Gemeinden, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen überfordert.
Auf diese unterschiedlichen, mitunter auch gegenläufigen Tendenzen wird die Kirche sich einstellen müssen. Denn Veränderungen sind nicht nur Bedrohung, sie sind auch Chance. Sie können helfen, neu nach Sinn, Identität und Rückbindung eines persönlich verantworteten Glaubens zu fragen. Sie können den Wunsch wecken, in Gemeinschaft mit anderen diesen Glauben in einer Kirche zu leben, die zur Erneuerung fähig ist und diejenigen wieder neu entdeckt, denen sie ihre Stimme zu leihen hat.
Es gibt freilich die Gefahr, daß kirchliches Leben soweit verarmt, daß es sich aufzulösen droht. Vor allem, wenn die Frage des Überlebens der Gemeinschaft soviel Energie in Anspruch nimmt, daß die Kraft für geistliche Beiträge zum Leben der Gesellschaft nicht mehr ausreicht.
Wenn wir uns ausschließlich um die Kirche sorgten, dann würden wir zum Konventikel schrumpfen. Wir wollen aber nicht nur um uns selber kreisen oder gar in fundamentalistischer Enge rumoren. Daher muß die Beschäftigung der Kirche mit sich selbst, mit ihren Strukturen und Arbeitsformen, immer den Bezug zu ihrer Mission behalten.
2. Kirche im Horizont der Gegenwart Christi
Im 2. Teil will ich beschreiben, wie ich die KIRCHE DER ZUKUNFT sehe. Ich beziehe mich dabei auf zwei Schriften der EKD. Die eine heißt "Kirche mit Hoffnung". Sie entwickelt Leitgedanken, von denen ich mir wünsche, daß sie in allen Gliedkirchen eine größere Bekanntheit genießen als bisher. Diese Schrift ist vor allem aus der Erfahrung der östlichen Gliedkirchen der EKD entstanden. Sie wirbt für kirchliches Handeln in einem Umfeld, da viele erst von weither an kirchlicher Tradition herangeführt werden müssen.
"Fremde Heimat Kirche" ist das andere Werk, das im Anschluß an die von der Evangelischen Kirche in Deutschland veranlaßten Befragungen die westliche Situation beschreibt.
Beide Schriften, die von der Ostsituation geprägte und die, die die Westsituation beschreibt, sehen die Zukunft der Kirche zuversichtlich.
Weil der lebendige Jesus Christus niemals aufhören wird, seine Gemeinde durch das Wirken des Heiligen Geistes zu sammeln, wird es die Kirche - in welcher Gestalt auch immer - zu allen Zeiten geben. Sie hat den Auftrag, mit ihren Gaben und Möglichkeiten allen Menschen das Evangelium zu verkündigen: "Ihr seid nicht sinnlose Zellklumpen auf einem Staubkorn im All, sondern ihr seid geliebte Söhne und Töchter Gottes". Mit dieser Botschaft sammelt die Kirche Menschen zur Gemeinde Jesu Christi, spricht Sündenvergebung an und kann von daher in den Konflikten und Nöten der Gesellschaft für das Leben aller Menschen verantwortlich eintreten.
Die Kirche hat die "Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk", wie es in der BARMER Erklärung von 1934 heißt.
2.1. Zeugnis und Dienst
Die Kirche ist zum Zeugnis von Jesus Christus in die Welt gesandt. Sie ist darum Zeugnisgemeinschaft. Alle Glieder der Gemeinde sind zum Zeugnis berufen. Gerade in einer Gesellschaft, der dieses Zeugnis fremd geworden ist, müssen wir alle Kräfte darauf konzentrieren, daß Menschen dem Evangelium in ihrem persönlichen Leben begegnen und Erfahrungen mit dem Glauben machen können. Das ist für die einzelnen, aber auch für unsere Gesellschaft als Ganze notwendig. Ohne dieses Zeugnis würde diese in egoistischer Kälte erstarren.
Die Kirche ist dazu da, Menschen mit dem Wort, aber auch mit der Tat zu dienen. Sie ist Dienstgemeinschaft für das Heil und das Wohl der Menschen. Weil Jesus Christus jedem Menschen die Freundlichkeit Gottes mit Wort und Tat bezeugt hat, niemanden verloren gab und den Leidenden nahe war, engagiert sich die Kirche im sozialen Bereich und meldet sich in der öffentlichen Diskussion auch um politische Fragen zu Wort.
Die Kirche stellt ein kollektives Gedächtnis dar, das Glaubenserfahrungen und Werte bewahrt und weitergibt. Allein dadurch, daß die Botschaft verkündigt wird - auch wenn im einzelnen Gottesdienst nur kleine Zahlen sich sammeln - erinnert sie daran: Menschen sind nicht einfach Konsumenten und Arbeitsmaschinen. Wer denn, wenn nicht die Kirche, wird in einer kommerzialisierten, am Gelde und an Rentabilität orientierten Gesellschaft den Wert und die Würde des Menschen einschärfen, die unabhängig ist von dem, was einer zahlen und zählen kann?
2.2 Ökumene und der Beitrag des Protestantismus
Der Traum der Ökumene ist nicht die einheitliche, im wesentlichen gleichstrukturierte Kirche. Ökumene besteht vielmehr darin, daß wir auch den geistlichen Reichtum der unterschiedlichen Kirchen in ihrer Vielfalt klarer erkennen und darin miteinander das Zeugnis Christi für die Welt sind.
Es wird weiterhin unterschiedliche Kirchen geben, aber in einer stärkeren Geschwisterlichkeit als bisher.
Dabei muß Ökumene auf den heutigen Begriff gebracht werden: Die Grenzen sind weit, nicht provinziell wie Gemeinde/Bistum/Landeskirche. Ökumene ist die heute bewohnte Welt, ist das Raumschiff Erde - uns anvertraut, um es bewohnbar zu halten. Für diese Herausforderung sind wir in überwältigender Weise auf unsere Dialogfähigkeit angewiesen.
Gemeinsam haben alle Kirchen folgendes zu beachten: Sie müssen aus dem Zentrum des Glaubens leben und ihre Wahrheit in heutiger Realität bezeugen. Sie sollen die Geschichten erzählen von dem Gott Israels, der Vater Jesu Christi ist. Sie sollen ihn bekennen als den Schöpfer und Erhalter, als den Erlöser und Vollender und als den Tröster.
Das kann in dieser Zeit selbstsicherer und banaler Gottlosigkeit die Dimension der Transzendenz offenhalten. Dann können wir gegen die Verflachung und die Banalisierung des Lebens in unserer wunderschönen Welt einstehen für Vertiefung und für eine Verbesserung unserer inneren Substanz.
Wir brauchen Erneuerung, damit wir im Kraftfeld Jesu bleiben, in dem allein wir Menschen suchend und fragend unterwegs sein können. Christen in den Kirchen müssen den Menschen dazu verhelfen, daß sie aus dem Gefängnis der Ich-Sucht herauskommen. Daher ist die Botschaft von der Solidarität und Nächstenliebe der Ausfluß dessen, was wir zu tun haben.
Und wir haben zu bekennen, daß der Tod nicht das letzte Wort hat.
Der besondere Auftrag der reformatorischen Kirchen ist dabei, aus ihrer Tradition vor allem drei Schwerpunkte zu betonen:
- Botschaft von der Rechtfertigung
Das bedeutet, unser Scheitern und unsere Schuld haben nicht das letzte Wort. Gott hat uns lieb - egal, woher wir kommen und was wir gelten. Das ist besonders wichtig zu vermitteln in einer Welt, in der offenbar alles darauf ankommt, was man tut und macht und besitzt.
- Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen
Wir unterliegen keinen klerikalen Zwängen, keiner religiösen Bevormundung. Kirche ist "Anwältin der Freiheit" und bezeugt die Freiheit als Verantwortung für die Welt.
- Priestertum der Gläubigen
"Kirche ist Gemeinschaft von Brüdern [und Schwestern]" (Theologische Erklärung von BARMEN 1934). In ihr gibt es keine hierarchischen Bindungen. Die organisatorischen Strukturen begründen keine Herrschaft von oben nach unten.
3. Kirche im neuen Jahrhundert
Die oben beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen zwingen die Evangelischen Landeskirchen - auch wegen der Abnahme finanzieller Mittel zu einschneidenden Änderungen ihrer Organisation und Arbeit. Und das bedeutet: Stellenabbau und Gehaltseinbußen. Sie haben im Osten längst ein Ausmaß erreicht, wo von der oft beschworenen "Verschlankung" der kirchlichen Strukturen keine Rede mehr sein kann. Ganze Aufgabenbereiche müssen völlig aufgegeben werden.
Wenn ich angesichts dieser Bedingungen von Kirche der Zukunft rede, so ist dieses eine wichtige Voraussetzung:
- Ein Modell künftiger Kirche ist nicht theoretisch und idealistisch zu entwickeln; man kann die gegenwärtigen kirchlichen Strukturen auch nicht mit einem einfachen Beschluß auf ein neues System umstellen.
- Die Kirche ist ständigen Veränderungen unterworfen. Kirchenreform ist immer ein Prozeß auf Neues hin. Die gegenwärtige Wirklichkeit enthält schon Ansätze, die Künftiges beispielhaft vorabbilden. Unter dieser Voraussetzung verstehe ich das im folgenden Gesagte.
3.1 KIRCHE DER ZUKUNFT: Miteinander auf der Suche nach Sinn - Mit Konfessionslosen und Distanzierten ins Gespräch kommen
Kirchentreue Christen leben weniger denn je nur unter ihresgleichen. Sie treffen auf Menschen, die christlichem Glauben distanziert, gleichgültig, ablehnend oder verständnislos gegenüberstehen. Uns begegnen andere Lebenserfahrungen und andere Lebensentwürfe. Darin werden wir uns einüben müssen. Der Brückenschlag kann gelingen, wenn wir auch die verkappten religiösen Fragen und die unausgesprochenen Sehnsüchte anderer Menschen ernst nehmen, ohne sie damit gleich zu vereinnahmen.
Die Gemeinde braucht nicht nur die Konzentration nach innen, sondern auch die Öffnung nach außen. Wichtig sind die persönlichen Begegnungen. Biographische Anknüpfungspunkte, die Schwellensituationen des Lebens, das Bedürfnis nach Orientierung und Vergewisserung, vielleicht auch der Wunsch, durch Riten - welcher Art auch immer - gehalten zu werden, sind dann wichtiger als theologische Belehrungen.
Neue Ansätze gelingen vermutlich nur im Blick auf die heranwachsende Generation. Dafür muß kirchliche Arbeit neue Prioritäten setzen. In diesem Zusammenhang plädiere ich für gute kirchliche Schulen und für engagierte Jugendangebote und eine gute Medienarbeit, die gesamtkirchlich zu organisieren und zu finanzieren sind.
3.2 KIRCHE DER ZUKUNFT: Offene Kirche werden
Es besteht ein enormer Bedarf an einer neu zu gestaltenden "Sprachlehre des Glaubens", die zum Dialog ermutigt und dazu hilft, das Evangelium den Menschen von heute in einer verständlichen Sprache nahezubringen. Dies ist nicht so sehr eine Frage des Vokabulars. Wir müssen die biblische Botschaft in ihrer Relevanz für die Gegenwart erfahrbar machen, so daß sie zur Orientierung und zur Ermutigung wird, so daß Menschen den Versuch wagen, mit ihr das Leben zu bestehen.
Unserer evangelischen Kirche wird oft vorgehalten, sie sei zu rational und daher langweilig. Die religiösen Aufbrüche unserer Zeit, der wachsende Esoterikmarkt lasse erkennen, daß Menschen auf Religion ansprechbar sind. Die Kirche lebe an diesem Bedarf vorbei; sie sei eben nicht "kundenorientiert". Diese Vorwürfe sind vorschnell und oberflächlich. Es liegt nicht nur an der "kundenfernen Kirche", wenn Menschen ihre religiöse Erbauung bei Guru-Gruppen und in Esoterik-Schulen suchen. Es gibt auch eine "asoziale" Religion, wie Richard Schröder das genannt hat, eine Sucht nach Göttlichem im eigenen Ich, eine Religiosität, die sich fesseln läßt von ausbeuterischen Systemen, bisweilen mit geradezu nekrophilen Zügen, wenn man an Satans- und Friedhofskulte denkt, oder von pseudowissenschaftlichen Angeboten mit mystischem Gewabere von feinstofflichen Strahlen und Energien und kosmischen Beziehungen.
Unser Glaube aber wird repräsentiert von einer Kirche mit zweitausendjähriger Geschichte. Diese ist zwar wegen ihrer dunklen Seiten auch eine Last, aber die Kirche muß bereit sein, zu ihrer dunklen Tradition zu stehen. Das ist unerläßlich für eine kultivierte Religion. Denn nur mit einem selbstkritischen Geschichtsbewußtsein kann sie auch ihre hellen Seiten als heilende Erinnerung in die Gegenwart tragen und so einen Glauben vermitteln, der das Gedächtnis in seine Weitergabe einbezieht.
3.3 KIRCHE DER ZUKUNFT: als Gemeinde in der Region leben
Nach wie vor bietet die Ortsgemeinde für die kirchliche Sozialisation enorme Chancen. In ihr kann Glauben am Wohnort gelernt und praktiziert, Beteiligung in entscheidenden Lebensphasen erlebt und die Erfahrung christlicher Gemeinde vermittelt werden. Sie nimmt Anteil am Alltag der Menschen und begleitet sie in den Krisen wie bei den Festen ihres Lebens. Die Ortsgemeinde bietet die Möglichkeit der Beteiligung bei relativ niedriger Zugangsschwelle.
Neben den Ortsgemeinden wird es aber Gruppen-Gemeinden geben, Gemeinden in denen Menschen auf begrenzte Zeit oder auf Dauer zusammenleben, Hauskreise, Kommunitäten u.s.w.
Parochiale Strukturen und funktionale Dienste dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Unter dem Spardruck hört man immer wieder, die Ortsgemeinde sei das eigentliche Handlungsinstrument von Kirche. Das ist ein falsches Dogma. Wir brauchen Dienste, die den mobilen Strukturen der Gesellschaft entgegenkommen.
3.4 KIRCHE DER ZUKUNFT: Mediendimension
Kirche solle kundenfreundlich sein, wird modern gefordert.
Das Bild einer solchen kundenfreundlichen Kirche enthält zwei Botschaften. Die eine lautet: Die Kirche muß zeitgemäße Formen finden, um den Menschen die Botschaft nahezubringen. Die andere Botschaft: Jede Kundenfreundlichkeit hat Folgen für die Botschaft und kann sie beschädigen. Viele ziehen angesichts mancher mißglückter Versuche die Konsequenz, unsere Kirche dürfe sich der Aufgabe der Öffentlichkeitsarbeit überhaupt nicht stellen. Sie solle ein Gegengewicht zum Geist der Zeit darstellen und müsse auf Werbung ganz verzichten. Die Botschaft spräche für sich selbst.
Man kann die Botschaft des Evangeliums aber nicht durch Abschottung bewahren. Sie würde nicht bewahrt, sondern verdorben. Denn die Botschaft ist öffentlich. Ein Leben in der Verborgenheit ist für den Bergprediger genauso absurd, wie ein Licht anzuzünden, um es dann unter den Scheffel zu stellen. Die Formen der Öffentlichkeitsarbeit zur Zeit Jesu und der Apostel waren die damals zeitgemäßen. Die Apostel suchten die Märkte, die Stadttore und die Gebetsstätten auf. Das waren die Plätze des Informationsaustausches. Sie überbrückten weite Strecken von Stadt zu Stadt und benutzten, wie der Apostel Paulus damals auch das gängige Transportmittel für Fernreisen, das Schiff.
Martin Luther hat die Bibel ins Deutsche übersetzt und damit den Grundwortschatz des Glaubens einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In der Reformationszeit wurden Flugblätter als Medium genutzt.
Eine neue Revolution der Kommunikationstechniken steht nun auch heute an.
Die Entwicklung neuer Medien - vor allem im elektronischen Bereich - schaffen eine ungeahnte Fülle von neuen Möglichkeiten. Die Risiken dabei sind offensichtlich und vielfältig diskutiert:
- Die Geschwindigkeit, mit der Kommunikation erzielt wird, und die Fülle der vermittelbaren Informationen kennzeichnen auch gleichzeitig die Flüchtigkeit und den Mangel an Nachhaltigkeit der kommunikativen Prozesse. Man könnte paradox formulieren: Die Flüchtigkeit gerade ist es, die sich verfestigt in den Menschen.
- Daraus folgt, daß Ereignisse immer spektakulär sein müssen, mindestens aber spektakulär inszeniert, damit sie Aufmerksamkeit erzielen und aufgenommen werden.
- Möglicherweise fördern die neuen Medien durch die im Niveau ständig sinkende Unterhaltung die Passivität der Kommunikanten. Ihr "Standort" ist der Sitzort, der Fernsehsessel.
- Irrtum und Manipulation sind oft nicht erkennbar. Der Spielraum der Medienwelt wird ausschließlich durch ökonomische Gesetze begrenzt.
Das Medium entwickelt sich zu einer eigenen Welt. Der Umgang damit will gelernt sein, um fähig zu werden zur Distanz.
Es ist nötig, die in der Kirche Mitarbeitende professionell einzustellen und zeitgemäße Dialoge mit Medienschaffenden, Publizisten und Journalisten zu führen.
3.5 Kirche der Zukunft: Bereit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs
Die künftige Kirche wird bereit sein müssen, am Diskurs der Gesellschaft teilzunehmen und aus der Tradition des Jesus von Nazareth dieser Gesellschaft in ihren Widersprüchen zu dienen.
Wenn die Kirche sich diesem Dialog verweigert, wird sie zum Konventikel verkommen und ihren Auftrag verfehlen, Salz der Erde zu sein.
Die Krisen unserer Gesellschaft sind offensichtlich. Politische Korruption und Verlogenheit, Zerfall von Familien und fehlende Verantwortungsbereitschaft, Arbeitslosigkeit und die Angst davor - viele sind davon erschüttert, selbst wenn es ihnen persönlich gutgeht.
Hinzukommen die Orientierungsprobleme angesichts des rasanten Wachstums des Wissens und der unüberschaubaren Fülle der Informationen.
Bertolt Brecht ist mit seinem Lehrstück "Das Leben des Galileo Galilei" nicht der billigen Alternative verfallen: Entweder klerikalisierte Wissenschaft, die die Erde und mit ihr die Menschheit zum unproduktiven Stillstand bringt, oder eine sich frei bewegende Wissenschaft, die die Erde voranbringt. Der Galilei, der abgeschworen hat, weiß sehr genau, daß zur Freiheit mehr, besser noch, anderes gehört als nur Freiheit der Forschung von jeglicher Reglementierung. "Wie es nun steht, ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können." (edition suhrkamp 126)
Damit deutet Brecht an, daß es andere Kräfte gibt, die sich der Wissenschaft bemächtigen können. Gegen sie gilt es auch heute, wachsam zu sein. Dabei ist Brechts Bild vom Wissenschaftler als dem "erfinderischen Zwerg", der aus seinem Wissen Kapital schlagen möchte und dem im Grunde egal ist, was mit seinem Wissen geschieht, jedoch zu simpel.
Heute stellen sich die Mechanismen komplexer und vor allem anonymer dar. Da ist von dem Wissen als "wichtigstem Produktionsfaktor im 21. Jahrhundert" die Rede (NRW 2000 +, S. 17). Da geht es um "wissenschaftliche Wertschöpfung" (ebd. 21), d.h. Wissen besser zu erschließen und schneller umzusetzen (ebd. 23), deutlicher noch um "eine Verbesserung des Technologietransfers zwischen Wissenschaft und Wirtschaft" (ebd. 25), schlicht: es geht darum, "die Nachfrageorientierung des Bildungswesens (zu) verbessern, Effizienz (zu) steigern" (ebd. 42). Könnte es sein, daß an die Stelle einer einst gesellschaftlich dominierenden Kirche und an die Stelle einer ideologisch lenkenden Einheitspartei aus der jüngeren Vergangenheit nun eine andere Macht die Wahrheitsfragen und die Antworten darauf lenkt, nämlich die anonyme Macht, die "Markt" genannt wird? "Markt" nicht als öffentlicher Platz, als Forum des öffentlichen Diskurses - das wäre ja eine wunderbare alte Symbolik - sondern "Markt" als Geschehen von Angebot, Nachfrage, von Kräften, die den wirtschaftlichen Erfolg und die wirtschaftlichen Niederlagen gestalten?
Verfügung über Wissen und über Resourcen zur Erweiterung des Wissens vollzieht sich nie im wertfreien Raum.
Ich nenne Tendenzen einer möglichen Entwicklung der Gentechnik. Die gentechnische Optimierung des Nachwuchses als Menschenzüchtung auf neuem Niveau scheint manchem verlockend und erstrebenswert.
Peter Sloterdijk hat für kurze Zeit die mediale Aufmerksamkeit durch die provozierenden Thesen seines Vortrages in Schloß Elmau erregt, in denen er Züchtungsregeln für den Menschenpark forderte und den Humanismus ohnehin für gescheitert erklärte. Inzwischen ist die aufgeregte Diskussion abgeebbt, man fordert weiterhin Ausnahmen vom deutschen Embryonenschutzgesetz, um sich in der Forschung nicht behindern zu lassen. Das Risiko aber, durch Eingriffe in genetische Strukturen Unheil anzurichten, ist sehr hoch. Jedenfalls ist es angesichts des Wunderwerkes der evolutionären Anpassung des Menschen an die Schöpfung, die ihn umgibt, ein Größenwahn, das genetische Schicksal selber in die Hand nehmen zu wollen.
Hier ist der Bereich, in dem die Chance der christlichen Botschaft offensichtlich ist. Denn an ihr erhält das Gespräch über Orientierung seine Substanz. Daß Christen dieses Gespräch führen können, setzt aber voraus, daß die Theologie ihren Auftrag wahrt.
3.6. Kirche der Zukunft: die Unerläßlichkeit der Theologie
Von der inneren Plausibilität persönlicher wie kollektiver Frömmigkeit hängt viel ab
- für die Verbindlichkeit im Umgang mit der objektivierten Form von Religion in Gestalt Heiliger Texte (Gebete) und Bücher (Bibel) oder öffentlicher Rituale und kirchlicher Organisation,
- für die prägenden Gemeinschaftserlebnisse mit anderen Gläubigen in Gestalt gemeinsamer Feste und Feiern,
- für die Verständigung über Gestalt und Ziele der Glaubensgemeinschaft.
Innere Plausibilität ist kein statischer Vorgang, sondern sie ist Ergebnis eines lebenslangen dynamischen Lernprozesses. Sie wird vom einzelnen Menschen in vielen kreativen oder auch zerstörerischen Akten der Traditionsaneignung mit Phasen hoher Stimmigkeit und tiefer Krisen durchlebt. Auf die Frage: "Warum glaubst Du das?" läßt sich manchmal nur stotternd, meistens nur unvollständig und nie objektiv antworten.
Religion ist keine trainierbare, verfügbare Wahrheit. Es gibt religiöse Wahrheit - jedenfalls die in christlicher Gestalt -, die sperrt sich dagegen. Ob ein religiöses Erlebnis als subjektives oder objektives Ereignis zu werten ist, hängt davon ab, ob es sich nachvollziehbar mitteilen und an verläßlichen Überlieferungen prüfen läßt. Dem dient die Theologie als Wissenschaft.
Wissenschaftliche Theologie und theologische Ausbildung sind unerläßlicher denn je. Die christliche Tradition ist in unserer Kultur verankert, sie ist keineswegs nur noch in Restbeständen wirksam. Der von der EKD jüngst eröffnete Konsultationsprozeß will das Verhältnis von Protestantismus und Kultur neu bestimmen. Die wissenschaftliche Theologie hat hier eine unerläßliche Aufgabe. Der Diskurs mit den anderen Wissenschaften ist nicht nur für die Theologie nötig, er ist auch für die Erkenntnisprozesse unserer Gesellschaft und für die aus ihnen resultierenden Handlungsschritte erforderlich.
Der andere Aspekt läßt sich an der von Volker Drehsen aufgenommenen Frage "Wie religionsfähig ist die Volkskirche?" festmachen. Für Theologie und Wissenschaft ist diese Frage zukunftsentscheidend. Darauf muß sich wissenschaftliche Theologie deutlicher einstellen. Nur so kann der theologische Nachwuchs lernen, den Menschen gegenüber für das Evangelium einzustehen.
Ich erinnere mich an den Satz des unvergessenen Ernst Käseman: "Wer Theologie studiert, muß auch bereit sein, für andere stellvertretend zu zweifeln". Ohne die eigen denkende Existenz der Gottesfragen auszusetzen, wäre die theologische Ausbildung auf Kommunikationstechniken reduziert, die Macher produzieren oder Entertainer, nicht aber "Hirten" und "Lehrer".
3.7 KIRCHE DER ZUKUNFT: Kultur des Ehrenamtes
In Zukunft werden Gemeinden immer weniger damit rechnen können, daß sie eigene Pfarrerinnen bzw. Pfarrer oder auch einen hauptamtlichen Mitarbeiter bzw. eine Mitarbeiterin nur für sich allein beanspruchen können, selbst wenn dies nach missionarischen Erfordernissen gerade nötig wäre. Die Präsenz der Kirche entscheidet sich künftig weniger an der Residenz des Pfarrers als vielmehr an der Existenz der Gemeinde. Diese Einsicht ist nicht neu, sie entspricht ursprünglicher reformatorischer Überzeugung und der langen Erfahrung in den zahlreichen Diasporasituationen in der Ökumene.
Die kirchliche Wirklichkeit sieht jedoch weithin ganz anders aus. Von engagierten "Laien" wird darauf kritisch und begründet immer wieder hingewiesen.
Freiwillige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind nicht nur an der Ausführung der Aufgaben, sondern auch an der Planung und Verantwortung zu beteiligen.
Frauen und Männer für die freiwillige Mitarbeit in der Kirche zu gewinnen und zu ermutigen, aber auch zu befähigen und zu fördern, wird eine der wichtigsten Aufgaben der Hauptamtlichen in den nächsten Jahren sein.
Um die Vielfalt und die Gemeinschaft kirchlicher Dienste erhalten zu können, wird von hauptamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in Zukunft ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität erwartet werden. Sie müssen in Nachbargemeinden oder in einer ganzen Region Aufgaben übernehmen, die andernorts wegen unbesetzter oder aufgegebener Stellen nicht mehr erfüllt werden können. Das erfordert die Bereitschaft, unterwegs zu sein, um Gemeinden und Gruppen fachlich zu beraten und geistlich zu stärken. Diese brauchen mehr denn je ein Netzwerk, das sie miteinander verbindet, sie trägt und instand setzt, ihre Aufgaben am jeweiligen Ort zu erfüllen.
Was für unsere gemeindlichen Verhältnisse noch nicht unmittelbar bevorzustehen scheint, ist in Minderheitskirchen in vielen Teilen der Welt, vor allem bei unseren Nachbarn in Ost- und Südeuropa, längst eine selbstverständliche Ausprägung der Gemeindearbeit. Sie verfügen darin zum Teil über jahrhundertelange Erfahrungen. Auch in dieser Hinsicht wird es Zeit, von der Ökumene zu lernen.
Schluß
Der holländische Ökumeniker Johannes Hoekendijk hat vor mehr als 30 Jahren ein Buch geschrieben mit dem Titel "Zukunft der Kirche - Kirche der Zukunft". Hellsichtig und provozierend beschreibt er darin, was uns blüht.
Das Buch liest sich, als wäre es nicht vor 30 Jahren, sondern eben erst erschienen.
Mit Nüchternheit sah er den Traditionsabbruch voraus und den Weg der Kirche in eine Minderheitsrolle. Die Menschen in der Kirche sollten davor aber nicht in Schrecken fallen. Lethargie sollte sich in Mut, Verschlossenheit in Offenheit verwandeln. Diasporafest müsse die Kirche werden, schreibt Hoekendijk. Ihre zu groß gewordenen Häuser sollten sie nicht hindern, den Ruf zum Aufbruch zu hören. "Geben wir uns keinen Illusionen hin: Der Weg in die Welt von morgen führt in die Wüste." Aber, so fährt er fort: "Die Wüste, in die wir jetzt vielleicht beängstigt starren, wird ein Land sein, das urbar werden wird, und ein Ort sein, an dem die Neue Welt von morgen schon angebrochen ist."
Überall in der Welt setzen Menschen Zeichen gegen die Phantasien der Macht und gegen die Todesdrohungen der Mächtigen. Es sind Zeichen der Hoffnung, so klein und unscheinbar sie auch oft sind.
In unserem Land gibt es immer mehr Menschen, die die Not und die Nichtigkeit spüren - inmitten der Fülle von Gütern und Waren. Sie merken, wie man vor dem Tod schon tot sein kann, wenn man nur für sich selber alles zu gewinnen meint in kurzen, oberflächlichen Glücksmomenten. Und sie machen sich daran, das ganze Leben zu entdecken. Das ist die Bewegung gegen den Tod. Sie kommt in diese Welt mit dem Mann, der im Stall zur Welt kam, am Kreuz sein Leben ließ und den Seinen als Sieger über den Tod erschien. Den zu bezeugen ist die Aufgabe der Evangelischen Kirche in unserem Land.