Für die Wahrheit streiten

Geistlicher Impuls zur Fastenzeit von Pfarrerin Kathrin Oxen, Leiterin des Zentrums für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur in Wittenberg

Apostelgeschichte 17,16–24

Als aber Paulus in Athen auf sie wartete, ergrimmte sein Geist in ihm, da er die Stadt voller Götzenbilder sah. Und er redete zu den Juden und den Gottesfürchtigen in der Synagoge und täglich auf dem Markt zu denen, die sich einfanden. Einige Philosophen aber, Epikureer und Stoiker, stritten mit ihm. Und einige von ihnen sprachen: Was will dieser Schwätzer sagen? Andere aber: Es sieht aus, als wolle er fremde Götter verkündigen. Denn er verkündigte das Evangelium von Jesus und von der Auferstehung. Sie nahmen ihn aber mit und führten ihn auf den Areopag und sprachen: Können wir erfahren, was das für eine neue Lehre ist, die du lehrst? (...) Paulus aber stand mitten auf dem Areopag und sprach: Ihr Männer von Athen, ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt. Denn ich bin umhergegangen und habe eure Heiligtümer angesehen und fand einen Altar, auf dem stand geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige ich euch, was ihr unwissend verehrt. Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darinnen ist, er, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind.

Zwei braune Ziegen kämpfen Kopf an Kopf gegeneinander

Der Klügere gibt nach? Wirklich? Gibt es nicht Wahrheiten, für die man streiten muss? Kathrin Oxen geht in ihrem Andachtsimpuls der Frage nach, worauf es dabei für Christen ankommt.

Respekt, Paulus, für deine Selbstbeherrschung. Ich kann mir gut vorstellen, wie wütend du warst, da auf dem Marktplatz in Athen. Alle diese Götzenbilder. Mach dir deinen Gott passend!, riefen die Marktschreier. Du entscheidest, wofür du ihn gerade brauchst! Ein Gott gefertigt nach deinen Wünschen und Werten! In Holz, in Stein, in Metall, je nach Geschmack und Geldbeutel!

Ich verstehe, dass du wütend warst, und wie. Ich kann mich in dich hineinversetzen. Heute zum Beispiel, Paulus, auf unseren Straßen und Plätzen, da tragen sie wie ihr Götzenbild eine Idee vor sich her: die Idee, dass ohne die Fremden alles besser wäre, dass es keine Gewalt geben würde und keine Messer, keine Ungerechtigkeiten mehr, sondern Arbeit und Auskommen für alle. Da werde ich wütend, und wie.

Wenn die Wahrheit keine Rolle mehr spielt

Denn die Wahrheit spielt plötzlich keine Rolle mehr. Dass es schon vor den Fremden so nicht war und auch ohne sie gewiss nicht so werden würde. Dass all die Wut und Unzufriedenheit von woanders her kommen muss. Weil es uns allen wirtschaftlich noch nie so gut gegangen ist und wir noch nie so satt und sicher gelebt haben. Die gemessene Wahrheit aus allen Kriminalitätsstatistiken und Wirtschaftsanalysen spielt plötzlich keine Rolle mehr gegenüber gefühlten Wahrheiten. Ich werde wütend und versuche mich zu beherrschen, so wie du es getan hast. Eingehen auf die merkwürdigen Vorstellungen der anderen und, wenn auch widerwillig, ergründen, wie sie wohl zu ihren Überzeugungen und Wahrheiten gekommen sind. Respekt, Paulus, für deinen Respekt vor den anderen und deine Selbstbeherrschung.

Und noch etwas, Paulus. Als du damals auf dem Markt standest in der großen Stadt Athen, da wart ihr noch sehr wenige, ihr Christen. Und heute merken wir gerade wieder, wie sich das anfühlt, wenn wir als Christen leben und diese eine Wahrheit laut aussprechen: Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst. Daran sollen wir uns ja halten. Das ist die Summe der Gebote und als wäre das nicht schon schwer genug, ist da auch noch Jesus von Nazareth, dem das alles noch nicht reicht. Nicht nur Nächstenliebe, sondern Feindesliebe. Keine Kleiderspenden aus deinem abgelegten Zeug, sondern dein letztes Hemd für die anderen.

Raus aus der Komfortzone

Die Wahrheit ist heute: Der Verdacht der griechischen Philosophen, mit denen du dich herumstreiten musstest auf dem Markt, hat sich bestätigt. Das ist ein fremder Gott, der so etwas verlangt, immer noch ein fremder Gott, auch nach 2000 Jahren Christentum. Denn er fügt sich einfach nicht ein in unsere Welt, egal wie man an ihm schnitzt und hämmert. Eine 2000 Jahre alte Lehre und sie ist immer noch nagelneu, fast ohne Gebrauchsspuren.

Manchmal kommt es mir so vor, als wären wir wieder in der Minderheit, Paulus. Wie kann man einstehen für diese Lehre, für die Wahrheit, heute, auf den Straßen und Plätzen, in der Zeitung, im Netz? Du machst es uns ja vor: raus mit der Wahrheit heißt: raus aus der Komfortzone. Nicht warten, bis jemand um eine Stellungnahme bittet, sondern gleich Position beziehen. Handeln, nicht bloß reagieren. Am richtigen Ort ist man wahrscheinlich dann, wenn sie die Köpfe schütteln über einen und schnell weitergehen, so wie damals bei dir in Athen. Auch im Kampf für die Wahrheit des Evangeliums kann man sich nur der Mittel des Evangeliums bedienen: Der Feindesliebe und der Gewaltlosigkeit, in den Worten und den Taten. Einige haben dir zugehört, damals, dir und deiner unbequemen Wahrheit und dir geglaubt. Einige, nicht alle. Aber sie machen den Unterschied.

Kathrin Oxen,
Pfarrerin und Leiterin des Zentrums für evangelische
 Gottesdienst- und Predigtkultur in Wittenberg


Impuls-Fragen

1. Welche „anderen“ Wahrheiten sollte man einfach respektieren?
2. Welche nicht? Oder: Über welche muss man Ihrer Meinung nach streiten?
3. „Ist doch egal!“ In welchen Situationen sagen Sie das? Und meinen das auch?


Der Text stammt aus dem Magazin „ZUTATEN. Themenheft zur Fastenaktion der evangelischen Kirche 2019“, edition chrismon.

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