Der Streit um die Werte und die Rolle der Religionen

Rolf Koppe

Sechzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, nach furchtbaren Zerstörungen und einem beispiellosen wirtschaftlichen Wiederaufbau in Deutschland und in Europa, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit der bipolaren ideologischen Weltanschauung von Kommunismus und Kapitalismus ist die Welt in eine Phase der Globalisierung und Pluralisierung eingetreten, die neu nach den leitenden Werten in den Kulturen und zwischen den Kulturen fragen lässt.

Seit dem Wiederaufleben der Kulturphilosophie und Kultursoziologie besonders durch die Anstöße von Samuel P. Huntingtons "Clash of civilisations" (auf deutsch "Kampf der Kulturen") wird auch der Rolle der Religionen bei der Gestaltung von Kulturen und deren Entwicklung größere Aufmerksamkeit gewidmet1). Dabei schwankt die Bewertung zwischen Überschätzung und Unterschätzung. Während einige Wissenschaftler nach wie vor bei der Entwicklung in Völkern und Regionen geographische und klimatische Faktoren für entscheidend halten, stellen andere geistesgeschichtliche und religiöse Faktoren in den Vordergrund. Eine gewisse Renaissance nach 100 Jahren erfährt der deutsche Soziologe Max Weber mit seinem Werk über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus. Ronald Inglehart, Vorsitzender des World Values Survey, hat eine kulturelle Weltkarte erstellt, in der er 65 Gesellschaften in die Koordinaten von "traditionellerAutorität" und "weltlich-rationaler Autorität" sowie nach der Höhe des Bruttoinlandsprodukts eingezeichnet hat2). Es überrascht nicht, dass der protestantisch europäische sowie der weltweite englischsprachige Kulturkreis ganz oben rangiert, gefolgt von konfuzianisch, römisch-katholisch, orthodox sowie islamisch geprägten Kulturkreisen. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass über den aktuellen Einfluss der Religionen hinaus die Gesamtheit der Werte, Einstellungen, Glaubensüberzeugungen, Orientierungen und Grundvoraussetzungen, mit der Menschen eine Gesellschaft prägen, Kulturen voneinander unterscheiden.

Diese Sicht hat eine gewisse Plausibilität, wenn man in die Geschichte zurückblickt, erklärt aber nicht unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung, warum z.B. Singapur, Hongkong oder Südkorea sehr weit oben stehen, aber z.B. das afrikanische Ghana praktisch auf dem Stand von vor 40 Jahren zurückgeblieben ist. Nachdenklich macht auch, dass der beobachtbare Einfluss der Religion gerade in der westlichen Welt, jedenfalls in West- und Nordeuropa, geringer geworden ist und sich in den USA von den mainline-churches auf evangelikale Strömungen verlagert hat. Andererseits ist ein Wiedererstarken orthodoxer Kirchen in Osteuropa sowie die Ausbreitung evangelikaler Gruppierungen in Lateinamerika und Afrika festzustellen. Parallel dazu ist eine verstärkte Tendenz zur Reislamisierung bis hin zum fundamentalischen Terrorismus in Staaten des Nahen Ostens zu konstatieren.


Zum Verhältnis von Religion und Staat

Gemeinsam ist allen Religionen, dass sie sich abgrenzend oder bejahend mit der weltweiten Ökonomisierung und Säkularisierung auseinander zusetzen haben. In einem jahrhundertelangen Prozess haben die Kirchen in Europa und in den USA ihr Verhältnis zum Staat dahingehend geklärt, dass sie eine wie auch immer graduell verschiedene, aber doch prinzipielle Trennung von Kirche und Staat für beide Seiten für richtig halten. Die Kirchen der Reformation sehen wichtige Wendepunkte in der Stellung des einzelnen Menschen vor Gott und seiner Verantwortung für die Schöpfung sowie durch die Unterscheidung zweier "Regimente" oder Regierungsweisen Gottes, nämlich durch die weltliche Regierung und durch die Kirche. Der Staat kann in Glaubensdingen keinen Gehorsam verlangen. Die Kirche hat sich weltlicher Machtmittel zur Durchsetzung der aus dem Glauben folgenden Konsequenzen zu enthalten und ist allein auf die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat angewiesen. Sie wirkt dadurch an der Schaffung und Einhaltung von Werten mit, ist sich aber auch bewusst, dass es andere Quellen der Wertschöpfung gibt. Leitend ist dabei der Satz Jesu "Gebt des Kaiser, was des Kaisers ist und Gottes, was Gottes ist". Oder in der Interpretation Martin Luthers: "Ein Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern in Christus und in seinem Nächsten, in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe". Die Klärung des Verhältnisses von Religion und Staat, denke ich, steht islamischen Gesellschaften noch bevor, aber auch religiösen Minderheiten in einem säkular verfassten Staat.


Demokratie und Religion

Bei Dialogen zwischen Christen und Muslimen wird immer wieder die Frage von Seiten der Muslime laut, ob sich nicht die christliche Religion so sehr an die säkulare Gesellschaft anpasst, dass sie ihre eigenen Werte verrät. Genannt wird häufig die Relativierung der Familie, die Gleichstellung von Homosexuellen oder die Pornographie. Diese kritische Sicht trifft sich mit der von besorgten Christen, lässt aber auch umgekehrt danach fragen, wie es im Islam mit der Gleichberechtigung der Frau, einer unabhängigen Justiz oder einer doppelten Moral beim Alkohol- oder Zinsverbot bestellt ist. Ich halte es für hilfreich, wenn zwischen den positiven Folgen der Säkularisierung wie z.B. die unterschiedslose Bejahung der Würde jedes einzelnen Menschen und die daraus folgenden Rechte, und den negativen Erscheinungen eines ungezügelten Säkularismus wie z.B. die Schamlosigkeit der Ausbeutung zwischenmenschlicher Beziehungen, unterschieden wird. Christen glauben nicht an die säkulare Welt, sie überlassen sie auch nicht sich selbst, sondern helfen in ihrem Beruf und ihrem weltlichen Verantwortungsbereich mit, dass Gutes geschieht und Schlechtes vermieden wird. Sie sind aber ablehnend gegenüber theokratischen Tendenzen, weil sie die verheerende Macht von Ideologien besonders im 20. Jahrhundert erlitten haben.

Nach einer wechselseitigen Auseinandersetzung zwischen philosophischen Ideen der europäischen und nordamerikanischen Aufklärung und der biblischen, historischen und dogmatischen Theologie hat sich die Auffassung in den Kirchen durchgesetzt, dass die freiheitliche Demokratie als Verfassung in nationalen Staaten und überstaatlichen Zusammenschlüssen die beste Form ist, die unantastbare Würde der Person als Grundlage anzuerkennen und zu achten. Daraus folgt das Gebot politischer und sozialer Gerechtigkeit als Konsequenz der biblischen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Geschöpf Gottes sowie der Gedanke der Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Zwar ist die Demokratie keine "christliche Staatsform", aber die positive Beziehung von Christen z.B. zum demokratischen Staat des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ist mehr als äußerlicher Natur, weil sie mit den theologischen und ethischen Überzeugungen des christlichen Glaubens zu tun hat. In der Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland von 1985, die den Untertitel trägt: "Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe", wird von der Demokratie als Herrschafts- und Lebensform gesprochen: "Ein demokratischer Staat braucht eine ihm entsprechende demokratische Gesellschaft, die sich Grundentscheidungen der Demokratie zu eigen macht und aus ihnen lebt"3).


Werte zwischen Kulturen

Betrachtet man die leitenden Werte nicht nur in einer Kultur, sondern auch zwischen Kulturen, so ist einerseits die gemeinsame Anerkennung der universalen Menschenrechte, die in viele nationale Verfassungen aufgenommen worden sind, ein Faktum der letzten 50 Jahre und ist andererseits die Hervorhebung der eigenen kulturellen Identität, die häufig mit der religiösen Identität einhergeht, eine neue Herausforderung. Denn beide Entwicklungen sind nicht unbedingt in Einklang zu bringen. Besonders an den Berührungs- oder Bruchstellen zwischen Kulturkreisen wie im nördlichen Afrika oder auf dem indischen Subkontinent kommt es zu Konflikten. Aber auch überall dort, wo es um die Anerkennung und die Behandlung von Minderheiten geht, sei es im Westen, im Nahen Osten oder in Russland. Im Rahmen der Vereinten Nationen, aber auch im Bereich der verschiedenen Religionen, gibt es viel zu geringe Anstrengungen, die Pluralität religiös und politisch zu bejahen und nach einvernehmlichen Lösungen zu suchen. Das ist der Grund dafür, dass es zwar weniger Kriege zwischen Staaten gibt, aber immer mehr mit Gewalt ausgetragene Konflikte in einzelnen Staaten. Die Frage, die gestellt wird, ist, ob Religionen dabei eher konfliktverschärfend oder konfliktlösend wirken. Tatsache ist auf jeden Fall, dass sie, wie in Südosteuropa geschehen, sehr leicht von der Politik instrumentalisiert werden können. Noch gibt es keine wirklich religionsübergreifende Institution, die sich darum bemüht, Mediation auszuüben. Bei der unterschiedlichen Verfasstheit der Religionen ist das auch in nächster Zukunft nicht zu erwarten.

Um so beachtenswerter sind einzelne Initiativen, die z.B. von der World Conference for Religion and Peace, von interreligiösen nationalen Räten oder durch Organisationen wie San Egidio aus dem katholischen Raum oder dem Ökumenischen Rat der Kirchen protestantischer und orthodoxer Kirchen ergriffen und manchmal über viele Jahre durchgehalten werden wie z.B. im Sudan.


Dialog und Zusammenarbeit

Ein in den letzten 15 Jahren gesehenes, aber ungelöstes Problem ist, mit welchen Vertretern und an welchen Orten ein Dialog zwischen den Religionen stattfinden kann, der nicht nur die unmittelbar Beteiligten, sondern auch die erreicht, die sie vertreten. Die weitaus überwiegende Mehrheit der Mitglieder einer Kirche oder einer Religionsgemeinschaft nimmt keinen Anteil an den Ergebnissen, ist aber in ihrem Alltag, im täglichen Zusammenleben mit ihren Nachbarn verbunden. Es wäre viel gewonnen, wenn in den Schulen, besonders auch in Schulbüchern, wahrhaftig über andere informiert und ein Klima der Toleranz gefördert würde.

In Zeiten der Katastrophe und der Not wächst das Gefühl der Solidarität, wie man am Beispiel des Erdbebens im iranischen Bam spüren konnte oder in jüngster Zeit für die Menschen in Südostasien, die vom Seebeben heimgesucht wurden. Es sollte möglich sein, beim Aufbau und dem Streben nach einer nachhaltigen Entwicklung nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch zwischen den Religionen enger zusammenzuarbeiten, schließlich gibt es ganz elementare Erfahrungen und Ziele, denen die überwältigende Mehrheit aller Menschen zustimmen kann: Leben ist besser als Tod, Gesundheit besser als Krankheit, Freiheit besser als Knechtschaft, Wohlstand besser als Armut, Bildung besser als Unwissenheit und Gerechtigkeit besser als Ungerechtigkeit.

Freilich, die Religionen des Buches oder der Bücher müssen noch mehr leisten, nämlich auf Grund ihrer eigenen Tradition darüber Auskunft geben, welche Werte für sie und andere wichtig sind und bleiben und was sie der jungen Generation mit auf den Weg geben möchten. Es könnte sich auch eine Tendenz verstärken, die schon länger spürbar ist und die sich im Einflussbereich des staatlich verordneten Atheismus durchgesetzt hatte, nämlich die Geschichte der Religionen und die religiöse Praxis als historisch überholt anzusehen, dafür den Fortschritt anzubeten oder dem Aberglauben in verschiedenen Formen Tür und Tor zu öffnen. Auf Dauer bleibt aber kein himmlischer Thron leer und es ist ein gemeinsames Anliegen der Religionen, gerade in den Elternhäusern und an öffentlichen Schulen über religiöse Inhalte zu informieren und zu verbindlichen Formen aktiver Religiosität zu gelangen. Es gibt einen gewissen Wettbewerb zwischen den Religionen, einer sich ausbreitenden Gleichgültigkeit und einer Banalisierung des Lebens durch einen gelebten Glauben zu begegnen. Auf keinen Fall sollten Kirchen, Moscheen, Synagogen und Tempel das religiöse Feld den Fundamentalisten jeglicher Couleur überlassen, auch nicht neuen weltlichen Ideologen.


Anmerkungen

1) Streit um Werte, hg. von Samuel P. Huntington, Lawrence E. Harrison, 1. Auflage der vollständigen Taschenbuchausgabe, München 2004

2) Siehe oben, S. 148ff

3) Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, hg. vom Kirchenamt der EKD, Gütersloh 1985, S. 35


Vortrag am 22.03.2005 auf der Tagung Ev. Akademie Loccum und CEOSS (Evangelisch-Koptische Organisation für soziale Fragen) zum Thema Christentum und Islam in Kairo/Ägypten