„Eine Gesellschaft ist nur so gut, wie sie ihre Schwächsten behandelt“

Anke Franke von der Diakonie Lindau will im Ort Hergensweiler eine Wohnsiedlung für Menschen mit Demenz errichten

Den Begriff Demenz-Dorf mag Anke Franke gar nicht. Lieber nennt die Geschäftsführerin der Diakonie Lindau das Projekt bei seinem künftigen Namen: „Hergensweiler Heimelig“. So heißt die geplante Wohnsiedlung für Menschen mit Demenz, die die Diakonie im Ort Hergensweiler nordöstlich von Lindau errichten möchte.

Patientin mit einem Rollator in einer Pflegeeinrichtung für Menschen mit Demenz

Über 120 Demenzkranke sollen beim Projekt „Hergensweiler Heimelig“ in Wohngruppen betreut leben und sich auf dem Areal frei bewegen können. (Archivbild)

Insgesamt 128 Demenzkranke sollen dort irgendwann in 16 Wohngruppen betreut leben und sich auf dem Areal frei bewegen können. Es wäre ein in Deutschland einzigartiges Projekt, meint Franke, die in Lindau das Maria-Martha-Stift leitet, ein Alten- und Pflegeheim der Diakonie. Dort, so Franke, mache sie immer wieder die Erfahrung, dass Menschen mit Demenz, die einen starken Bewegungsdrang – eine „Weglauftendenz“ – haben, im Pflegeheim nicht betreut werden können.

Frau Franke, was passiert dann mit diesen Menschen?

Anke Franke: Wir müssen solche Bewohner an geschlossene Heime abgeben. Dort werden sie auf eine enge Umgebung beschränkt. Das ist für diese Menschen, die sich ja unbedingt bewegen wollen, etwas sehr Schlimmes. Manche werden aggressiv. Die Folge ist meist, dass sie mit Medikamenten ruhig gestellt werden. Das wiederum führt oft dazu,  dass sie sich so gut wie gar nicht mehr bewegen. Das bedeutet, dass ihre Muskeln unter Umständen verkümmern, und sie zum Teil nicht mehr gehen können.

Das klingt sehr extrem...

Franke: Ja. Aber es gibt diese Extremfälle. Und man darf sich keine Illusionen machen: Der Alltag in deutschen Pflegeheimen sieht so aus, dass viele Bewohner medikamentös eingestellt werden. Das bedeutet oft nichts anderes, als sie zu betäuben. Studien zeigen, dass davon etwa die Hälfte aller Bewohner betroffen sind. Nahezu ähnlich viele werden fixiert oder auf einen engen Raum begrenzt. Dahinter steckt kein böser Wille. Es geschieht oft, weil die Pflegenden Angst haben, den Bewohnern könnte sonst etwas passieren.

Und in Hergensweiler Heimelig wäre das anders?

Franke: Bevor wir das Konzept für Hergensweiler Heimelig erarbeitet haben, haben wir ein Modellprojekt in den Niederlanden besucht. In „De Hogeweyk“ leben jeweils sechs Menschen mit Demenz in kleinen Häusern. Es ist ein umgrenztes Gelände, auf dem man sich frei bewegen kann. Wer nach draußen möchte, kann einfach vor die Tür gehen. Es gibt großzügige Gärten mit Teich, mit Blumen, ein Theater, in dem kulturelle Veranstaltungen stattfinden, einen Supermarkt, ein Café. Das alles wird auch von Menschen von außerhalb der Siedlung genutzt.

Und so soll es auch in Hergensweiler Heimelig sein?

Franke: Bei uns sollen acht Bewohner in einer Wohneinheit leben. Auch in Hergensweiler Heimelig sollen sich die Bewohner frei bewegen. Sie sollen ihren Bewegungsdrang ausleben, aber nicht weglaufen können. Die räumliche Begrenzung soll dabei so natürlich wie möglich sein – mit Hecken, Sträuchern, dem Netz des angrenzenden Sportplatzes und dem Zaun um das Streichelgehege, das es auf dem Gelände geben wird.

Kritiker sagen, eine solche Siedlung schotte die Demenzkranken ab. Das widerspreche der Inklusion.

Franke: Das lasse ich nicht gelten. Wir schaffen bewusst Kontaktpunkte, wo sich die Bewohner mit Menschen von außerhalb der Siedlung treffen. Es wird einen Mittagstisch und Veranstaltungen geben, an denen jeder teilnehmen kann, und ein Gasthaus mit Biergarten, wo jeder hinkommen kann. Außerdem soll auf dem Gelände ein Kindergarten errichtet werden. Alt und Jung sollen sich dort auch treffen können.

Das Projekt soll 30 Millionen Euro kosten. Ist die Finanzierung schon geklärt?

Franke: Da sind wir noch in Gesprächen. Die Hauptfrage betrifft dabei zunächst aber nicht die Investitionskosten, sondern den Betrieb des Projekts. In Hergensweiler Heimelig nehmen wir ja Menschen auf, die für andere Heime eine Herausforderung darstellen. Für deren Betreuung brauchen wir mehr Personal als üblicherweise in einem Pflegeheim. Um das zu finanzieren, müsste Hergensweiler Heimelig als Modellprojekt anerkannt werden – mit einem höheren Kosten- und Personalschlüssel.

Glauben Sie, dass Ihnen das gelingt?

Franke: Nicht mir allein. Die Frage, die wir uns alle stellen müssen, ist doch: Wie lange wollen wir akzeptieren, dass unsere alten Menschen eingesperrt und sediert werden, wenn sie an Demenz erkranken? Eine Gesellschaft ist nur so gut, wie sie ihre Schwächsten behandelt. Wir brauchen ein vielfältigeres Versorgungsangebot in der Pflege, um dem Bedarf des Einzelnen gerecht werden zu können. Dazu gehören moderne Pflegeheime ebenso wie ein Projekt wie Hergensweiler Heimelig. An der Finanzierung jedenfalls dürfen solche Lösungen nicht scheitern.

Das Interview führte Andreas Jalsovec (epd)