Kirche mit Hoffnung

1. Der Anlaß: Kirche im Umbruch

1.1 Mitgliederschwund

1.1.1. Die ostdeutschen Landeskirchen befinden sich in einem Prozeß weitreichender Veränderungen. Nach Ausmaß und Folgen stehen die Kirchen wahrscheinlich an einer Epochenwende ihrer Arbeit. Diese Entwicklung hat mehrfache und im einzelnen unterschiedliche Ursachen. Zusammengenommen nötigen sie zu der Erkenntnis, daß zumindest in Ostdeutschland für viele die Kirche längst aufgehört hat, ein selbstverständlicher Bestandteil des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens zu sein. Sichtbarer Ausdruck dafür ist der seit Jahrzehnten anhaltende Mitgliederschwund. Er ist also keineswegs neu. Die seit langem absehbare Frage nach den strukturellen Folgen dieser Entwicklung ist jetzt jedoch unausweichlich geworden.

1.1.2. Als entscheidender Grund für den Mitgliederverlust gelten im Westen wie im Osten Deutschlands häufig die gesellschaftlichen Bedingungen in der DDR. Daß sie von beträchtlichem Einfluß waren, ist offenkundig. Wird darin jedoch die alleinige Ursache für die zurückgehende Kirchenzugehörigkeit gesehen, dann täuscht dies darüber hinweg, daß der Erosionsprozeß - wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität - sowohl die östlichen als auch die westlichen Kirchen betrifft und tiefere Ursachen hat.

Konfessionslosigkeit als Massenphänomen gibt es bereits seit Anfang des Jahrhunderts. Unter der Einwirkung des Nationalsozialismus hat sie erheblich zugenommen. Die ideologische und machtorientierte Indoktrination der SED hat in 40 Jahren DDR zu einer weiteren Entkirchlichung in Ostdeutschland geführt. Wenn Konfessionslosigkeit ursprünglich eine in der eigenen Biografie begründete persönliche Entscheidung war, so ist sie inzwischen über mehrere Generationen in den Familien zu einer selbstverständlichen, gewohnheitsmäßigen Einstellung geworden. Für viele gilt: Kirche kommt in ihrem Leben nicht mehr vor, und sie vermissen sie auch nicht. Sie ist entbehrlich geworden.

1.1.3. Mit diesem Wandel ist ein Traditionsabbruch verbunden. Der Gesellschaft in den östlichen Bundesländern ist die christliche Überlieferung auch in ihren kulturellen Ausprägungen weitgehend abhanden gekommen. Weite Teile der Bevölkerung haben zur Kirche kein Verhältnis mehr. Von freundlicher Distanz über Gleichgültigkeit bis hin zu rigoroser Ablehnung spannt sich der Bogen eines "Nichtverhältnisses".

1.2. Vertrauensverlust der Institutionen - Erwartungen an die Kirche

1.2.1. Dies verstärkt sich noch unter dem Eindruck der Identitätskrise der gesellschaftlichen Institutionen. Sie haben auf dem Weg in die Moderne erhebliche Veränderungen erfahren. Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur haben sich infolge der geschichtlichen Entwicklung aus der Bevormundung durch Staat und Kirche befreit. Dies hat zugleich einen weitreichenden Individualisierungsprozeß bewirkt. Der christliche Glaube hat diese Entwicklung durchaus gefördert und zu einer Modernisierung der gesellschaftlichen Institutionen beigetragen.

Zu ihren Folgen gehört freilich auch, daß diese Institutionen heute an Evidenz verlieren. Viele Menschen trauen Politik, Wirtschaft und Verbänden nicht mehr zu, daß mit ihrer Hilfe das Leben zu bewältigen ist. Ihren Ansprüchen und Versprechungen begegnen sie mit Institutionsverdrossenheit und wachsendem Mißtrauen. Die Folgen hat auch die Kirche zu tragen, die selber Institution und Teil der Gesellschaft ist. Auch deswegen kann sie sich nicht mehr auf eine fraglose Akzeptanz in der Gesellschaft verlassen. Die Kirche muß sich vielmehr darauf einstellen, neu um Vertrauen zu werben, indem sie nicht in Konkurrenz zu anderen Institutionen diese zu überbieten versucht, sondern sich auf ihre eigenen Wurzeln verläßt.

1.2.2. Natürlich gibt es auch unter den Menschen in Ostdeutschland Wertvorstellungen, Suche nach Sinnstiftung, religiöse Bedürfnisse, Sehnsucht nach einem gelingenden Leben. Was die Kirche zu vermitteln hat, ist in Restbeständen durchaus noch im Bewußtsein verankert, aber sie selber kommt dabei kaum noch in den Blick. Sie ist als Institution weithin nicht mehr gefragt. Ihre Botschaft wird bestenfalls als freibleibendes Angebot gesehen. Sie muß konkurrieren mit der Vielfalt von Offerten zur Lebensgestaltung, die nach Belieben gewählt und gewechselt werden können. Wo wie in Ostdeutschland gesellschaftlicher Pluralismus eine noch ungewohnte Erfahrung ist, wirkt die Fülle der Alternativen ebenso befreiend wie verwirrend und desorientierend.

Dennoch kommt die Kirche an dem Invidualisierungsprozeß innerhalb der pluriformen Gesellschaft nicht vorbei. Mit dem Verlust an Leistungskraft und Integrationsvermögen der gesellschaftlichen Institutionen verlagern sich die Erwartungen häufig auf die Religiosität. Für ihre Bedürfnisse nach Sinnorientierung möchten die Einzelnen jedoch selbstbestimmt und eigenverantwortlich zwischen der Vielfalt der Angebote wählen. Sie können das nicht nur, sie wollen das zumindest auch, selbst wenn ihnen die mit diesem Prozeß einhergehenden Gefährdungen durch Manipulation, Mißbrauch und Überforderung bewußt sind. Christlicher Glaube hat dadurch seine Monopolstellung verloren. Er muß sich auf dem Markt der Sinnstifter als ein Angebot neben anderen behaupten. Kirche kommt dadurch in den Ruf, selber eine Vermarktungsagentur für religiöse Dienstleistungen zu sein. Doch sie kann zugleich zur Kultivierung des Religiösen beitragen, indem sie seine Gefährdungen durch Fundamentalismus, Selbstbezogenheit und Ekstase, durch Weltflucht, Intoleranz und Inhumanität bewußt macht.

1.2.3. Neben Entfremdung und Enttäuschung gibt es auch in Ostdeutschland gleichbleibende, wenn nicht gesteigerte Erwartungen an die Kirche, daß sie ihre Rolle für die Wertorientierung in der Gesellschaft unverändert und eher noch entschlossener als bisher wahrnimmt. Diese Hoffnung stützt sich häufig auf das anerkannte soziale Engagement wie auf das relativ hohe Ansehen der Kirche in der Zeit der politischen Wende. Auch heute wird erwartet, daß die Kirche Mund der Stummen und Stimme der Schwachen in der Gesellschaft ist. Das Vertrauen, das in diesen Erwartungen zum Ausdruck kommt, ist ein hohes Gut, das nicht verspielt werden darf. Mitunter wird damit jedoch ein Forderungskatalog verbunden, der sich an dem gesellschaftlichen Leistungsvermögen der Kirche in der alten Bundesrepublik orientiert. Das kann zu Überforderungen von Gemeinden, Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen führen.

Auf diese unterschiedlichen, mitunter auch gegenläufigen Tendenzen wird die Kirche sich einstellen müssen. Doch Veränderungen sind nicht nur Bedrohung, sie sind auch Chance. Sie können zum Anlaß werden, neu nach Sinn, Identität und Rückbindung eines persönlich verantworteten Glaubens zu fragen. Sie können den Wunsch wecken, in Gemeinschaft mit anderen diesen Glauben in einer Kirche zu leben, die zur Erneuerung fähig ist, die auch die ambivalenten Erfahrungen der Ostdeutschen aufzunehmen vermag und ihre verschütteten religiösen Bedürfnisse beheimaten kann.

1.3. Folgen der Sparzwänge

1.3.1. Für die Kirche in der DDR waren die überkommenen Strukturen eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß sie trotz fortschreitender Minorisierung vor Ort nahezu flächendeckend präsent sein und mit ihrem Kommunikationssystem im Rahmen ihrer Möglichkeiten wirksam handeln konnte. Diese Strukturen dürfen nicht leichtfertig aufgegeben werden. Zugleich aber müssen sie an die heutigen, vielfach veränderten Gegebenheiten angepaßt werden.

Der gegenwärtige Handlungsdruck wird weitgehend durch finanzielle Zwänge bestimmt. Die Krisensymptome sind schon älter; doch sie sind nicht genügend beachtet worden. Weder theologische Debatten noch die Bemühungen um Strukturveränderungen haben zu wirksamen Ergebnissen geführt. Jetzt nötigt die zunehmend schwierigere Finanzlage zu kurzfristigen Entscheidungen über einschneidende Maßnahmen. Diese erfordern der Sache nach einen langfristig angelegten Prozeß, nicht nur, weil sie außerordentlich folgenreich sind, sondern auch, weil Verhaltensweisen und Einstellungen berührt sind. Vor allem setzen sie eigentlich eine Verständigung über Perspektiven und Prioritäten künftiger Arbeit voraus. Diese Verständigung wird jedoch erst in Ansätzen gesucht. Die Dimension dieser Aufgabe ist bisher nur unzureichend erkannt worden.

1.3.2. Mitgliederverlust und zurückgehende Einnahmen erzwingen in großem Umfang Einsparungen, Stellenabbau und Gehaltskürzungen. Diese haben längst ein Ausmaß erreicht, wo von der oft beschworenen "Verschlankung" der kirchlichen Strukturen keine Rede mehr sein kann, sondern wo tiefgehende Einschnitte in die kirchliche Arbeit selber erfolgt sind. Ganze Aufgabenbereiche werden ausgedünnt oder völlig aufgegeben. Infolge der Sparzwänge entstehen Gemeindebereiche, die in ihrer Größe und in der Zahl hauptamtlicher Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen nicht nach den Aufgaben, sondern nach den aufzubringenden Gehaltskosten bemessen werden. Vor allem in den strukturschwachen ländlichen Gebieten kommt es zu Größenordnungen, die die Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Gemeindegliedern und Mitarbeitern erheblich einschränken.

Eine umfassende kirchliche "Grundversorgung" ist im herkömmlichen Sinn in vielen Regionen heute kaum noch abzusichern. Bei Vakanzen oder Erkrankungen von Mitarbeitern entstehen zusätzliche Probleme. Eine ungünstige Alterspyramide wird die Situation in den nächsten Jahren noch verschärfen. Mit der Befürchtung vor einem weiteren Rückgang der Quantität an Mitarbeitern verbindet sich die Sorge um den Verlust an Qualität ihrer Arbeit.

1.3.3. Umso stärker richten sich die Erwartungen auf die ehrenamtliche Mitarbeit engagierter Gemeindeglieder. Mehr denn je geht es nicht ohne sie. Damit wächst aber auch die Gefahr, sie zu vereinnahmen. In Arbeit und Beruf wird von den Menschen heute ein großes Maß an Mobilität und Flexibilität erwartet. Dies steht in erheblicher Spannung zu der auf Dauer und Kontinuität angelegten Arbeit in der Kirche an festgelegten Orten und zu bestimmten Zeiten. Diese Spannung ist schwer aufzulösen. Sie enthält Interessenkonflikte, die gesehen und ausgehalten werden müssen, wenn ehrenamtliche Arbeit nicht nur unverzichtbar, sondern auch zumutbar bleiben soll.

Es gibt also Gründe genug, um angesichts der veränderten Situation neue Leitlinien zu entwickeln, die die Rahmenbedingungen künftiger kirchlicher Arbeit beschreiben.

Nächstes Kapitel