„Wir können immer nur einen Zipfel der Wahrheit greifen“

Interview mit Investigativjournalist Hans Leyendecker

Hans Leyendecker ist einer der profiliertesten Investigativjournalisten Deutschlands. Er deckte zahlreiche Skandale in Politik und Wirtschaft auf, darunter die Flick-Affäre 1982, die CDU-Spendenaffäre 1999, und den Korruptionsskandal bei Siemens 2006. Auch war Leyendecker maßgeblich an der Veröffentlichung der sogenannten Panama Papers beteiligt, die globale Steuerhinterziehung in ungekanntem Aufmaß aufdeckte. Seit über 20 Jahren schreibt Leyendecker für die Süddeutsche Zeitung. Dabei setzt er sich immer wieder mit Fragen der journalistischen Ethik auseinander und gibt Impulse für das professionelle Selbstverständnis von Journalisten. Im Gespräch berichtet Hans Leyendecker von seiner Berufung Journalist zu sein, von den Schwierigkeiten und Chancen des Journalismus im postfaktischen Zeitalter – und seiner neuen Aufgabe als Präsident des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentages 2019 in Dortmund.

Hans Leyendecker
Hans Leyendecker ist Präsident des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags in Dortmund. (Archivbild)

Herr Leyendecker, was bedeutet es für Sie, Journalist zu sein?

Hans Leyendecker: Journalismus ist zunächst ein Beruf wie jeder andere. Als Alt-68er bin ich allerdings in einer Zeit sozialisiert worden, in der die Diskussion über die Geschehnisse im Dritten Reich gerade anlief. Das war für mich der wichtigste Beweggrund, Journalist zu werden. Ein weiteres Motiv war, was wir gemeinhin unter Aufklärung verstehen: der Wunsch, die Dinge klar, hell, verständlich zu machen. Und damit verbunden die Fragen: Wer ist schwach? Wer ist stumm? Was meint Gerechtigkeit? Das war meine Motivation als junger Mensch und ist es bis heute. In Bezug auf gemeinwohlschädliches Verhalten ist dieser Wunsch, Licht ins Dunkel zu bringen, über die Jahre sogar stärker geworden.

Ist der Journalismus von heute vergleichbar mit Ihren ersten Berufsjahren oder hat sich das journalistische Arbeiten stark verändert?

Leyendecker: Früher war Berichterstattung viel ideologischer aufgeladen und politischen Lagern zuzuordnen. Das hat sich geändert. Und es wird heute viel mehr kooperiert. Mehrere Zeitungen, verschiedene Redaktionen tun sich zusammen und arbeiten gemeinsam an einer Geschichte, oft auch über Grenzen und Kontinente hinweg. Waffenhandel, Steuerbetrug, Massenüberwachung – das sind Skandale im globalen Maßstab. Die Täter agieren weltweit, die Opfer leben in den unterschiedlichsten Ländern. Ohne journalistisches Teamwork lassen sich solche großen Geschichten nicht erzählen.

Der Journalismus stöhnt und jammert zwar, doch es gab meines Erachtens keine Zeit, in der so produktiv zusammengearbeitet wurde und so viele gute Journalisten unterwegs waren. Die jungen Kolleginnen und Kollegen sind viel besser, als wir es zu meiner Generation gewesen sind. Sie haben im Ausland gelebt, sprechen mitunter vier, fünf Sprachen und besitzen eine entsprechend internationale Perspektive. Gleichzeitig ist der Druck auch größer geworden, vor allem der ökonomische Druck...

Dem Journalismus geht also nicht nur gut?

Leyendecker: Nein, absolut nicht! Es gibt unzählige Journalistinnen und Journalisten, die schlichtweg keine Möglichkeit haben, an dem zu arbeiten, was sie eigentlich machen möchten. Gerade in den Regional- und Lokalredaktionen wird brutal eingespart und das angestellte Personal entlassen. Dennoch möchte ich keine einseitig negative Bilanz ziehen, da ich eine große Gleichzeitigkeit feststelle: Journalismus war noch nie so schlecht – und er war noch nie so gut wie heute.

Im Fernsehen beobachten wir einen enorm verrohten Journalismus; gleichzeitig gibt es so viele gute Beiträge wie nie zuvor. Die Zeitungen recherchieren weniger und gleichzeitig mehr als früher. Während normale Zeitungen meist keine Möglichkeiten mehr zu gründlichen Nachforschungen haben, gibt es wiederum Fälle wie die Panama Papers, bei denen Journalisten mehr als ein Jahr lang nur an dieser einen Geschichte arbeiteten. Nicht nur die Ansprüche der Leserschaft sind gestiegen, sondern auch der eigene Anspruch der Kolleginnen und Kollegen an das, was sie herausfinden wollen.

Wie beginnt eigentlich eine Investigativrecherche? Spüren Sie die Themen auf oder finden die Themen zu Ihnen?

Leyendecker: Das ist ganz unterschiedlich, doch der erste Hinweis kommt meist von Informanten. Anschließend spreche ich Menschen an, die mit der Thematik bestens vertraut sind und überzeuge sie, mir Informationen oder Beweismaterial zu geben. Und da beginnt die Recherche. Am Anfang einer Recherche weiß ich nie, was letztlich herauskommt. Immer versuche ich, Schritt für Schritt herauszufinden, was vor sich gegangen ist – und schreibe die Geschichte entlang dieser Suche. Da gibt es aber unterschiedliche Methoden. Was jedoch wohl für alle investigativen Journalisten gilt: In dieser Profession kommt nur zurecht, wer draußen in der Welt unterwegs ist. Es braucht gute Kontakte, offene Ohren und viele Menschen, die Dir helfen.

Die Währung eines Journalisten ist also das Vertrauen, das er geschenkt bekommt?

Leyendecker: Ja, und damit muss enorm sorgsam umgegangen werden. Das Schlimmste, was Journalisten passieren kann, ist die Aufdeckung ihrer Quellen. Der Umgang mit denen, die sich uns anvertrauen, ist essentiell – auch wenn Informanten uns mitunter reinlegen. Das bedeutet aber nicht, dass der Informant ein Schurke ist, sondern, dass ich mich habe reinlegen lassen – und ihn dennoch schütze. Aus Prinzip! Entsprechend kritisch schaue ich auf alle staatlichen Versuche der Datensammlung – insbesondere, wenn sie journalistisches Arbeiten betreffen könnten.

Wie bewerten Sie die aktuellen Entwicklungen für den Journalismus in anderen Ländern?

Leyendecker: Schauen wir uns in unserer Nachbarschaft um: In Polen sind die jüngsten Verschärfungen der nationalkonservativen Regierung für Journalisten verheerend; in Ungarn ist die Pressefreiheit seit Jahren durch neue Gesetze, Aufkäufe und andere staatliche Maßnahmen in Gefahr. Und wie im Zeitraffer entwickelt sich die Türkei zur Diktatur. Das ist unerträglich zu sehen, auch wenn es um die Pressefreiheit weltweit noch nie besonders gut bestellt war. Sogar in Amerika steigt in den letzten Monaten der Druck auf die Medien.

Und es ist hoffentlich nicht nur mein Optimismus, wenn ich zugleich bemerke, dass – gerade dort, in Amerika – das Interesse an Hintergrundberichten und Aufklärung wächst. Die Notwendigkeit unabhängiger, guter Berichterstattung wird momentan vielen Amerikanern deutlich. Und die US-Zeitungen kommen kaum hinterher, neue Leute einzustellen – zum Beispiel um eine ordentliche Trump-Berichterstattung zu gewährleisten. Dabei spielt die größere Öffentlichkeit, die durch das Internet entstanden ist, durchaus eine Rolle. Früher konnte man mit Glück einmal die Woche die Sonntagsausgabe der New York Times lesen. Dank des Internet können wir sie heute täglich lesen, beim Frühstück, noch vor den Menschen in New York!

Wenn der Zugang zu Informationen und Nachrichten so einfach geworden ist: Wie erklären Sie dann die Anziehung des „Postfaktischen“? Das Phänomen, dass viele Menschen keiner Tatsache oder Zeitung mehr Glauben schenken.

Leyendecker: Wenn wir uns damit beschäftigen, was wahr und richtig ist, bin ich der Meinung, dass wir immer nur einen Zipfel der Wahrheit greifen können. Auch bei den großen Affären, an denen ich gearbeitet habe, glaubte ich keine Sekunde, dass es uns jemals gelungen ist, wirklich alle Abläufe und Zusammenhänge zu erfassen. Das aktuelle Misstrauen gegenüber den Medien erklärt sich zum einen aus der oberflächlichen Boshaftigkeit von Leuten, die uns pauschal als Lügenpresse beschimpfen.

Zum anderen liegt es auch daran, dass wir nicht anständig mit unseren Fehlern umgehen: Anstatt einzugestehen, wenn wir etwas falsch gemacht haben, versuchen wir allzu häufig, Fehler zu vernebeln. Ich denke an die Berichterstattung zur Affäre um Christian Wulff Ende 2011 und zum Germanwings-Absturz 2015. Beide Male stellte sich schließlich heraus, dass fast kein Satz gestimmt hat, der dazu geschrieben worden war. Mangelnde Fehlerkultur ist für den Journalismus ein echtes Problem. Ich wünschte mir mehr Zurückhaltung und ein ergebnisoffeneres Arbeiten – es könnte so gewesen sein, es könnte auch anders gewesen. Das ist jedoch klar zu unterscheiden von denjenigen Menschen und Medien, die sich ihre Wahrheit selbst zusammenzimmern. Gerade im Internet gibt es nicht wenige solcher vermeintlichen Nachrichtenportale, die mit ihren Verschwörungstheorien andere Verrückte bestätigen.

Mit welchem Journalismus lassen sich diese Menschen erreichen, die Verschwörungstheorien anhängen?

Leyendecker: Man kann immer genauer erklären, wie und warum man zu einem Ergebnis gekommen ist. Allerdings gibt es Leute, die an solchen Erklärungen nicht interessiert sind, sondern an ihrer Wahrheit festhalten. Und davon gibt es eine ganze Menge. Wenn sich so jemand entschieden hat, nur noch die eigene Wahrheit für die richtige zu halten – dann ist nichts mehr zu machen. Wenn Menschen sich nicht für Diskussionen öffnen wollen, lassen sich keine Diskussionen mehr führen.Solche Menschen wollen morgens die Zeitung aufschlagen und nur ihre Meinung bestätigt sehen. Aber genau das ist verheerend.

Sehen Sie es denn als Teil der Arbeit von Journalistinnen und Journalisten, Debatten mit der Leserschaft zu führen?

Leyendecker: Unbedingt. Ich verbringe einen Teil meines Tages damit, Zuschriften zu beantworten. Denn man verliert Menschen durch nichts so sehr, als wenn man jemandem, der sich an Dich wendet, keine Antwort gibt. Natürlich sind immer auch Absender dabei, die nicht mehr erreicht werden können. Aber die, die man noch erreichen kann, um die muss man werben. Niemand darf verloren gehen – und das ist für mich als Journalist nicht nur eine ökonomische Frage.

Sie haben sich nicht nur theoretisch mit der Frage auseinandergesetzt, was guter Journalismus ist, sondern zum Beispiel selbst kritisch eigene Fehler eingestanden. Hat diese Haltung etwas mit Ihrem Glauben zu tun?

Leyendecker: Meine Arbeit hat sicherlich mit dem zu tun, was ich glaube, was ich hoffe, was ich liebe. Gewissermaßen war das bei Martin Luther ähnlich: Als größter Publizist seiner Zeit hat er das, woran er geglaubt hat, durch gedrucktes Wort in die Welt getragen. Ich denke, dass Glaube dabei hilft, kritisch auf sich selbst zu sehen. Und gleichzeitig immer neu die Zusicherung gibt, dass man gehalten wird. Darin ist Glaube wie ein Geländer, damit man nicht alle Fehler macht, die man machen könnte. Und man macht natürlich trotzdem noch viele Fehler. Im Journalismus verachte ich zutiefst das, was ich „Jägermentalität“ nenne: Menschen medial zur Strecke zu bringen, sie zu erledigen und sich über sie zu erheben. Es gibt leider ein Publikum für solche Berichte und es gibt Kolleginnen und Kollegen, die so arbeiten. Als Christenmensch kann ich das nicht.

Vom 19. bis 23. Juni 2019 wird der 37. Deutsche Evangelische Kirchentag in Dortmund stattfinden. Was wünschen Sie sich als neuer Präsident für den kommenden Kirchentag?

Leyendecker: Zum einen wünsche ich mir, dass der Charakter der Laienbewegung wieder deutlicher wird. Außerdem, dass wir uns direkter mit den gesellschaftlich drängenden, auch wirklich schwierigen Themen auseinandersetzen. Dafür ist Dortmund ein idealer Ort. Denn sowohl die Region, wie auch die Stadt, haben in der Vergangenheit viel durchgemacht und sind mit vielen Problemen auch fertiggeworden. Der Kirchentag bietet die Chance, hinzuhören und gemeinsam darüber zu sprechen. Kurz: Alles, was gesellschaftlich relevant ist, möchte ich in großer Schärfe und mit einem aktuellen Blick anbieten. Der Kirchentag ist unglaublich gut und professionell, doch gerade darin kann auch ein gewisses Risiko liegen. Man bleibt leicht in den eingespielten Abläufen und entwickelt Routinen. Auch wenn das Kirchentagspublikum natürlich Vertrautheit und das Gemeinschaftserlebnis haben will: Der Kirchentag muss also ein Stück erwartbar sein und dennoch Neues bringen. Kirchentag muss politisch sein.

Braucht es gegen die Erwartbarkeit auch mehr Kontroverse, beispielsweise wenn es um das Gespräch mit der AfD geht?

Leyendecker: In Bezug auf die AfD habe ich eine klare Meinung: Mit Rassisten rede ich persönlich nicht. Ich diskutiere nicht mit Politikern, die fordern, dass Menschen entsorgt gehören oder an Grenzen erschossen werden müssen. Andere mögen diesbezüglich eine höhere Toleranzgrenze haben. Und Dialogfähigkeit ist ein großer Wert. Aber eben nicht Dialog mit jedem. Es ergibt keinen Sinn, denjenigen ein Forum zu geben, die eine menschenverachtende Politik vertreten und die Not der Schwachen nicht sehen wollen. Ich habe da keine Gesprächsbereitschaft – auch nicht beim Kirchentag. Christen müssen die schreiende Ungerechtigkeit in der Welt anprangern. Aus Empörung kann dann Ermutigung wachsen.

Wir danken Ihnen für die Bereitschaft zum Gespräch mit uns!

Das Gespräch führten Ansgar Gilster und Maxie Syren


Das Interview stammt aus der EKD-Publikation „Tu Deinen Mund auf“: Das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit, die 2017 erschienen ist.