Aufbruch, Ferne, Abenteuer und Freiheit
Von der Magie des Reisens und der „Verkündigung in der Freizeitwelt“ als Aufgabe der Kirche

Weil man sich aufmachen müsse, um Magie in bestimmten Augenblicken oder bestimmten Plätzen zu erleben, sei Reisen immer auch eine spirituelle Angelegenheit, meint Pfarrer Dr. Kay-Ulrich Bronk. (Symbolbild)
Patricia Schultz formuliert in ihrem bekannten Buch 1000 Orte, die du sehen musst, bevor du stirbst die These: „Das Leben wird nicht gemessen an der Zahl unserer Atemzüge, sondern an den Orten und Momenten, die uns den Atem rauben“ (1000 Places To See Before You Die, 2006, iii). Dieser Satz birgt zwei Bekenntnisse: 1. Es gibt eine Magie, die sich an bestimmten Plätzen und in bestimmten Augenblicken ereignet. 2. Ich muss mich aufmachen, um diese Magie zu erleben. Hier kann man ahnen, inwiefern das Reisen eine spirituelle Angelegenheit ist.
Bahnhöfe und Flugplätze sind mythische Orte. Sie erzählen von Aufbruch, Ferne, Abenteuer und Freiheit. Sie inszenieren unsere Sehnsucht nach dem ganz anderen Leben. Der Aufbruch ist einer der schönsten Momente der Reise: Erfüllung und Erwartung fallen ineinander. Endlich geht es los, weg vom Alltag (Erfüllung) – aber das Meiste, das vermeintlich Schönste, steht noch aus (Erwartung). Reisen ist eine Lebensäußerung des Menschlichen. Ich glaube, dass wir im Grunde genommen Nomaden sind. „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will [...] und ich will dich segnen“ (1. Mose 12,1-2). Abraham, gesegnet als einer, der alles Vertraute und Gewohnte hinter sich lässt. Obwohl, er hatte einen Vorgänger, den Brudermörder Kain, dessen Wanderung ein tragisches Schicksal ist: „Unstet und flüchtig sollt du sein auf Erden [...] So ging Kain hinweg von dem Angesicht des Herrn [...]“ (1. Mose 4,12 und 16). Die Reise des Kain ist eine Flucht. Ich glaube, dass unsere Reisen in ihrem tiefsten Grunde etwas von beidem haben: von Kains Flucht und Abrahams Aufbruch. Wir versuchen, flüchtig von etwas loszukommen, das irgendwie auf uns lastet, und wir hoffen gleichzeitig, dort anzukommen, wo wir im Eigentlichen landen – bei uns selbst und bei dem, der uns freimacht, von Zwängen, von Ängsten und manchmal auch von Schuld.
Magische Momente erzählen etwas über uns selbst
Nach Aufbruch und Trennung vom Alltag sind wir irgendwann am Ziel. Was sind das nun aber für magische Momente, die wir uns dort wünschen? Ich möchte von einem magischen Moment erzählen, den ich selbst erlebt habe: Die Sonne schob sich gerade über den Horizont. Ich nahm meine kleine abgegriffene Bibel, packte die Badehose ein und fuhr mit dem Fahrrad an den Strand. Kein Mensch da. Kühle Frische und glitzerndes Morgenlicht über glasklarem Wasser. Nach einigen Momenten der Ruhe las ich einen Psalm. Meer, Himmel und Sonne waren ein Echo auf den Psalm. Mehr noch: Der Psalm brachte etwas über die Schönheit des Moments zum Ausdruck, was ich ohne den Psalm gar nicht wahrgenommen hätte. Nach dem Amen ein Bad im Wasser. Kalt und belebend. Tauchen, auftauchen und ein lautes Danke Richtung Himmel gerufen.
Was gab diesem Moment seine Magie? Es war nicht allein die Natur, sondern es war die Verbindung von Natur und deutendem Wort aus dem Psalter und die Bereitschaft, beide zu verbinden. Wir brauchen Vorbilder, Deuteworte, die einen Ort oder einen Moment zum magischen Erlebnis machen. Die Worte müssen nicht immer gesprochen werden, sie müssen nicht einmal bewusst sein, aber wir müssen ein inneres Organ ausgebildet haben, mit dem ein Sinneseindruck aufgenommen und mit einer Bedeutung versehen werden kann. Magische Momente, die uns für die Gnaden und die Schönheiten des Lebens öffnen, erzählen immer etwas über uns selbst. Und es muss nicht immer eine Reise in die Ferne sein. Entscheidend ist das Woanderssein. Fern des Alltags brechen die Fragen nach sich selbst auf und die Chance einer tieferen Selbsterkenntnis steht im Raum.
Nun gibt es allerdings kaum ein anderes Vorhaben über das Jahr, das so enttäuschen kann, wie der Urlaub. Der Traum vom ganz anderen Leben entpuppt sich bisweilen als Illusion. Das kann ganz banale Gründe haben: schlechtes Wetter, schlechtes Hotel, schlecht gelaunte Kinder – und so weiter. Aber manchmal geht die Enttäuschung tiefer. Manchmal tritt ein verletzter, das Leben verfehlender oder sogar schuldbeladener Kain ans Tageslicht. Manchmal zeigt sich gerade in der idealen Ruhe des Urlaubs die Flüchtigkeit, die innere Unruhe einer unsteten Seele, die ihre Mitte verloren hat. Was im Alltag untergeht, kommt im Urlaub ans Tageslicht. Aber wo soll man hin mit dem Kummer, wenn man mit sich und einer hoffentlich gut gelaunten Familie unterwegs ist, wenn einem abends am Strand ganz unvermittelt die Tränen kommen?
Den sicheren Hafen verlassen
Es gibt kaum einen Wirtschaftszweig, der so kontinuierlich wächst wie die Tourismusbranche. Und in den deutschen Urlaubsgebieten nehmen Menschen die kirchlichen Angebote am Ort des Urlaubs – und oft nur noch hier – sehr rege wahr. Aufgrund dieser Dynamik verdoppelt sich die Gemeindegliederzahl in den betreffenden Gemeinden – nicht nominell, aber faktisch. Diese Entwicklung darf man nicht beklagen. Im Gegenteil. Die besondere Chance „Verkündigung in der Freizeitwelt“ gilt es zu nutzen. Es wäre ein kirchliches Armutszeugnis, wenn Kirche sich da, wo sie gefragt, gewollt und geschätzt wird, zurückzieht.
Reisen ist Magie. Urbewegung des Menschlichen. Patricia Schultz schließt ihre Einleitung zu den magischen 1000 Orten mit einer Aufforderung Mark Twains: „Lichten Sie also den Anker und verlassen Sie den sicheren Hafen. Lassen Sie den Passatwind in die Segel schießen. Erkunden Sie. Träumen Sie. Entdecken Sie“ (a. a. O., xiv). Kirche sollte dabei helfen.
Kay-Ulrich Bronk (Direktor des Prediger- und Studienseminars der Nordkirche)
Der Text stammt aus dem Magazin „Grüße aus dem Kirchenjahr. Kirchliche Feiertage als kultureller Reichtum“ der EKD.