Predigt zum Neujahrstag 2002 im Dom zu Berlin (Philipper 4, 10-19)

01. Januar 2002

Liebe Gemeinde!
Der Friede Jesu Christi sei mit Ihnen allen – heute – und im Neuen Jahr!

„Wird’s besser? Wird’s schlimmer?“,
fragt man alljährlich.
Seien wir ehrlich:
„Leben ist immer
lebensgefährlich.“

So Erich Kästner; sympathisch, realistisch, mit Augenzwinkern zerbläst er alle Sorge vor den Höhen und Tiefen des kommenden Jahres: „Es ist, wie es ist; es kommt, wie es kommt.“ Lebensgefährlich, auch wenn’s nicht schlimm wird; lebensgefährlich auch wenn‘s nicht gut wird; auf alle Fälle lebensgefährlich.
Weil unser Leben endlich und begrenzt ist.
Der Jahreswechsel ist die Zeit für Bilanzen und Vorsätze, für Hoffnung und Sorgen, für Ahnungen und Zuversicht.
Viele blicken an diesem ersten Januar dankbar zurück auf ihr persönliches Leben und hoffen, dass auch das Neue Jahr ein gutes wird. Anderen hat das vergangene Jahr sehr viel abgefordert, und sie hoffen, das kommende möge besser werden.

Allen ist das Jahr 2001 mit einer gewaltigen Erschütterung begegnet. Die meisten Menschen nennen den 11. September, den Tag mit den Terroranschlägen in New York und Washington, den Gipfel des Schreckens. Als Reaktion auf den Terror hat ein Krieg begonnen. Deutsche sind daran beteiligt. Unbekannt die Zahl der Opfer; unklar der Verbleib der Gesuchten. Die Macht der Taliban ist gebrochen, der Terrorismus bleibt weiterhin eine reale Gefahr. Viele hat die Furcht ergriffen, der 11. September könnte der Beginn des Kampfes der Kulturen sein. Nichts scheint mehr sicher, weder der Flugverkehr noch die wirtschaftliche Zukunft.

Voller Sorge betrachten viele das Zusammenleben mit Muslimen in unserem Land.
Wird es gelingen, die Fanatiker von den vielen Friedlichen zu unterscheiden? Wird man die Gefahr der Rechtsradikalen zurückdrängen können?
Ein ganzes Gewirr von Sorgen hat sich über das Land gebreitet.
Aus welcher Kraft werden wir im kommenden Jahr leben?

Den Weg zur Antwort soll uns heute ein Briefabschnitt weisen, den der Apostel Paulus an die Gemeinde zu Philippi geschrieben hat. Absendeort ist das Gefängnis. Paulus reagiert in dem Brief auf materielle Unterstützung, die die Gemeinde ihm ins Gefängnis gesandt hat.

Ich bin aber hoch erfreut in dem Herrn,
daß ihr wieder eifrig geworden seid, für
mich zu sorgen; ihr wart zwar immer
darauf bedacht, aber die Zeit hat’s nicht zugelassen.
Ich sage das nicht, weil ich Mangel
leide; denn ich habe gelernt, mir genügen
zu lassen, wie’s mir auch geht.
Ich kann niedrig sein und kann hoch
sein; mir ist alles und jedes vertraut:
beides, satt sein und hungern, beides,
Überfluß haben und Mangel leiden,
ich vermag alles durch den, der mich
mächtig macht.
Doch ihr habt wohl daran getan, daß ihr
euch meiner Bedrängnis angenommen
habt.
Denn ihr Philipper wißt, daß am Anfang
meiner Predigt des Evangeliums, als ich
auszog aus Mazedonien, keine Gemeinde
mit mir Gemeinschaft gehabt hat im
Geben und Nehmen als ihr allein.
Denn auch nach Thessalonich habt ihr
etwas gesandt für meinen Bedarf, einmal
und danach noch einmal.
Nicht, daß ich das Geschenk suche,
sondern ich suche die Frucht, damit sie
euch reichlich angerechnet wird.
Ich habe aber alles erhalten und habe
Überfluß. Ich habe in Fülle, nachdem ich
durch Epaphroditus empfangen habe,
was von euch gekommen ist: ein lieblicher
Geruch, ein angenehmes Opfer,
Gott  gefällig.
Mein Gott aber wird all eurem Mangel
abhelfen nach seinem Reichtum in Herr-
lichkeit in Christus Jesus.


1. Ein merkwürdiger Dank

Paulus freut sich „in dem Herrn“, wie er schreibt, über das Zeichen – und fügt hinzu, er habe es eigentlich nicht gebraucht. Obwohl es ihm schlecht geht, scheint er am Mangel nicht zu leiden. Ob er gut versorgt ist oder nicht, Paulus hat gelernt, davon unabhängig zu sein. Darum freut er sich zwar („in dem Herrn“), dass die Gemeinde ihn bedacht hat („wieder einmal“) – aber nötig wäre es gar nicht gewesen, dass sie ihm geholfen hat.
Denn, so schreibt er, er käme mit Mangel und mit Überfluß schon zurecht.

Es gibt tiefenpsychologische Analysen solcher Art der Dankesrituale:

  • „Ach, das wäre doch gar nicht nötig gewesen.“
  • „Ach, das war doch selbstverständlich.“
  • „Danke – oh, keine Ursache.“

Wir kennen solche Floskeln aus dem alltäglichen Umgang. Sie sind Ausdruck eines schwierigen Umgangs mit dem Dank. Sie zu analysieren, erklärt nicht, was Paulus meint. Und das würde uns auch keinen Hinweis auf die Bewältigung des kommenden Jahres bieten – es sei denn die banale Weisheit: „Lerne richtig zu danken und dir danken zu lassen.“
Hier im Paulusbrief geht es aber um die Quelle der Kraft, die hilft, mit dem Leben zurecht zu kommen, mit allen Höhen und den Tiefen.

„Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht“, – und viele altchristliche Handschriften fügen hinzu, wer der ist, der mächtig macht: „das ist Christus.“

Vom Bild des Christus wird auch im kommenden Jahr die Kraft ausgehen.

„Wo war Gott?“ fragten viele am 11. September. Die Menschen strömten in Scharen in die Kirchen. Hier suchten und erlebten sie die Kraft der bergenden Gemeinschaft. Hier fanden sie Worte, als sie sprachlos waren – Worte der Psalmen vor allem. Die spiegeln Jahrtausende alte Leiderfahrung und spenden Trost, auch heute noch:
 
„Der Herr ist mein Hirte – mir wird nichts mangeln.“ 

Paulus schreibt: „Mir ist alles vertraut, Überfluß und Mangel leiden.“ Mir wird nichts mangeln. – Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück. „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.“ – „Alles durch Ihn“, durch Jesus Christus.
Es gibt viele Worte der Heiligen Schrift, die ihren Trost entfalten, weil sie an die Quelle führen, die Kraft spendet, auch für 2002.
„Lass Dir nicht grauen, fürchte dich nicht.“ Gott wird die Welt zum Ziel bringen und die Tränen abwischen. Was immer an Leid und Elend auch noch bleibt.

Unser Land ist jahrhundertelang von christlicher Botschaft geprägt. Dennoch sind wir in der Versuchung, uns auf die Götter dieser Welt zu verlassen: Auf Geld und Prestige, auf Macht und Eitelkeit – vor allem auf uns selbst. Wir haben die medial gewaltige Inszenierung eines Countdown zur Einführung des Euro erlebt. – Als Symbol europäischer Zusammengehörigkeit ist der Euro eindringlich. Ob aber dieser gewaltige Versuch ihn „volksnah“ zu machen, nicht auch noch etwas anderes offenbart, nämlich worauf die Menschen ihre Hoffnung setzen sollen? Geld und alles, was dranhängt, können Ersatzgötter sein, die zur Anbetung locken mit Habgier und Egoismus, mit Kälte und Gleichgültigkeit. Sie spalten die Welt.

Es ist erstaunlich, wie in den letzten Monaten ein Fragen nach der Religion anhebt. Was ist, so fragt man, angesichts der mit den Terrorakten offenbar gewordenen Fundamentalkritik an westlichen Wertvorstellungen? Was ist der Grund dieser Werte? Was zeichnet sie aus als Grundlage der Freiheit und der Verantwortung füreinander? Gerade Menschen, die auf dem Weg der rationalen Aufklärung meinten, mit dem „Mythos“ der Glaubenstraditionen fertig zu sein, fragen neu nach der Begründung unserer Werte. Und sie fordern (wie Jürgen Habermas oder Michael Naumann zum Beispiel), die Bilder und Symbole der religiösen Tradition nicht ersatzlos zu streichen. Statt dessen sie zu transformieren, damit sie standhalten helfen, gegen das Nichts und gegen die Beliebigkeit, gegen die Jagd nach dem Geld, gegen den Fanatismus und die Unterdrückung.

Da ergeht ein fast beschwörender Appell an die Christenheit:

Traut eurer Botschaft und ihrer Herkunft wieder mehr zu! Lasst euch nicht anstecken von Depressionen, nur weil die Mitgliederzahlen abnehmen. Ihr habt die Sehnsucht vieler Menschen, denen der Euro und der Dollar nicht die letzte Hoffnung bedeuten. Ihr habt eine Botschaft, die eine großartige Kraft darstellt, diese Zeit zu bestehen und die Zukunft auszuhalten.

Christus, der den Apostel „mächtig macht“, der ihm Kraft gibt, Überfluss und Mangel zu bestehen – diesen Christus gilt es zu erkennen. Er hilft zur richtigen Selbsteinschätzung. So klärt sich, warum der Apostel einen so merkwürdigen Dank formuliert: er weist über die erfahrene Hilfe hinaus auf die Quelle seiner Kraft.


2. Eine Gelassenheit und die Freiheit


Warum kann Paulus so schreiben? Weil er, so sagt er, eine „autarke“ Person ist. Autark, das Wort kommt hier vor. Autarkie, Selbständigkeit, nicht abhängig von fremder Hilfe, eben frei. Innerlich unabhängig kann Paulus auch die äußeren Bedingungen bestehen – Gefängnis und Not wie auch Wohlstand und Behagen.

Solche Haltung ist leicht verwechselbar mit Lebenseinstellungen, wie sie zu Zeiten des Paulus die stoische Philosophie gelehrt hat. Anspruchslosigkeit, Gelassenheit, die durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist. Die Stoiker erzogen deshalb zur äußersten Selbstdisziplin und Bedürfnislosigkeit. Freilich, das wären Tugenden, die unserer Zeit wohl besser bekämen, als jene Tugenden der engen Verwandten der Stoiker: nämlich der Resignierten, denen alles egal geworden ist, oder der Wehleidigen, die sich gerne das Etikett christlicher Tugend umhängen. Mit solchen Haltungen wird das Neue Jahr ebenso wenig zu bestehen sein, wie mit oberflächlicher Wurschtigkeit.
Stoische Gelassenheit und Bedürfnislosigkeit wäre jedenfalls ein deutlicher, hilfreicher Widerstand gegen den Rausch und den Terror des Konsums.

Die Autarkie des Apostels, die innere Unabhängigkeit ist aber keine stoische Haltung; sie stellt nicht innere Gelassenheit gegen äußere Bedingungen; sie ist nicht das Ergebnis eigener Anstrengung und Disziplin. Die Haltung des Apostels ist eine Unabhängigkeit, die aus der Paradoxie des Kreuzes stammt. Gerade mit der Schwäche, mit dem Mangel, den Paulus leidet, erwächst Gottes Kraft. So ist sie ihm versprochen: „Laß dir an meiner Gnade genügen, meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Er macht die Erfahrung der Stärke, als Hilfe in der Not eintrifft, Zeichen der Kraft der Gemeinschaft.

 „Ich vermag alles, durch den, der mich mächtig macht – Christus.“
Das heißt: Kraft durchzuhalten und zu verändern – das ist das geschenkte Versprechen.

Zur Autarkie gehört die Öffnung zu den Anderen. Darum sollte zu unseren Vorsätzen für das neue Jahr gehören - wenigstens an den Stellen, wo wir es können -, den Kampf gegen das Elend aufzunehmen. Es darf nicht so bleiben, dass alle zwei Minuten ein Kind am Hunger oder seinen Folgen stirbt. Der Kampf ist schwer, allein sind wir zu schwach und werden schnell entmutigt. Zudem sind wir mit unserem Lebensstil in die Elendsstrukturen Leben auch schuldhaft verwickelt, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht.

Das Leben ist so anstrengend. Viele fühlen sich, als würden alle Kräfte des Körpers und der Seele ausgesaugt.

Von der Botschaft des Gekreuzigten, des Christus aber geht Entspannung aus. Paulus hat die Botschaft als Entlastung erlebt, als Befreiung in Bedrängnis. Wir werden das nicht mit einem Ruck übertragen können auf uns. Aber das ist das Versprechen: Die Wiederkehr zur Quelle der Botschaft, zu Wort und Sakrament verspricht Wachstum auf dem Weg zur Autarkie, zur Freiheit, wie sie der Apostel erlebt.


3. Eine überschwängliche Solidarität

Solche Autarkie bezieht uns nicht auf uns selbst, kapselt nicht ab. Die Kraft Christi, so sehr sie der Einzelne für sich erfährt, sie ist immer auf andere bezogen. Die Gemeinschaft mit der ihm verbundenen Gemeinde bezeichnet er mit einem geradezu übertriebenen Wort, so wie „weißer Schimmel“ : „Zusammenhaltegemeinschaft“.

Und aus der Geschichte der Christenheit wissen wir: Diese kleinen Gemeinden am Anfang waren nicht reich im materiellen Sinne. Ihr Reichtum war die Gemeinsamkeit. Die äußert sich z.B. darin, dass sie dem Paulus Hilfe zuteil werden lassen, obwohl sie selber nicht viel haben.

Gemeinschaft hat ihre Bewährung in leiblicher Hilfe und in innerer Verbundenheit, genau das, was Solidarität meint. Die Verlässlichkeit von Gottes Treue, die Stärke Christi wird konkret im Miteinander der Christinnen und Christen.

Von Martin Buber stammt der Satz:

„Beziehung ist Gegenseitigkeit.“
Angst und Ungerechtigkeit – auch das, was wir für das kommende Jahr fürchten, ist Ausdruck eines Glaubensmangels, nämlich Mangel des Glaubens an Gegenseitigkeit. Wir brauchen für unser Leben Geben und Nehmen. Das ist Gegenseitigkeit. Darum kann Paulus der Gemeinde zusprechen:

„Mein Gott aber wird all eurem Mangel
abhelfen nach seinem Reichtum
in Herrlichkeit in Christus Jesus.“
Wir werden im kommenden Jahr sicherlich nicht durch Beschwörung und durch laute Appelle die Gegenseitigkeit erzeugen oder verstärken.

Dazu bedarf es des Vorsatzes:
Aus der Freude der eigenen Erfahrung frei, autark zu sein, Zukunft auch anderen zu schenken. So verwandelt sich Schwachheit in Stärke. Das ist der wichtigste Vorsatz und Wunsch für 2002.

„Seien wir ehrlich: Leben ist immer lebensgefährlich.“

So hat Erich Kästner zum Neuen Jahr gedichtet - Paulus eröffnet den anderen Horizont:

„Ich vermag alles durch den,
der mich mächtig macht: Christus.“