Morgenandacht zur EKD-Synode in Bremen, 9. November 2021

Dr. Nicole Grochowina

Es gilt das gesprochene Wort

- unredigierte Fassung -
 

Wir feiern dieses Morgengebet im Namen Gottes, des Vaters, der uns so annimmt, wie wir sind, im Namen des Sohnes, der uns gezeigt hat, wie Liebe die Welt verwandelt, und im Namen des Heiligen Geistes, der uns bewegt, aufeinander zuzugehen. Amen.

9. November – ein Tag, an dem alles anders ist. 9. November heißt Pogromnacht und die Freiheit durch Gebete und Kerzen. 9. November heißt die ausgerufene Republik vor dem Abgrund und ein Neuanfang – gemeinsam in einem Land.

Manche Daten zeigen die ganze Ambivalenz, die einem im Leben zugemutet wird, die wir Menschen einander zumuten: Das Bösartige – und das sieht man am 9. November – teilt sich einen Atemzug mit dem Wunder. Die menschliche Ungnade verbindet sich mit dem Traum von einem gemeinsamen Morgen. Das ist die Gleichzeitigkeit im Ungleichzeitigen, und genau das ist die Zumutung.

An diesem besonderen Morgen strecken wir uns aus nach Gott, dass er unser Leben umfasse, es heile und seine Berufung zur Hoffnung in uns erneuere, hier und heute. Im Wissen um seine Gegenwart singen wir – zumindest im Herzen oder laut gegen unseren Bildschirm – das Lied

„Gott des Himmels und der Erde“.

(Lied: „Gott des Himmels und der Erde“)

Wir beten nun mit Worten aus Psalm 8.

Gebet)

Der Psalm erzählt von der Größe Gottes. Und der Psalm erzählt davon, dass dieser große Gott sein Vertrauen verschenkt – und zwar an uns Menschen. Gerade an dem heutigen Tag mag man sich da fragen, wie er das nur tun konnte. Hat Gott nicht gewusst, wozu wir Menschen fähig sind? Hat er nicht damit gerechnet, dass wir diesem Vertrauen niemals entspre- chen können und auch niemals entsprechen werden?

Doch Gott hat nicht nur sein Vertrauen verschenkt, er hat uns auch als Einzelne und als Menschheit etwas anvertraut, nämlich nichts weniger als seine ganze Welt. Er hat uns zu Hirten gemacht – zu Hirten seiner Hände Werk. Die ganze Schöpfung ist uns nun anvertraut, alles Miteinander der Menschen, das Wohl und Wehe nicht nur einer Generation, sondern aller Zeiten. Er hat es uns anvertraut; so macht er es. Und wir sind die Hirten einer zerbrechlichen Welt, sind begierig zu schützen und zu bewahren – und sind doch so angefochten, wenn es darum geht, genau dafür über den eigenen Schatten zu springen, uns hintanzustellen und zu dienen, dem Werk Gottes zu dienen.

„Was, Gott, willst du eigentlich von uns?“, mag man da rufen. Was vertraust du uns das alles an, wenn du doch weißt, dass wir es doch nicht bewahren können? Ist das dein morbider Humor, oder was soll das? Hirte über Deiner Hände Werk. Wie geht denn das, bitte?

Szenenwechsel. Vom Psalm nach Neuseeland. Aber immer noch beim guten Hirten. Und im- mer noch bei uns. – Diese Kirche hier heißt „der gute Hirte“, und sie steht am Lake Tekapo, Südinsel Neuseelands. Wunderschön. Und dieser gute Hirte steht am Eingang zu einem heiligen Ort, zu einem heiligen Land. Denn dieser gute Hirte wacht am Fuß von Aoraki. Aoraki ist Mount Cook, der größte und der heilige Berg von Neuseeland; so sagen die Māori. Es ist der Orientierungspunkt für ihre Seelen auf dem Heimweg. Es ist der Ort, der daran erinnert, wie sehr Zeit und Ewigkeit miteinander verwoben sind; denn dieser Berg verbindet Erde und Horizont. Es ist ein Ort der Erhabenheit, und genau hier, an dessen Beginn, steht der gute Hirte.

Wer in dieser Kirche ist, schaut über das Kreuz hinaus auf das Heilige Land. Er schaut auf den Boden, den nicht viele betreten dürfen und auch nicht betreten werden. Er schaut auf den Boden, der zu hüten ist, weil sich genau hier das Leben selbst ausbuchstabiert.

Wer in dieser Kirche ist, schaut durch ihre Fenster, schaut fast schon durch die Augen des guten Hirten und sieht das Heilige Land und ahnt: Der gute Hirte gibt den Blick frei und verweist auf das Unverfügbare, auf das Heilige, auf Gott selbst. Genauer: Diese kleine Steinkirche beugt sich unter der Erhabenheit des Ortes und der Präsenz Gottes und wird gerade deshalb zum Fingerzeig auf den, dessen Hoheit im Himmel eingezeichnet ist und von dem Kinder und Säuglinge ganz genau wissen, dass nichts ohne ihn ist. Der gute Hirte verweist auf den, dessen Name in allen Landen herrlich ist. Der gute Hirte steht da und verweist auf den Ewigen. Das ist seine wichtigste Aufgabe. Nichts ist bedeutsamer.

Und wäre der gute Hirte nicht da, niemand würde über das Kreuz, durch das Fenster auf das Heilige Land schauen können. Niemand würde erahnen können, wie sehr die Schöpfung ein Abbild des liebenden Schöpfers ist, wie sehr dieser Ort von Ewigkeit durchflüstert ist. Wenn wir hier stehen und schauen, ahnen wir es aber. Wir ahnen es, weil der Hirte es zeigt: Da, schau in diese Richtung. Schau dahin. Schau und erlaube der Weite, dich zu verwandeln. Erlaube dem Ewigen, dich zu retten.

So wird deutlich: Die wichtigste Aufgabe des Hirten ist es, von sich selbst abzusehen und auf den zu verweisen, der das Werk seiner Hände in unsere Hände gelegt hat. Die wichtigste Aufgabe des Hirten ist es, den Blick durch das Fenster frei zu halten, damit alle sehend werden

– egal, was passiert. Das ist seine Aufgabe. Die kleine Kirche vor dem Heiligen Berg, sie hat hier ihren wichtigen und richtigen Ort, weil immer einer wachen und Ausschau halten muss, damit alle das Geheimnis des Lebens erahnen können. Es gibt keinen größeren Sinn im Leben.

Gott vertraut uns Menschen dieses Hirtenamt an. Die Bibel ist voll von Geschichten, die davon erzählen, wie Menschen mit diesem Amt gerungen und es ausgestaltet haben. Als Prototyp wird Mose benannt – Mose, der Hirte, der wirklich alles mit Gott ausdiskutieren wollte: seine Unfähigkeit, seinen Unwillen, sein Leiden am Gottesvolk, sein Erschrecken vor Gottes Zorn, seine Bitten und seine eigene Geschichte und Gegenwart, die von Narben, Neuanfängen und Sehnsucht durchsättigt war – alles, wirklich alles auf Gott hin.

Selbst mit dem letzten Atemzug verweist Mose noch auf Gott. Denn der letzte Dienst, den Mose Gott erweist, ist, sich vergessen zu lassen. Das heißt, als Mose stirbt, trauert das Volk 30 Tage lang, und doch gibt es kein Grab, keinen Ort des Gedenkens und der Nostalgie, um Mose zu feiern. Nein, Mose radiert sich selbst aus dem Gedächtnis aus, verlässt die Seinen, versammelt sich mit den Vätern, und kein Ort bleibt zurück. Mose tritt zurück, radiert sich aus, damit das Gedächtnis an Gott nicht getrübt wird, damit der Blick allein durchs Fenster ins Ewige geht. Damit erfüllt er den Urauftrag des Hirten.

Durch die Zeiten sind auch wir an unseren je eigenen Orten gerufen, den Blick über das Kreuz, durch das Fenster immer frei zu halten und auf den zu verweisen, der uns gerufen hat. Gott hat uns genau diesen Hirtendienst anvertraut; er gilt immer und überall. Der Hirte aus Stein in Neuseeland sowie der Hirte Mose, sie erzählen uns davon, welches Glück es ist, genau dies zu tun und mit dem ganzen Sein auf den zu verweisen, von dem die Himmel erzählen. Vergessen wir das nie, sondern leben wir es von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all unserer Kraft.

Amen.

 

(Lied: „Gott des Himmels und der Erde“, Strophe 6)

Wir beten gemeinsam:

Ewiger Gott, an diesem besonderen Tag, der uns unser Wollen und unser Unvermögen, unsere Fähigkeiten und unsere Abgründe vor Augen malt, genau an diesem Tag wenden wir uns an Dich und danken Dir. Wir danken Dir für Dein trotziges Ja der Liebe zu uns. Wir danken Dir für die Chance, neu zu beginnen, den Blick wieder frei zu bekommen, wieder aufzuschauen und wieder neu die Berufung zu ergreifen, die Du uns in die Hände gelegt hast. Es ist eine Berufung zur Hoffnung – zu einer Hoffnung, die Himmel und Erde verbindet.

Und so bitten wir Dich: Zeige uns auch weiterhin, wer wir sind. Lass uns wachsen im Leben aus Deiner Vergebung – in der Hoffnung auf Deine Liebe und im Glauben an Dein Erbarmen. So schauen wir über das Kreuz zum Fenster hinaus, erahnen Deine Heiligkeit und die Heiligkeit des Lebens. Diese wollen wir hüten – gerade so, wie Du es uns geboten hast. Schenke uns die Weisheit, die Kraft und die Demut, die es dazu braucht. Dazu erbitten wir Deinen Geist und Deinen Segen.

Mit allen, die Du vor uns gerufen hast, dieses Hirtenamt auszuüben und die Dich darüber geehrt und gelobt haben, mit allen, die es heute tun und mit allen, die es nach uns tun werden, beten wir mit den Worten Jesu.

(Vaterunser)

So segne und behüte uns an diesem besonderen Tag und alle Tage. Segne und behüte uns und alle Menschen, die zu uns gehören, alle, die wir im Herzen tragen, alle, für die wir Verantwortung haben. Sie und uns alle segne und behüte der allmächtige und barmherzige Gott, Vater, Sohn und Heilige Geist.

Amen.